Herausragendes Exemplar mit grauen Wangen

Reportage zum Thema Nonsens

von  unangepasste

Sie fügte sich so geschmeidig in die immer kleiner werdende Normalität, wie der Begriff von Experten definiert wurde, dass jeder Spaziergänger sie fast übersah. Doch da sie nichts hatte, woran man sich stoßen konnte, gab es auch keinen Zusammenprall.
Wenn sie über die Entwicklung nachdachte, die das Normale mit den Jahren durchlaufen hatte, war sie für einen kurzen Moment mit sich im Einklang. Man könnte fast meinen, sie freute sich, dass es stets strengeren Regeln unterlag und die Definition immer weiter nach oben korrigiert wurde. Neue Diagnosen wie disruptive Launenfehlregulationsstörung stellten in Frage, was sich bisher noch innerhalb des Rahmens befunden hatte. Dadurch konnte sie, im Alltag sonst unscheinbar, glänzen. Sie funktionierte. Sie war einwandfrei. Unerhörte Dinge wie Gefühle hatten in dieser Welt nichts verloren, waren jedenfalls nur zu bestimmten Anlässen zugelassen. Sie verstand es, das dünne Seil der Vorgaben um ihre Absichten zu wickeln, ja sogar damit zu tanzen.
Einmal im Leben war sie bereits mit dem Tod konfrontiert worden. Einen Augenblick hatte sie geweint – eben jene erwartete Regung. Anschließend war sie zum Alltag übergegangen. Was denn auch sonst? Mehr als zwei Tage Niedergeschlagenheit konnte sie sich nicht leisten. Das nannte man stark.
Doch eines Tages passierte etwas. Sie hatte geglaubt, auf alles vorbereitet zu sein. Die Erkenntnis aber, dass sie an dem kleinen Absatz nichts ändern konnte, der wieder einmal zum Regelwerk für alles nicht Normale hinzugekommen war, löste eine tiefgreifende Wandlung in ihr aus. Jedenfalls schien ihr das so. Als sie nämlich an jenem Morgen vor dem Spiegel stand und sich das Haar richtete – gescheitelt und streng, wie es sich gehörte – war die Haut ungewöhnlich fahl. Sie trug ein schwarz-weißes Kostüm, das gut zu dem Grau ihres Gesichtes passte. Warum waren ihre Wangen auf einmal so verfärbt?
Sie versuchte, auf die Augen zu achten. Sie wirkten unverändert, doch das Gesicht nahm knochigere Züge an und das Kinn ragte spitz nach vorne. Plötzlich teilten sich die Augen, und auf jeder Seite gingen zwei einzelne Paare ineinander über. Sie erschrak. Sie begann doch nicht etwa, zwei Personen zu werden? Vier Hände, doppelte Arbeitsgeschwindigkeit … Wäre das vielleicht sogar …? Rasch verwarf sie den Gedanken. Nach einigen Minuten verschwand der Effekt und die Augen rutschten zurück in ihre Ursprungsposition.
Sie rieb sich über das Gesicht, blickte noch einmal genauer in den Spiegel – alles schien wie gehabt – und zog sich Schuhe und Mantel an. Erst auf der Straße fühlte sie sich wieder sonderbar, glatt und kalt. Ihr Gewicht hatte schlagartig zugenommen, allerdings konnte sie sich immer noch mühelos bewegen, vielleicht sogar besser. Zwar machten ihre Knie von Zeit zu Zeit ein brummendes Geräusch, doch die Müdigkeit war verschwunden. Sie blieb einen Moment sehen und hob und senkte das Bein. Sie spürte gar nichts. Es fing an zu regnen, doch die Wassertropfen perlten von ihrer Haut ab, ohne dass Feuchtigkeit zurückblieb.
Hervorragend, dachte sie. Aber war das wirklich so vorgesehen? Glaubte sie dem neuen Krankheitssyndrom, das heute Morgen durch die Nachrichten flackerte, war ihr Glück dahin. Zuvor war ihr all das nie aufgefallen. Doch jetzt war ihr Körper präsent und ihr Denken hatte eine Richtung entdeckt, ausgelöst durch dieses neue Wort, eine Richtung, die sie noch nicht kannte. Sollte sie sich krankmelden? Nein, das war unmöglich. Sie öffnete die Tür zum Büro, ging an ihren Platz und fuhr den Computer hoch. Auch ihre Finger hatten sich verändert. Einen Hauch zu metallisch wirkten sie, und wenn sie an die Gelenke fasste, blieb ein öliger Schleim zurück. Sie hatte Angst, ihr Chef würde es entdecken. All die Dinge, die ihr sonst eine gewisse Befriedigung gaben – zum Beispiel, dass sie von allen Mitarbeitern am schnellsten tippen konnte – waren auf einmal zu einem Unsicherheitsfaktor geworden, zu einem großen Unbestimmten, das ihr vielleicht bald den Boden unter den Füßen rauben würde.
Mittags hielt sie es nicht mehr aus und verließ das Gebäude. Als der Chef sich bei ihr verabschiedete, nicht ohne einen besorgten Blick auf sie zu werfen, sagte er: „Du hast hervorragende Hände“. Hatte sie das? Natürlich. Jetzt wusste sie wieder, dass alles im Lot war. Sollten sie doch machen, was sie wollten, „Temporäre Maschinisierung“ war kein Syndrom. Im Gegenteil. Eine Stärke. Hatte der Chef das nicht mit seiner Bemerkung persönlich angedeutet? Bei dem Gedanken ging es ihr wieder besser.
Am nächsten Morgen, als sie mit einer monotonen Fingerbewegung den Wasserkocher betätigte, akzeptierte sie, was geschehen war. Sie wusste: Das alles war nicht weiter schlimm. Die graue Farbe, die metallische Glätte, sie konnte beides zu ihrem Vorteil einsetzen. Die anderen waren schwach wie ein Blatt Papier. Sie konnte darüber laufen; sie konnte es beschreiben oder mit schwarzen Tintenflecken bespritzen.
Sie dagegen war hart und glänzend, mit silbernen Rädchen, wo einmal ihre Knie gewesen waren. Ein Markenname.
Ein 30 Jahre altes Modell, sagte auf einmal ihr Chef, der hinter sie getreten war, und goss Öl ins Getriebe.

