Die Wahrheit des böhmischen Sauerbratens
Erzählung
von Willibald
Warnung:
Langtext: 2500 Wörter, am Schluss das Bild einer zeigerlosen Uhr
Vorlauf
Wenn man älter wird, dann ist einem die Vergangenheit besonders präsent und manchmal mischen sich auch die Zeitebenen und das kann verwirren oder am eigenen Verstand zweifeln lassen.
Ich kann noch klar denken, trotz meiner achtundsechzig Jahre. Seit etwa neun Wochen führe ich wieder Tagebuch. Genauer: Ich spreche Erinnerungen und Reflexionen am Abend auf das Band. Dann fixiere ich sie morgens schriftlich. Und jeden Monat fasse ich die Notizen in einem Monatsordner zusammen. Ich erhoffe mir von dieser Arbeit eine Art Bestandsaufnahme, ich will Bilder aus der Vergangenheit festhalten, die sich mir anbieten und ergiebig erscheinen. Ich bleibe dabei so rational wie möglich.
Auch denke ich, dass meine erwachsenen Kinder diese Zeilen einmal lesen sollten, wenn ich tot bin. Ich war ein zurückgezogener Vater, mehr in meinem Beruf als in meiner Familie eingebunden. Vielleicht bestätigt sich in diesen Zeilen ihr Bild vom Vater und Biologen. Vielleicht spüren sie aber auch die Nähe, die ich mir im Lebensabend wünsche, aber nicht mehr erreichen kann. Auf jeden Fall schließen die "Notizen" einiges aus der Familiengeschichte auf, sie erhellen das Biotop, in dem wir agieren.
Ich denke, dass meinen Einträgen Zwischenüberschriften gut tun, sie vermitteln den Eindruck von Ordnung und die brauche ich, auch wenn man den Zusammenhang der Dinge intellektuell nicht hinreichend scharf fassen kann. Ich bin Biologe, ich schätze den Diskurs. Michael-Schröter Kunhardt habe ich mir vor einer Woche auf einer Tagung angehört: "Soft-Ware", Simulationsraum, Nahtodbereich, Sam Parnias Untersuchungen zu Reanimationen in der Kardiologie. Keineswegs, so meine ich, nicht einmal annähernd ein "Beweis" für ein Jenseits oder gar ein Leben nach dem Tod, allenfalls gibt es eine gewisse Plausibilität für Hypothesen. Wenn man denn schon überhaupt solche Vermutungen anstellen und bewerten will.
Biologie und Religion
Ich denke, mit Occams "Rasiermesser" und sparsamer, beobachtungsorientierter Erklärung kommt man gut zurecht: Immer schon war ich fasziniert von der empiriegestützten These, dass sich unser menschliches Handeln auf den "biologischen Imperativ" zurückführen lässt und dass Religion so auch zu erklären ist und dass man von der Existenz metaphysischer Instanzen absehen kann. In uns arbeitet die Software darauf hin, unsere Gene möglichst erfolgreich zu reduplizieren, das ist ein Programm der Evolution, ein Programm aus unserer Ur-Umwelt. Religion hat - so erklärt sich aus dem funktionalen Stellenwert ihre Entstehung - einen evolutionären Vorteil: Wer an ein Jenseits nach dem Tod glaubt, kämpft mit weniger Furcht für seinen Stamm und seine Kinder. Und wer an einen Gott glaubt, der alles vom einzelnen weiß, verborgene Taten und stillste Gedanken, der wird sich sehr viel moralischer und altruistischer und gruppenfreundlicher verhalten als derjenige, der die Existenz allwissender, belohnender und bestrafender Wesen für unbeweisbar oder für illusionär hält.
Ramachandran, Direktor des Center for Brain and Cognition in San Diego, hat bemerkenswerte Beobachtungen über den Zusammenhang von Schläfenlappenaktivitäten und mystischen Erfahrungen geliefert. In Trance, bei Meditation, bei Musik, dort, wo jemand auf Befragen erzählt, dass er eine Alleinheitserfahrung machen konnte oder dass er ein fremdes mächtiges Wesen sprechen hörte, lassen sich experimentell Schläfenlappenaktivitäten nachweisen. Der Schluss liegt nahe, dass unser Bewusstsein für solche Erfahrungen innerer und äußerer Bilder programmiert ist.
