Wunder. Punkt. Eichendorf.

Erzählung

von  Willibald

Illustration zum Text
Löwen

In der Früh  saß der alte Mann  leicht verkatert in der Küche. Ach ja, nun ja, die halbe Flasche Wein von gestern Abend. Oder doch eine ganze?  Er war halt nicht mehr der Jüngste.  Gedächtnis, Kondition. Er  nahm die Zeitung vom Tisch auf, griff dann zur Kaffeetasse daneben. Politik, Feuilleton,  Wirtschaft. Seriös wie immer  diese Neue Züricher Zeitung, staubtrocken, schweizerisch, penibel, nüchtern.

Nüchternheit. Die brauchte er jetzt.  Vorsichtig schlürfte er den  heißen Kaffee, öffnete den Sportteil und setzte - aufmerksam geworden -  die Tasse ab.
An manchen Tagen entzieht sich der Fußball gängigen Erklärungsmustern. Er verabschiedet sich für einen Augenblick aus dem Reich der Logik und wandert in jene Grauzone, in der vermeintliche Gewissheiten mit einer Wucht erschüttert werden, dass man noch Jahre später darüber reden wird.

Die NZZ! Was war in sie  gefahren?
Ein solcher Abend war der Mittwoch im Stadion Camp Nou von Barcelona. Barça gewann gegen Paris St.-Germain 6:1, nach einem 0:4 im Hinspiel. Es ist das, was manche als Sensation und andere als Wunder bezeichnen werden; ein Ereignis, das den Fußballplatz wie ein magisches Kraftfeld erscheinen lässt, dessen Zauber aber nur die Reserven eines Teams speist, das andere dagegen lähmt. Ein Match gegen alle Wahrscheinlichkeiten.

Match gegen alle Wahrscheinlichkeiten, Wunder, magisches Kraftfeld.
Johannes Wenzel  schloss  die Augen, sah  - zuerst in Umrissen, dann immer klarer –  den  Schulhof seiner Jugend an einem Tag im Januar,  Jungen und Mädchen und Schnee,  ein Bild  wie ein Schnappschuss, gleich würde sich das Bild beleben, Bewegung entstehen. Am Anfang die Demütigung, dann  der Wurf und  schließlich  Jubel, Triumph, Musik, Tanz, das große Drama. Übermächtig, erhaben, das Zittern machende Tremendum. 

All dies hatte er später als leicht blasierter Student  in  manchen Texten gefunden,  hyperrational und  nüchtern zu  sezieren versucht und vermocht.  Aber jetzt  in dieser Szene  war alles unmittelbar präsent,  rauschhaft präsent,  greifbar vital. So lebendig, dass man es  erzählen musste, unbedingt erzählen.

Vor langer Zeit, als die Eltern bei Einladungen für ihre Gäste  Käseigel  auf die Tischplatte stellten, so hub die innere Stimme raunend an zu erzählen (Käse-Igel),  damals im Januar 1959, als sich die Tage noch nicht dahinschleppten, hatte sich das alles zugetragen im Schulhof vor dem Gymnasium  in Miltenberg, einer unterfränkischen Kleinstadt. Von Stadtbaumeister Ludwig Frosch war der Bau zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden. Drei Flügel, drei Geschosse, mit Walmdächern, ein Dachreiterhäuschen. Im Untergeschoss ein Dampfbad, dann ein Schwimmbecken mit warmem Wasser, an seinem Kopfende in der blau gekachelten Wand ein rot-gelber Löwenkopf, Wasser speiend. 



Das Gymnasium hatte ein Umfeld: Unten am Main das Freibad, dahinter der Sportplatz, zwei Fußballtore, am Rand die Aschenbahn für die Wettkämpfe. Weiter - den Main  flussabwärts  - noch ein Sportplatz für die Bundesjugendspiele. Man erreicht  den Sportplatz über die mächtige Sandsteinbrücke und ihren Torturm am Fluss.  Durch den  mächtigen  Tortum  führt eine Straße  über die Brücke nach Miltenberg Nord,  zwei ansteigende Straßen beginnen in Flusshöhe und bringen einen dann nach oben. Ihr aufwendiger Unterbau erreicht die größte Ausdehnung unterhalb des Torturms, in der  gemauerten Stützkonstruktion  auf Mainhöhe findet sich ein steinerner Löwenkopf. Er ähnelt dem Löwen im Unterbau des Gymnasiums. Das weite Revier der Löwen.