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Kommentare zu diesem Text

Dieter Wal (58)
(15.04.18)
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 unangepasste meinte dazu am 15.04.18:
Danke! Kafka gab es im Studium. Das Robotermärchen kenne ich nicht.

 Isaban (15.04.18)
Das "kafkaesk" ist von mir und es ist im allerbesten Sinne gemeint!
Mehr davon!

Liebe Grüße

Sabine

 unangepasste antwortete darauf am 15.04.18:
Vielen Dank!

 toltec-head (15.04.18)
Hier versucht eine "Schriftstellerin" sich über eine bloße Tippse zu erheben, dabei käme es doch darauf an, zunächst einmal zur bloßen Tippse zu werden.

Schlechter Text.

 unangepasste schrieb daraufhin am 15.04.18:
Bloße Tippse bin ich - sogar Klassenbeste in Geschwindigkeitstippen. Was allerdings der Text ist, dürft ihr entscheiden, und ich kann damit leben, dass er nicht gefällt.

 toltec-head äußerte darauf am 15.04.18:
Den anderen Sich-über-bloße-Tippsen-Erheberinnen inklusive Fräulein Dieter W. scheint der Text ja zu gefallen :)

 Isaban ergänzte dazu am 15.04.18:
@ toltec-head:

Wie kommst du eigentlich auf dieses "Sich-über-bloße-Tippsen-Erheben"?

Jede Interpretation spiegelt Meinung, Hintergrund, persönliche Erfahrung, Wissensstand und Assoziationswelt des Interpretierenden. Deine finde ich nicht besonders textnah, aber sehr spannend.

