Heimat - Though we're apart, you're part of me still.

Skizze

von  Willibald

Lang her

»Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit hatte, am Ende aus dem Gefühl, daß, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen«,
Theodor W. Adorno: Auf die Frage: Warum sind Sie zurückgekehrt, Ges. Schriften, Bd. 20. 1, Frankfurt/Main 1986, S. 395

Bin in einer merkwürdigen Kleinstadt in Unterfranken aufgewachsen, in der Nähe Amorbach, wo die Wiesengrunds in den Sommerferien waren und die verstimmte Gitarre voll dunkler Resonanzen im Hotel zur Post an der Wand hing. Miltenberg, vom Main durchflossen, links der Odenwald, rechts der Spessart, Sandsteinbrüche, Sandsteinhäuser, Fachwerkhäuser, ihre Balken dunkel, ehemals mit Ochsenblut gestrichen, ein Gymnasium aus rotem Sandstein in der Luitpoldstraße.  Dort gab es einen merkwürdigen Musiklehrer: Andreas Lang. Und eine merkwürdige, fast immer leere Musikalienhandlung, auch  Lang - die einzige der Stadt - in der Hauptstraße, eher spärliche Auslagen im Fenster, Noten und Bücher: "Die Geigenschule", "Die Flötenschule" und so die Reihe weiter ....

Bei der Inhaberin Alma Lang kaufte ich meine erste Schallplatte, als ich zwölf Jahre alt war. Meine Großmutter hatte mir ein großes, silbernes Fünf-Markstück geschenkt, zur freien Verfügung. Finanziell eine große Sache für mich. Und alles war gleich nicht mehr so grässlich.  Bei Alma Lang gab es einen Plattenspieler im Laden, viel Klassisches. Amerikanische Platten, etwa fünf.  Ich wählte "Gonna lay down my burden...", es sang und spielte Louis Armstrong auf Decca und ich hörte  das Stück  zuhause ununterbrochen zwei Tage lang auf dem Plattenspieler. Den Eltern war das nicht recht. "Was soll das? Was hast denn du für Bürden? Das Schuheputzen am Samstag?"

Drei Tage später saß ich auf dem überdachten Schmiedeeisen-Balkon der Gaggellvilla im ersten Stock. Man blickte in den verwilderten Park ringsum, die Buchen, Kastanien, Linden, die riesigen Fichten rauschten leise, die Bürgstädterstraße verschwunden: Kochtöpfe - an ihren Henkeln mit Schnüren versehen - hingen frei an einem hohen Gestell zum Wäschetrocknen, ich  trommelte und hämmerte und wirbelte mit zwei  Kochlöffeln drauf los. Meine Eltern waren weg, unterwegs in der Stadt, es ging um den Kauf eines neuen Telefunken-Radios, braunes Holz,  fein furniert mit flaschengrünem, magischen Auge und goldenen Zierleisten. Etwa sechshundert Mark.  Und dass es womöglich zu groß und protzig herumstehen würde, alles dominieren, wie eine "Kuh", da auf dem hölzernen Sofa-Anbau. Entworfen von meiner Mutter, der "akademischen Malerin", wie mein Vater sie manchmal nannte. Der Schreiner Rose in der Schererstraße ganz nahe beim Sandsteingymnasium hatte das Sofa nach ihren Zeichnungen gebaut. "Auf unserem  Sofa so eine plumpe Kuh?!" Da war sie doch auf der Hut! Da musste man genau schauen und prüfen, bevor man kaufte und alles verschandelte! Aber es war dann da, hatte einen satten Sound aus drei Lautsprechern, man holte sich Musik über eine Ferritantenne. Mittelwelle, Kurzwelle, UKW. Eine eingebaute Dipolantenne. Elfenbeinfarbige, klickende Klaviertasten für die drei  Wellenbereiche. Das grüne, magische Auge mit einer segmentierten Pupille, sie schloss sich bei der genauen Sendereinstellung. Und wurde kreisgrün  hell.

Vor einiger Zeit fiel mir in der Nähe von Dillingen eine merkwürdige Kirche auf, der Turm vergleichsweise wuchtig im Verhältnis zum Körper, der Grundriss in der Form eines griechischen Kreuzes, über dem achteckigen Raum eine Kuppel mit aufgesetzter achteckiger Laterne und acht Lichtöffnungen, der Name - "Marienkapelle" - eine Untertreibung, das war keine Kapelle mehr. Ich stieg aus dem Auto, betrat den kleinen Friedhof. Und traf wieder auf einen Lang.