Natürlich sind solche mystischen Erfahrungen kein Beweis für oder gegen die Existenz einer mächtigen Instanz. Immerhin: In meiner Kindheit hatte ich einmal ein solches Erlebnis, das mir nicht aus dem Kopf geht und auf das ich später zurückkommen will.
Ich habe zwei Kinder, Cornelia und Arthur. Arthur hat zunächst Sprachen auf Lehramt studiert, dann Literaturwissenschaft und Linguistik, jetzt arbeitet er als Lektor in einem Verlag mit belletristischem uns fachwissenschaftlichem Programm. Er sprach mit mir einmal über die These, deutsche Literatur der klassischen Art, habe es vor allem mit dem "Weltinnenraum" zu tun, sie zeige gern "vorsprachliche Seelenlagen", verbinde Außenwelt und Innenwelt und habe sich die Sprache des Pietismus und der Mystik bewahrt. Er fasziniert mich, wenn er vom jungen Goethe spricht und dessen Entsetzen über das Erdbeben von Lissabon. Ein gütiger Gott, egal ob deistisch oder theistisch, der die Welt verfasst hat, ist dem Frankfurter ab diesem Zeitpunkt eine Vorstellung, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Nein, Welt und menschliches Leben ist – so meine ich - nichts anderes als die Selbstoffenbarung eines Erhabenen, eines Ungeheuren, eines Sublimen, das uns mit Fertigkeiten und Anlagen ausstattet und verbraucht. Wir Biologen haben gelernt, die Welt als ein sich selbst installierendes und entwickelndes Phänomen zu sehen. Es ist unabweisbar, dass jeder Eindruck von Ordnung und Struktur einem langwierigen Experimentieren der Welt mit sich selbst, einem kühlen „trial-and-error“-Verfahren zu verdanken ist. Eine helfende Hand, eine überlegene gütige Instanz, eine sorgende Vaterfigur, ein jenseitiger Alliierter, der mit uns Menschen etwas Besonderes vorhat, all dies dürfte Illusion sein, hilfreich gewiss, ein Mittel gegen die Angst des Menschen vor dem, was kommt, aber auch in Verzweiflung stürzend, wenn man Hilfe erhofft und sie nirgends aufscheint.
Nordfriedhof
Cornelia, meine Tochter, hat nach einem Au-pair-Aufenthalt in London einen Psychologen geheiratet, der etwa zwanzig Jahre älter ist als sie. Die Ehe ist kinderlos. Ich lebe in München in einer Eigentumswohnung im sechsten Stock. Bei Föhn sieht man die Alpen, der Petuelring führt an der Wohnanlage vorbei, seit einem Jahr ist ein Tunnel fertig. Der Lärm ist weg und erste Grünflächen sind dort zu sehen, wo früher die breite Straße zu der Autobahn München-Nürnberg bei uns vorbeiführte.
Eine Haushälterin habe ich, die untertags drei Stunden bei mir arbeitet, sie hält die Wäsche sauber, kauft ein, kocht. Sie darf meinen Schreibtisch nicht aufräumen, meine zwei Computer staube ich hin und wieder selber ab. Auf meinem Nachttischchen liegt eine Erzählung von Arno Schmidt, „Seelandschaft mit Poccahontas“. Manche Stellen habe ich mir angestrichen, diese hier auch: „Warum komm´ ei´m Lehrer jetzt so furchbar albern vor?“: „Weil man jetzt ihr formelhaftes, dabei dünkelvolles Wesen unbefangen überblickt.“ Meine Mutter stammt aus einer Familie von Gymnasialpädagogen. Meine Lehrer waren nur selten gut. Meine Frau ist vor zwanzig Jahren gestorben, manchmal besuche ich sie auf dem Nordfriedhof. Dort gibt es einen Grabstein in der Nähe. Er ist mir aufgefallen, weil er ein etwas ominöses Zitat enthält, auf dem Sockel findet sich ein Emailleschild mit folgenden Sätzen:
Da war nicht bloß das Bewusstsein, dass da etwas ist, vielmehr das bestürzende Gewahrsein von etwas unaussprechlich Gutem. Und nachdem es verschwunden war, beharrte die Erinnerung darauf, die Erfahrung von etwas Realem gemacht zu haben. Alles andere mag ein Traum sein, dieses nicht.