In der großen Pause  standen Schüler  beieinander, lachten und redeten, bissen in  ihre  Butterbrote oder kauften  Wurstsemmeln beim  Hausmeister. Die älteren  Schüler waren in Diskussionen vertieft und  wanderten  auf und ab oder standen gestikulierend in kleinen Gruppen beisammen. Der Schüler  Erwin Eicker aus dem Kilianeum, einem kirchlich-katholischen Internat mit Askese fordernden Präfekten („Wer hier eintritt, legt sich die Priesterbinde um die Stirn“),  kaute an einer Käsesemmel und schimpfte über die freundlichen  bis verzagten Küchen-Schwestern ("Immer der Käs von dene, ewig der Käs, Scheißkäs. Scheißkilianeum") – sie verdienten  solchen Tadel nicht. 

Alfred Mechler, ebenfalls Kilianist,  wirkte glücklicher, er hatte ein Wurstbrot dabei und einen großen Winterapfel, seine Eltern aus dem Odenwalddorf Preunschen nahe bei Parzivals Burg Wildenberg hatten ihm eine Salami mitgebracht, das Obst kam  aus der Kilianei.

Wunder Punkt

Der junge Wenzel, ein Stadtschüler von fünfzehn Jahren -  nahe bei der Kilianei  bewohnten  seine Eltern den  ersten Stock einer roten Sandsteinvilla der Familie Gaggell  -  stand neben Erwin und Alfred, blinzelte über den Brillenrand  in die funkelnde, blendende Wintersonne,  er hörte die Durchsage des Lautsprechers („Schneeballwerfen ist zu unterlassen …“) und  dachte voll Wehmut an den Sommer und das Sportfest im Juli. Die Viermal-400-Meter-Staffel. 

So wie sie lief, an ihm vorbeilief,  petrarkisch um die Wette funkelnd mit den Sternen am Himmel,    unvergleichlich schön, sie hatte am Ziel tief geatmet, wurde von allen heftig beklatscht: Ute Zehelein.  Zwei Jahre älter als er. Aach, ach, es blieb ihm nur Verzückung, Bewunderung,  Sehnsucht. Träumerische Verschlossenheit.

Wumm.  Wie aus dem Nichts – eiskalte Explosion. Kopf, Hals  und Brille in der detonierenden Wolke glitt  Schnee in den Kragen,  über die Haut den  Hals und  den Rücken hinab, so frostig feucht, dass  er  wütend aufschrie.  Ringsum  gackerndes Lachen, glucksender Spott, murmelndes Mitleid. Der  Täter hatte sich von hinten angeschlichen. Ein Schneebrocken in den Händen. Schnelle Schritte weg.  Nunmehr – bereits in einiger Entfernung  von seinem Opfer – blieb der Junge stehen und genoss ruhig atmend den Anblick.  Der Lehrersohn hatte was abgekriegt, ja. Wie er reagieren würde? Gar nicht, so belämmert wie er dastand. Und wenn  doch ... was hatte einer aus der Oberstufe  zu fürchten von diesem nassen Sack, diesem blamierten  Viertklässler, im Gesicht knallrot  und starr vor Schock?

Lächelnd drehte er sich von Wenzel weg und schritt betont langsam zum Portal des Gymnasiums. Vor ihm die Menge teilte sich bereitwillig, einzelne Schüler wiesen  auf das beschneite Opfer weiter hinten  hin, das so erbärmlich  aufgeschrieen hatte,  sich gerade heftig  schüttelte und dann an den Kopf tapste,  wahrscheinlich die Brille vermissend. Sie war nicht mehr da.

Doch statt sich zu bücken und die Brille im Schnee zu suchen,  griff Wenzel blitzschnell nach dem  großen, weichen Winterapfel, den der Kilianist Alfred Mechler gerade angebissen hatte,  und schrie so laut „Du Arsch“, dass es über den Hof hallte. 