Am Eingang rechts findet sich der Epitaph "Hier ruht der verwesliche Leib des Hochwürdigen Wohlgeborenen Herrn Jakob Lang", " Pfarrers von Binswangen", in Miltenberg geboren am 27. Februar 1817, in Binswangen gestorben am 12. Juni 1886. „R.I.P.“ Drei Gedichtstrophen von einem Stephan Bröll:  Jakob Lang - "voll Wehgefühl bei fremden Thränen - bei eig´nem Schmerz ein stiller Mann". Ein Seelenhirte "fein und hoch-gesinnt", "der Blumenwelt hold wie ein Kind".

Faible des Priesters für Blumen, in einem kleinen Dorf, in der Nähe einer kleinen katholischen Universität (Dillingen) und - laut seinem Laudator - zugetan "dem Wahren, Guten, Schönen". Wie hat es ihn aus Miltenberg und Unterfranken hierher, ja doch, „verschlagen“? Hat er den Kontakt zur Universität in Dillingen gesucht? Vielleicht kriege ich es raus, bei einem Besuch in Miltenberg. Dort im Pfarrbuch nachschauen.

Miltenberg: Nachschauen, ob der Mond mit Pfeife noch im Verputz des Gymnasiums zu entdecken wäre. Ich hatte ihn dort am siebten Geburtstag mit Hammer und Meißel erschaffen, mein „ww“ darunter gemeißelt und war mächtig stolz. Mit Vierzehn verliebt, erfolglos, völlig aussichtslos, entrückt der Wirklichkeit,  in Ute Z.  Beim Sportfest unten am Main war sie die vierhundert Meter in der Staffel gelaufen, an uns vorbei, schöner als alles, was ich kannte. Ja. 

Miltenberg: Hilversum.  Das Radio auf dem Sofa des Schreiners Rose und der Mutter. Das magische Auge rechts oben  und darunter BBC, Bremen, Lille I, Luxembourg, Monte Carlo, AFN München, Hilversum, Hilversum I und Hilversum II, UKW, Langwelle, Kurzwelle, Mittelwelle. „Hilversum“, für den Jungen ein magischer Name, keine Ahnung, wo das lag.

Jetzt im Arbeitszimmer in München, vor dem Fenster im zweiten Stock die Esche,  legte ich die Decca-Platte von Louis Armstrong auf ( „Gonna lay down my burden“). Auf der  A-Seite  singt Louis Armstrong "Blueberry Hill". Vor meinem Fenster im zweiten Stock schüttelt sich die Esche und biegt sich im Wind, der plötzlich aufgekommen ist. Leises Mitsummen, alle Strophen des Blaubeeren-Liedes. Ute, wie sie auf der Aschenbahn am Main in der Staffel läuft, schöner als alles, was ich kannte. Und drei Jahre älter als ich. Damals gegenwärtig und nah nur im Vorbei. Heute auch.

I found my thrill on Blueberry Hill
On Blueberry Hill when I found you
The moon stood still on Blueberry Hill
And lingered until my dreams came true


 ext. Link

The wind in the willows played
Love's sweet melody
And all of those vows we made
Were never to be

Though we're apart, you're part of me still
For you were my thrill on Blueberry Hill

Come climb the hill with me, baby
(On Blueberry Hill) We'll see what we will see
(On Blueberry Hill) I'll bring my horn with me
(When I found you) I'll be wit' you where berries are blue
(The moon stood still) Each afternoon we'll go
(On Blueberry Hill) Higher than the moon we'll go
(And lingered until) Then, to a weddin' in June we'll go
(My dreams…)

The wind in the willows played
Love's sweet melody
And all of those vows we made
Were never to be

Though we're apart, you're part of me still
For you were my thrill, yes, Blueberry Hill.


Kruzifix schimpft man leise vor sich hin, um  die  Rührung zu stoppen, Kruzifix. Und halblaut: In allen Münchner Kirchen und Kapellen  sollte man dem Herrgott danken, dass er uns diesen seinen schwarzen Sohn Louis Armstrong auf die Erde gesandt hat. Und während man  so  den Worten nachsinnt, siehe, da überschattet eine lichte Wolke den Baum vor meinem Fenster  und das Haus und ganz Obermenzing . Und eine Stimme aus der Wolke spricht: Dies ist mein geliebter Sohn Louis Armstrong, an welchem ich mein Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören.

p.s.
Videoaufnahme Louis Armstrong: Blueberry-Hill (Link oben im Text):
22. März 1965, Ost-Berlin, Friedrichstadt-Palast.
Das ganze Konzert, hier:
 externe Links

Illustration zum Text
Binswangen Kapelle
Illustration zum Text
Binswangen, Epitaph
Illustration zum Text
Gaggellvilla, Miltenberg
Illustration zum Text
Telefunken
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Kommentare zu diesem Text

Iphigenie (38)
(27.09.18)
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