LG Sabine
Dieter Wal (58) meinte dazu am 15.04.18:
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 W-M meinte dazu am 15.04.18:
ich sehe in dem text eher ein "krankheitsbild" (wird ja auch an mehreren stellen so benannt), und zwar einen einblick in tiefe psychische störungen (von zwanghafter besser zwangsweiser anpassung ist z.b. die rede), von kontaktschwierigkeiten gegenüber einer scheinbar "normalen" umwelt, dem nicht-funktionieren im alltag, was alles als makel empfunden wird, sichtbar als ölfilm an den händen, an der verfärbung / veränderung der eigenen haut (haut ist ja das kontaktorgan zur umwelt, zu den mitmenschen) ...

literarisch / sprachlich ist der text eher "brav", konventionell geschrieben. da würde ich mir mehr mut seitens der autorin wünschen, alles viel direkter und unmittelbarer und noch schräger, sowohl sprachlich, als auch von den motiven her (gute ansätze sind stellenweise drin, der z.b. ölfilm) ... also ein noch mehr sich einlassen auf den text, seine protagonistin, die situationen usw., ein sich mitten hinein begeben in diese störungen, ein zu ihrem kern vordringen (vielleicht liegt es auch an der eher distanzierten haltung des erzähltons, z.b. sie anstatt ich?) ... also Sigune, ergreife die Chance, Du bist die Autorin und hast es in der Hand ... es springt aus dem text, so wie er vorliegt, zu wenig über auf den leser, ich empfinde kaum eine verstörung oder sogar einen seelischen schmerz, eine echte irritation mit.

 unangepasste meinte dazu am 15.04.18:
Ein Krankheitsbild, das von der Gesellschaft nicht als solches gesehen wird, zeitweilig von der Protagonistin selbst sogar als praktisch. Ein zur Maschine werden.
Ich habe auch schon überlegt, ob der Text in der Ich-Perspektive besser funktioniert. Mal sehen. Es war ein Experiment, gestern erst geschrieben und heute schon eingestellt, also eigentlich zu früh und zu wenig überarbeitet ... Ich wollte aber mal sehen, ob es generell funktioniert. Mal schauen, ob ich noch was draus mache.

 W-M meinte dazu am 15.04.18:
das war jetzt meine meinung, mein geschmack, andere mögen das wieder ganz anders sehen. Ich sehe zwei möglichkeiten:

1. alles in ich und im präsens und viel direkter, weniger lange, erklärende nebensätze usw., also sehr direkt und persönlich (von innen), oder

2. viel distanzierter, noch nüchterner, in der dritten person und im präteritum, ganz neutral, kalt, fast reportagemäßig, wie eine versuchsanordnung, ein bericht, ein (seelische arzt-)protokoll, ebenfalls in knappen beschreibenden sätzen (?, weiß ich selbst noch nicht genau), dass es auf diese art dem leser nahe geht und schon schmerzt (wie Kafka, weil Sabine ihn erwähnte).

???

Der Text birgt Potenzial und hat gute Ansätze zu mehr, denke ich?!

 W-M meinte dazu am 18.04.18:
und der anfang scheint mir verbesserungswürdig, der macht mich gar nicht an als einstieg: "Eigentlich war sie ein herausragendes Exemplar ..." und was war sie uneigentlich, das totale gegenteil ... ? das geht meiner meinung nach besser, knuffiger, griffiger?!

 unangepasste meinte dazu am 18.04.18:
Ja, das stimmt, der Anfang ist etwas sperrig. Das "eigentlich" bezog ich auf den Absatz danach. "Eigentlich" im Gegensatz zu "Dann aber ...", "Dann war es nicht mehr so".
Ich habe die ersten Sätze mal etwas umgeschrieben.