Die Umstehenden, die Pausenbrote auf Brusthöhe,  verstummten, alle Blicke ruhten auf ihm. Er hielt  den Wurfarm noch  gesenkt und vor seinen Augen entfaltete sich die Flugbahn. Eine Parabel, logischer und perfekter, als jede Mathematiker  sich das hätte ausdenken  können.

Und ja,  Johannes Arm Hand Apfel, sie  wurden eins in der sich dehnenden  Zeit.  Und so schraubte sich  rasend  langsam  die Frucht  nach oben und zog  – zang zang zang -    über den  Köpfen der Zuschauer in gleißender Helle bis zum höchsten Punkt der Scheitellinie, alle Augenpaare waren  nach oben gewandt. Der Täter, durch die Stille  aufmerksamer  geworden,  hatte sich umgedreht, sah etwas heranfliegen,  duckte sich, um nicht getroffen  zu werden. Genau in diese  Bewegung hinein glitt der rotierende Apfel in  seiner Parabellinie hin zum gesenkten Kopf und  traf den Scheitel  - Plopp und ein Schmatzen:  Im Sonnenlicht  barst  der Apfel zeitlupenartig  in faserig-glitschige Teile, die  spritzten  links und rechts vom Kopf  hoch  und  fielen dann  still zu Boden.
Schweigen ringsum.

Dann aber: Gelächter, Rufe des Staunens,  beifälliges Klatschen für den spektakulären Wurf, es  hallte über den Schulhof und von den Sandsteinmauern zurück. Der Gründerzeitbau des Gymnasiums verlor für zwei, drei Momente seine rote Schwere, der weiß verputzte Neubau daneben mit seiner Sonnenuhr und dem Fresco  „Hora-ruit“ samt drei fliegenden Schwänen  strahlte auf.

 Wunder? Delirium? Oh, wie sehnsüchtig sucht der Verwundete  nach dem Wunderbaren - wider alle Vernunft, bis zur Erschöpfung . Plötzlich und für ein paar kurze Momente ist es einfach  da,  das verzückende  magische Mehr.

Als nun  der Getroffene, vom Publikum verlacht, zornrot  zurückeilte,  Wenzel  anbrüllte, ihm mit der Linken auf den Kopf schlug  und ihm  mit der Rechten  einen heftigen Boxhieb vor die Brust versetzte, da knickte  Johannes ein, rang  nach  Luft, aber spürte fast keinen Schmerz. Es gab ja gegen alle Wahrscheinlichkeiten diesen perfekten Apfelwurf, seinen Apfelwurf. Und irgendeine Gottheit  hatte doch wohl den Wurfarm geführt und die Flugkurve vorgezeichnet, die der rasende Apfel nutzte  bis hin  zu seinem Ziel?  Hatte dieser mächtige  Gott nicht  Alfreds  Apfel  am Ende  der Flugbahn platzen  lassen, hatte er  nicht für eine Aureole gesorgt? Hatte nicht  der wuchtige Gründerzeitbau ringsum aufgeleuchet,  war er nicht fast levitiert??  Und dieses göttliche, numinose Etwas, schrieb es  nicht alles ein in das Skript dieses Tages?  Und stand da nicht  über den Tag hinaus in dem  Buch des Lebens,  dass  der Schläger  trotz seines Schneewurfes und Boxhiebes  geschlagen war? Stand das nicht geschrieben  jetzt und -  irgendwie -  für alle Zeit?

Disput

Am Abend saß der alte Mann  im Wohnzimmer. Die gewohnte Flasche Wein fast leer. Im Lichtkreis der Stehlampe  schloss er wohlig die Augen und hörte sich Udo Lindenberg  an: Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge, ganz spitz auf Lakritz. Johannes lächelte. Und ich schreib diesen Brief, an den Jungen, der ich vor dreißig Jahren war.  Johannes blickte vergnügt dorthin, wo  der  Lichtkreis  den Schattenbereich leckte. Als auch  Standing in the Hall of Fame zu Ende ging, erhob  sich  Johannes Wenzel mit dem letzten, halbgefüllten Glas, schritt ins Arbeitszimmer hinüber und nahm  vor dem Computer Platz. Dort wartete der junge Johannes Wenzel auf das abendliche Selbstgespräch mit seinem alten Ich.

