Als Jonathan in das Rentnerpärchen rannte, rümpfte seine turmhohe Frau Mutter die Nase. Seit etwa zwanzig Minuten war sie dem Sohnemann auf den Fersen und rollte mit ihren abrissbirnengroßen Augen, wenn er bei seiner aussichtslos erscheinenden Flucht über Passanten stolperte.
„Jonathan! Sag, hast du denn gar keine Augen im Kopf“, ließ das enorme Geschöpf verlauten, das mit jedem seiner Schritte kleine Krater in den Asphalt riss und wiederholt in die Oberleitungen der Straßenbahn lief, die daraufhin wie Schnippsgummis auseinanderschnalzten.
Als sich Jonathan wieder aufrappelte, kam ihm in den Sinn, dass der gestrige Elternabend seine Mutter womöglich ein wenig verstimmt haben könnte. Flüchtig wagte er einen Blick nach hinten, sah wie ihr am Horizont prangender Kopf die Sonne verdunkelte und die Menschen schreiend durcheinanderliefen. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und nahm erneut die Beine in die Hand – in dem Wissen, dass es das Rentnerpärchen wohl nicht schaffen würde!
„Jonathan. Nun bleib' doch einmal stehen. Du hast da was im Mundwinkel!“ Seiner kolossalen Mutter lief das Wasser im Mund zusammen, in der Aussicht dem Sohnemann das verkrustete Mittagessen aus dem Gesicht zu wischen. Er rannte um sein Leben. Und erreichte mit Mühe und Not das Einkaufscenter, in der Hoffnung sich zwischen den vielen Menschen ein wenig verstreuen zu können.
„Jonathan!“, wurde sie im Unterton harscher, „Wenn du auf der Stelle stehen bleibst, kauf' ich dir auch ein neues T-Shirt“. Jonathan hielt tatsächlich inne und dachte daran, wie sein Taschengeld hinten und vorne nicht reichte – rannte dann allerdings weiter, zumal er sich nur schwer vorstellen konnte, wie seine riesige Mutter mit ihren riesigen Händen eine verfassungsgemäße Transaktion über den Tisch bringen wollte.
Über seinen Ungehorsam verärgert, atmete seine Mutter tief ein und dann lange und genervt wieder aus, derweil ihre Lippen gehörig flatterten. Dies erzeugte einen solchen Luftstoß, dass Jonathan kurz den Boden unter den Füßen verlor und gegen die Eingangstür des Centers flog, die ihm unter dem harten Aufprall Eintritt gewährte. Drinnen angekommen, schüttelte er sich, und setzte seine Flucht fort – vorbei an verdutzten Passanten, die sich noch ganz anders umgucken würden: Denn seine Frau Mutter kündigte sich an! Unter dem Knacken ihrer riesigen Gelenke kniete sie sich nieder, senkte ihren Kopf wie in Zeitlupe auf die Höhe der Eingangstür und linste mit einem Auge hinein, derweil ihr ein Auto an den Unterschenkel fuhr.
„Jonathan. Nun komm schon - Essen ist fertig! Wir wollen doch, dass Du groß und stark wirst“. In Anbetracht des ungeheuren Ausmaßes seiner Mutter fiel Jonathan beim besten Willen nicht ein, auch nur einen weiteren Happen zu sich zu nehmen.
Inzwischen war ob des monströsen Wesens mit der scheppernden Stimme auch im Einkaufscenter das blanke Chaos ausgebrochen. Die adrenalingepeitschten Menschen nahmen ihre Kinder Huckepack, rannten sich gegenseitig über den Haufen und blieben mit ihren Multifunktionsjacken an Regalen und Vitrinen hängen, auf dass diese in sich zusammenstürzten. Aber auch Jonathans Mutter wurde so langsam unruhig – ihrem pädagogischen Auftrag nachkommend, hielt sie es für das Richtige, mit ihrem gewaltigen Arm durch die Eingangstür in das Gebäude einzudringen und nach dem rebellierenden Sohnemann zu angeln.
„Jonathan! Nun mach es mir doch nicht so schwer“, ließ sie das Einkaufscenter an den kleinen Dramen ihres Erzieheralltags teilhaben, tastete mit den Fingern die Eingangshalle ab und drosch dabei unfreiwillig beliebige Menschen an die Wand. Doch ihre Mühen waren vergebens: Während sie sich am Pommesstand die Fingerkuppen frittierte, hatte Jonathan längst den Hinterausgang erreicht und eilte in den dicht bewaldeten Stadtpark. Vom Schmerz aufgescheucht, zog seine Mutter ihren Arm abrupt wieder aus dem Gebäude, wobei sie relevante Teile der Filialen McDonalds und Nanu-Nana mit sich riss. Nach einem kurzen selbstvergessenen Jauchzer biss sie die Zähne zusammen, richtete sich auf und da!: An dem signalroten Rollkragenpullover, den ihm die Oma gestrickt hatte, erkannte sie den Sohnemann, der gerade hinter einem Baum verschwand.
„Jonathan! Da bist du ja“, brüllte sie ihm hinterher, „Nun zeig doch einmal ein bisschen Größe und entschuldige dich für dein Verhalten!“ Mit einem vernünftigen Satz hatte sie das Einkaufscenter überwunden und spähte nach Jonathan, der inzwischen unbemerkt von Baum zu Baum gehechtet war, sodass sich der Mutter eine Art Hütchenspiel offenbarte: Hinter welchem Geäst mochte der Sohnemann wohl hocken? Begleitet von dem entgeisterten Geblöke einiger Parkbesucher begab sie sich auf alle Viere und griff beherzt hinter diverse Bäume, derweil sie wiederholt mit der Zunge schnalzte – in etwa so, wie man versucht das Vertrauen zu einem scheuen Tier aufzubauen. Als Jonathan sah, wie der Atem seiner Mutter in unmittelbarer Nähe die Gräser aufwirbelte, verließ er perplex erneut die Deckung. Ohne es zu bemerken, blieb er dabei mit dem Pullover an einem Ast hängen, woraufhin sich mit jedem seiner Schritte ein roter Faden mehr und mehr entrollte, was seiner Mutter die Jagd natürlich erleichterte.
Und da war es soweit: Nachdem sie die Fadenspur entlang zweier weiterer Bäume geführt hatte, mündete sie in einem Gebüsch, das höchst verdächtig raschelte und bebte. Vorsichtig robbte seine Mutter heran, schnappte sich den Faden und zog so ruckartig daran, dass Jonathan, wie eine Ballerina rasch um die eigene Achse rotierend, zum Vorschein kam. Von den vielen Umdrehungen benebelt, trat er schwankend von einem Bein aufs andere und ging zu Boden, wodurch ihn seine riesige Mutter einfach aufsammeln konnte – so wie ein kleines Mädchen eine vom Stamm gefallene Kastanie.