 W-M meinte dazu am 19.04.18:
geht vielleicht noch bissle g'schmeidiger? da gibt es auch noch gewisse bezugsprobleme mit dem "sie", ob sich das auf die person oder die normalität bezieht? grammatikalisch nach der normalität eigentlich auf die normalitätß

Geschmeidig fügte sie sich in die immer kleiner werdende Normalität, die, von Experten definiert, dazu führte, dass jeder Spaziergänger sie fast immer übersah. Doch da sie ...

???

 unangepasste meinte dazu am 19.04.18:
Der Grammatik-Bezug war mir bewusst, hier ist aber die Logik so klar, dass es funktioniert. Ein Bezug auf Normalität wäre bei diesem "sie" gar nicht möglich gewesen. Habe es trotzdem minimal umformuliert (ist dann nicht ganz so glatt, finde ich, aber unstrittiger).
Solche Stellen gibt es immer wieder, wenn die Protagonisten keine Namen bekommen. Hier möchte ich auf einen Namen verzichten, da die Hauptfigur ja für ein Phänomen steht, das nicht individuell ist.
Nun gut, der Text ist natürlich keine Hochliteratur, sondern ein Versuch. Er fliegt hier wieder raus, sobald mein 16-Seiten-Interview online ist - ich gebe zu, spätestens dann muss ich hier insbesondere bei der Prosa aufräumen. Aber vielleicht wird es auch gar nicht mehr online gestellt und dann gibt es bestimmt noch 10 weitere Fassungen dieses Textes im Lauf der nächsten Tage oder Wochen

 GastIltis (15.04.18)
Ach Sigune, dumm kann nur jemand tun, der klug genug ist. Dreht man diese Weisheit ein wenig um, bedeutet es, dass sich wichtig nimmt, wer es nicht ist.
Falls es einer noch nicht weiß: du bist gut!
LG von Gil.

 unangepasste meinte dazu am 15.04.18:
Danke

 princess (15.04.18)
Hallo Sigune,

interessant aber ein wenig unrund wirkt der Text auf mich. Weniger ausgearbeitete Reportage als eher noch Skizze. Und natürlich auch eine Spur ungewohnt un-sigunisch.

Jedenfalls bin ich echt gespannt, ob und wenn wie du diese Richtung weiter entwickeln wirst. Ich habe mal meine kV-interne Beobachtungskamera installiert.

Liebe Grüße
Ira

 unangepasste meinte dazu am 15.04.18:
Ja, es war ein Experiment - ich glaube, allzu viel wird da nicht folgen. Mal sehen. Ein spontaner Einfall gestern.
"Reportage" war nicht so ganz ernst gemeint. Sagen wir so: Man kann es wohl nur ironisch oder bereits als Teil der fiktionalen Welt einordnen "Reportage" und "Nonsens" schließen sich ja auch eigentlich aus.

Antwort geändert am 15.04.2018 um 14:42 Uhr
RedBalloon (58)
(15.04.18)
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 unangepasste meinte dazu am 15.04.18:
Danke! Ja, das ist immer wieder der Fall - und manchmal, wenn man seit Stunden auf den Bildschirm starrt und einer stumpfen Arbeit nachgeht, wäre so eine "Akute Maschinisierung" vielleicht doch praktisch
Dir auch einen schönen Restsonntag.

 EkkehartMittelberg (15.04.18)
Wenn der Mensch sich dem Sinn seiner Arbeit entfremdet und nur noch funktioniert, wird er zur Maschine. Das hast du in einer Prosa, die auch mich an Kafka erinnert, hervorragend ins Bild gesetzt. Erst am Schluss wirst du etwas direkter. Das ist aber notwendig, um den Prozess der Maschinisierung, den der Leser vorher ahnt, zur Gewissheit werden zu lassen.
LG
Ekki

 unangepasste meinte dazu am 15.04.18:
Genau so ist es. Freut mich, dass dir der Text gefällt und dass meine beabsichtigte Aussage deutlich wurde.
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