„Pass  mal auf“, sagte der junge Wenzel und verzog ein wenig den Mund, „du und ich, wir haben zwar diese Szene erlebt, die Schneekaskade, die Freude beim Apfel-Wurf, das Aufstrahlen der Schulfenster, das Leuchten im Hof ….“
„Ja, eben, wenn  alles passt und klingt  und schwingt und leuchtet, dann erlebst du diese herrlichen Augenblicke, die jeder, der dabei war, nicht vergisst. Das ist Epiphanie, doch, das wag´ ich zu sagen, Epiphanie. Ein emotionales Apriori, oftmals gefeiert in Musik und Tanz und Worten der Kunst. Du willst es später unbedingt  erzählen, einmal und immer wieder. Dir selber, den anderen" Er holte Luft: "Das Unzugängliche, hier wird´s  …“.
Sein junger Gesprächspartner unterbrach ihn: „Halt mal die Luft an. Jetzt mal ganz unter uns:  FC Barcelona. Sechs Bälle in´s Tor. Magisches Kraftfeld. Die solide Schweizer Zeitung wird flippig. Und du erhebst selbstbesoffen den Blick in den Spiegel und siehst dich dort als    Johannes Wenzel Wilhelm Tell.“
„Sehr witzig.“
„Witzig? Naja. Also im Ernst jetzt, die Struktur deiner Geschichte: Gymnasiale  Pause, eine Idylle: plötzlich  ein  Angriff auf den Lehrersohn, un-,  aber artgerecht.  Der Apfel rotiert über den Schulhof und trifft den Täter, perfekte Revanche.  Emotionale Eruptionen ringsum, alles flippt aus. Und der  alte  Johannes Wenzel flippt noch immer aus, noch jetzt. Nein, jetzt noch mehr als früher. Numinosum! Apriori! Gott und Artifex!  Fette, alte Wörter machen  doch deine Sätze  nur fett und alt, nicht gut.“
„Magerkost soll besser sein?“
“Und  dann", der junge Wenzel ließ sich nicht unterbrechen, "dieser popkulturelle Schauplatz von "hora ruit"  samt den drei Schwänen als Fresco."
„Ach Gottchen! Ach Gottchen!"
„Ja, du bringst Götterprosa, antiquierte Götterprosa. Bemühter, gefährlicher Höhenflug. Komische Fallhöhe. Bauchlandung inklusive. Fatal, fatal“
„Du übertreibst.“
Bruchlandung sogar. Du lässt den Motor aufheulen bei begrenztem Hubraum und hörst nicht, wie der überdreht. Doch. Jetzt hör mir  zu:  Falls bei jemandem  etwas Magisches aufscheint, kann man es nicht objektiv erkennen. Und selbst wenn man es erkennen könnte, kann man es kaum jemand anderem überzeugend mitteilen. Und wenn man es doch versucht, dann wird es eben, nun ja,  komisch, vor allem in deiner altväterlichen Ausdrucksweise.“

„Ächz!" sagte Wenzel, "Eifer und Geifer derer, die nicht mehr jung sind und noch nicht alt. Meine Schüler", der alte Wenzel straffte sich, „meine Jungen und Mädchen, sie  haben vor einem Jahrzehnt in der Abiturfeier  am Ende einen Song platziert. Standing in the Hall of Fame. Eine Hymne, von einer Gruppe, nannte sich The Script. You can throw your hands up, you can beat the clock, you can move a mountain. You can  break the rocks. You can be a master.  Hier, schau es dir auf dem Bildschirm an, fette, pralle,  rührende Lyrik.  Kein alter Wein in neuen Schläuchen. Heroischer Pop in jungen Lungen.“
„Sag ich später was zu. Sieh mal auf die Credits:  Ist ein William dabei, William Adams. Nennt sich will.i.am. Nur so viel: Man reibt sich verwundert die Augen. Manche Geschichten bleiben in modernen Zeiten besser unerzählt. Und manche Songs ungesungen."
„Komisch, gestelzt,  pathetisch, besser unerzählt?  Was da gesungen wird, wie das gesungen wird,   glaub´ mir, das gehört zu den  anthropologischen  Konstanten, das findest du  in allen deinen Lebensphasen, zu allen Zeiten in jeder Kultur. Man darf das. Ich darf das. Wir dürfen das.  Feiern und feiernd schreiben. Ja ."

Sepiabraune Collage

Der junge Wenzel verstummte verstimmt und betrachtete schweigend  dieses alte, rechthaberische Ich. Der alte Wenzel saß vor dem Bildschirm aus Flüssigkristall,  hörte sich atmen, tief und langsam.  Weggleiten, Entrückung,  Trance:

Im Computerarchiv  fand sich ein Bild des Brückentors am Main. Als kleiner Junge  hatte er die Brücke hinter dem Tor zerstört gesehen. Zusammen mit seinem Vater, der ihn an der Hand hielt, war er damals zum Fluss gegangen. Die Gartenstraße entlang, vorbei an der Erkerwohnung vom Gymnasialdirektor Pfändtner. Seine Tochter Brigiitte war in Vaters Deutschklasse. Hinunter zum Main.

Ein grauer, regennasser Tag, Pontons, die im Wasser schwammen. Sein Vater trug den breitkrempigen schwarzen Hut wie ihn manchmal Priester tragen. Wenn Mutter gute Laune hatte, sprach sie ihn mit Hochwürden an. Ein Bagger an der Arbeit, Vorarbeiten für den Wiederaufbau der alten, zerstörten Brücke. An einem Seilzug Wannen, mit denen man den feuchten, schweren Aushub wegtransportierte. Bevor sie vom Fluss heimgingen, blieben sie vor dem Löwenkopf unter dem Torturm stehen. Sie verneigten sich,  verneigen sich vor dem Löwen über dem roten Mauerbecken. Ein Ritual seit Johannes vier Jahre  alt war.



Ein zweites Bild hochladen: Johannes mit fünfzehn Jahren in der neunten Klasse, die Haare im Mecki-Bürstenschnitt, ein „Stiftenkopf“. Die Brille, dünne Gläser, dicke Fassung, einmal geklebt beim Optiker Lachnit, 0,5 Dioptrien. Ein Schlupfhemd mit weitem Kragen vom Kaufhaus für Herren- und Knabenbekleidung Oehmann.
Unsicherheit, Verlegenheit, Trotz, Fragilität und Zartheit: 
Da war sie. Die komische Erhabenheit  der jungen Jahre.

Dann das dritte Bild, komplexer im Motiv:  Hohes Mauerwerk unter dem breitbeinigen Brückenturm am Main, im Mauerwerk eine  Nische, fast der Ansatz zu einer Halle. In ihr – kaum zu erkennen -  ein Wasserbecken und dann: der Löwe. König der Tiere, Beherrscher  des Rudels,  im Maul ein Rohr spie er das  Wasser aus. Auch im  kleinen Hallenbad unter dem Gymnasium wohnte  ein  Löwe. Sein lächelnder Kopf ragte  dort aus der blauen Kachelwand, spuckte  das Wasser hinab auf die Schüler im blau-grünen Bassin, in der sechsten Stunde am Freitag auf die Jungen. Und auf die Mädchen in der vierten Stunde am Samstag.



Standing in the hall of fame
And the world's gonna know your name
'Cause you burn with the brightest flame

And the world's gonna know your name
And you'll be on the walls of the hall of fame.

Blau  glomm der Monitor.
Johannes färbte die drei Bilder braun ein, dann, dann schob er sie hin und her, neben- und ineinander, bis sie eins wurden.

Eine dreigliedrige  Collage, eine sepiafarbene Hommage an die Vergangenheit: Sehr groß in der Mitte der  Löwenkopf über dem Wasserbecken. Flankiert von zwei Bildern:  Auf der linken Seite  der breitbeinige Brückenturm und – ganz klein – im Unterbau des Turmes  noch einmal derselbe Löwe. Auf der rechten Seite Johannes, fünfzehn Jahre,  Stiftenkopf, Brille. The Famous Master of a Famous  Apple Throw.



Ein  sepiabraunes Triptychon. Lächelnd hob der alte Wenzel das Weinglas zum Bildschirm und und grüßte sein  Spiegelbild darin.  Heiterkeit , simultanes Bewegen der Lippen, als er flüsterte: 
"Drama, Erzählung, Lied, Collage. Und hoher Ton.
Schimmerndes Halbdunkel von  Raum und Zeit. 
Erhabenheit und  Komik miteinander."
Was gab es  Schöneres,  als sich so in aller Unzulänglichkeit und Löwenhaftigkeit gespiegelt zu sehen?

Besuch

Draußen klopfte etwas am Fenster. Ein Tier, die Pfötchen angewinkelt, blickte konzentriert auf seinen Betrachter. Johannes stutzte. Das war das  Eichhörnchen von gestern. Der  akrobatische Sprung  aus der Baumkrone  gegenüber auf den Balkon. Dort  ein Teller mit Haselnüssen,  abgestellt von Johannes. Das Eichhörnchen vor dem Fenster entzückte ihn. Dieser  buschige Schweif,  sandsteinrot,  elegant gebogen. Diese Ruhe gerade,  dieser aufmerksame Blick,  nicht die wuselige Geschäftigkeit wie sonst, kein flippiges Hin und Her. Einfachheit. Würde. Stolz. Himmelssicherheit.

Frau  Dr. Erika Fuchs hatte ihn mit  dieser Sippe bekannt gemacht. A-Hörnchen und B-Hörnchen glitten  in den  Panels von Carl Barks hin und her. Und sie blickten ihn an,  damals  als er gerade das Lesen lernte. Der Vater hatte erst ernst das Heft betrachtet: Diese amerikanischen Bildergeschichten. Bedenklich. Primitiv. Aber dann rief  Donald: "Kann ich Armeen aus dem Boden stampfen? Wächst mir ein Kornfeld auf der flachen Hand?"  Bildungsgut, deutsche Klassik. Sieh einer an.
Im Impressum eine Frau mit Doktortitel. 
Eine Frau Dr.  Fuchs. Das war vielleicht doch was andres. Die Mutter sagt; "Oh, Disney. Das ist wirklich gut."

Ach, überhaupt, Erika Fuchs!  Johannes lächelte verzückt. Animalische Hominiden. Franz Gans. Oma Duck. Der kleine böse Wolf, die Panzerknacker, Daniel Düsentrieb, Goofy, Micky Maus und Minni Maus, Kater Karlo, Ede Wolf.  Und besser als sie, ach was, besser  als alles:  Donald und Dagobert und Tick, Trick und  Track. Wie die drei Neffen einen Kreis bilden, die Holzschwerter senken  und  schwören: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns waschen und Gefahr!“ Und  - schwupp, schwupp,  schwupp -  weg waren sie, verschwunden, ratzeflitz weg.  Fiel es aus, das Waschen und Schrubben am Wochenende unter Donalds Aufsicht? Onkel Donald: war clever „Vor Schmutz starrend, wie sie sind, wird es mir ein Leichtes sein, sie mit dem Geigerzähler aufzufinden.“

Wenzel blickte auf das  flippig-ruhige  Tier am Fenster: "Du sollst", sagte Wenzel lächelnd und hob langsam die Hand, "W-Hörnchen heissen." "Nun ja", sagte das Eichhörnchen, "nur mal so unter uns Löwen, ich trage schon einen Namen.  Erika Fuchs hat mich Eichendorf genannt. Mit einem  F."


willibald wamser

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Kommentare zu diesem Text

Trainee (71)
(19.01.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.01.19:
Man sollte nicht so viel vergleichen, weil man anderen damit oft Unrecht tut. Aber ich mache hier eine Ausnahme und sage nur für mich: Solch eine farbige, spannende, sorgfältig komponierte Erzählung wie " Wunderpunkt" habe ich auf kV noch nicht gelesen.
Einerseits die Spiegelung der Haupterzählung vom erfolgreichen Apfelwurf mit anderen magischen Momenten (z.B Sieg des FC Barcelona), die Herausarbeitung des Höhepunkts,, kontrastiert durch die verzückte Liebepisode, die eingebaute Selbstkritik mit den fetten, alten Wörtern, die Jugenderinnerungen mit dem sepiabraunen Bild und andererseits für mich das Wichtigste, dass hier ein Philologe, ein Liehaber des Worts, erzählt. Von vielen Beispielen sei hier nur die Charakteristik der NZZ erwähnt oder dies: „Meine Schüler“, der alte Wenzel straffte sich, „meine Jungen und Mädchen haben vor einem Jahrzehnt in der Abiturfeier am Ende einen Song platziert. Standing in the Hall of Fame. Eine Hymne, von einer Gruppe, nannte sich The Script. You can throw your hands up, you can beat the clock, you can move a mountain. You can break the rocks. You can be a master. Hier, schau es dir auf dem Bildschirm an, fette, pralle, rührende Lyrik. Kein alter Wein in neuen Schläuchen. Heroischer Pop in jungen Lungen.“
„Sag ich später was zu. Sieh mal auf die Credits: Ist ein William dabei, William Adams. Nennt sich will.i.am.“
„Komisch, gestelzt, pathetisch? Was da gesungen wird, wie da gesungen wird, glaub´ mir, das gehört zu den anthropologischen Konstanten, das findest du in allen Lebensphasen, zu allen Zeiten. Man darf das. Ich darf das. Wir dürfen das.“
Beeindruckte Grüße
Ekki

 Willibald antwortete darauf am 19.01.19:
Liebe Heidrun,

es macht mir große Freude, diese kenntnisreiche Textwürdigung zu lesen.

Der "sepiabraune Ton" und darin "der gleißende Wurf", wow, das hat dann wohl funktioniert.

Die gewisse Vorliebe für archaisch-pittoreske Töne auch bei der Jugend eines LK Deutsch ist hier von Doc Schneider gestiftet worden, in einem juvenilen Haupttext zwei seniore lyrische Nebentexte :
 https://www.keinverlag.de/422096.text

Seit etwa zwei Jahren studiert willibald narratologische Schriften und metaphorologische, mit einiger (verrücktheitsnaher) Intensität, Da liegt es dann nahe, mit Fokalisierungen und Codierungen rumzuexperimentieren und Bubblegum-Metaphern-Komplexe zu würdigen.

Haikus werden auch noch gehandelt, versprochen.

Beste Grüße

willi

 Willibald schrieb daraufhin am 19.01.19:
Lieber Ekkehard,

noch eine kenntnisreiche, elaborierte Würdigung neben der von Trainee.
Großen Dank.

Als kleiner Dank (Gernhardt in Brecht-Manier):

Über den Widerstand

Der Schriftsteller He-hei (Henscheid) hielt es für verwerflich, Literaturpreise anzunehmen, während sein Kollege Ge-ga (Gernhardt) nichts dabei fand. »Indem du dich mit dem Literaturbetrieb gemein machst, stärkst du ihn«, sagte He-hei. »Indem ich ihm Geld entziehe, schwäche ich ihn«, hielt Ge-ga entgegen. »Indem du einen Preis annimmst, gibst du zu verstehen, welches dein Preis ist«, fügte He-hei hinzu. »Indem ich jedweden Preis annehme, ganz gleich, wie hoch er dotiert ist, signalisiere ich, wie gleichgültig mir der jeweilige Preis und das mit ihm verbundene Geld sind«, erwiderte Ge-ga. »Indem du es zuläßt, daß dein guter Name mit so etwas Fragwürdigem in Verbindung gebracht werden darf, wie es ein Preis ist, schwächst du bei jenen Jüngeren, die zu dir aufblicken, den Sinn für Richtig und Falsch und damit ihren Widerstand gegen den Literaturbetrieb», mahnte He-hei. »Indem ich ein schlechtes Beispiel gebe, schwäche ich lediglich ihre Bereitschaft, zu jemandem aufzublicken«, versetzte Ge-ga. »Damit aber stärke ich ihren Eigensinn, die wichtigste Voraussetzung dafür, jedwedem Betrieb Widerstand entgegenzusetzen.«

Robert.Gernhardt: Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 Frankfurt: Fischer 2006, S. 1065.
Trainee (71) äußerte darauf am 20.01.19:
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