William James
Ich kann nicht sagen, dass das Alter Depressionen abmildert. Die körperliche Hinfälligkeit trägt nicht dazu bei. Ich liege oft in der Nacht wach, dann versuche ich meinen Herzschlag zu beruhigen, indem ich die Hand an die Halsschlagader führe und sie presse. Meistens hat dieser Griff Erfolg. Gezeigt hat ihn mir einmal die Großmutter, sie hatte ein nervöses Herz und meinte zu mir, ich sollte mich nicht beunruhigen, wenn ich so etwas geerbt hätte. Das Herzrasen, das sich manchmal einstellt, lasse sich so beherrschen.
Großmutter
Die Großmutter ist vor fünfzig Jahren gestorben, sie war eine breite, behäbige Frau. In Budweis geboren hatte sie ihren deutschen Mann dort in einem Gasthaus kennengelernt, wo man am Abend tanzte: "Hudba" hieß das. Mein Großvater konnte tschechisch, sein Vater hatte ein Gasthaus in Budweis, in dem Deutsche und Tschechen ihr Bier tranken, zwar an getrennten Tischen, aber immerhin unter der gleichen verräucherten Holzdecke.
Als der älteste der drei Brüder die Wirtschaft erbte, war Großvater nach Frankfurt gezogen, weil dort Verwandte lebten, die eine Zeitung herausgaben, den Bockenheimer Boten. Dort versuchte er sich mit einigem Erfolg als Lokalreporter, war Mitglied der Büchergilde Gutenberg, wählte die Sozialdemokraten, solange es sie noch gab und hatte drei oder vier Bände von Egon Erwin Kisch auf seinem Schreibtisch stehen.
Er bekam eine Anstellung in einer kleinen fränkischen Tageszeitung, in einer Kleinstadt am Main. Dort zogen die Großeltern hin, auch um in der Nähe ihrer Schwiegertochter und ihrer zwei Enkel zu sein. Außerdem gab es bei Egon Erwin Kisch einen Bericht über einen mittelalterlichen Klosterabt namens Johannes Butzbach, der als Student aus Miltenberg, der Stadt am Main, nach Prag und von dort wieder nach Franken zurückgewandert war.
Mein Vater wurde 1940 eingezogen und fiel in Frankreich. Meine Erinnerungen an ihn sind schwach, sein Bart kratzte, wenn er mir die Wange zum Gutenachtkuss hinhielt. Und jetzt stand seine Fotografie in einem silbernen Rahmen auf dem Nachtkästchen meiner Mutter. Meine Mutter liebte mich sehr, allerdings nur, bis ich in die Pubertät kam. Eine sehr schwierige Frau. Sie mochte die Stadt nicht, die vielen Fachwerkhäuser gingen ihr auf die Nerven, der rote Sandstein auch. Als sie hörte, dass man früher die Zierbalken in den Häusern mit Ochsenblut bestrichen hatte, war ihr Urteil über die Stadt und ihre Bewohner endgültig, sie habe "die Nase gestrichen voll" von diesen ochsenblutroten Einlegarbeiten.
1945 an einem Apriltag knallte es und die rote Sandsteinbrücke, die über den Main führte, lag in Trümmern. Ein paar Irrsinnige hatten die Zündeinrichtungen aktiviert, um die anrückenden Amerikaner zu stoppen. Großmutter verstand sich auf das Leben, sie machte frischen Eierlikör aus Schnaps und aufgeschlagenen Eiern. Falls die Amerikaner über eine Pontonbrücke kamen und wütend in die Häuser eindrangen, wollte sie ihnen einige "Stamperln" anbieten. Und falls die Russen nachkommen sollten, würde sie halt noch ein paar Hühner schlachten, die jetzt im Garten herumliefen. Außerdem: Irgendwoher hatte sie immer sehr gutes, abgehangenes Rindfleisch für den böhmischen Sauerbraten, die "Svíčková na smetaně".
An manchem Wochenende gab es diesen Braten in Rahmsoße, dazu Serviettenknödel, er schmeckte am Sonntag noch besser als am Samstag. Das musste an den Kräutern liegen, die sie am Main sammelte, zum Trocknen auslegte und die ihr Aroma über Nacht in der Soße entfalteten und sie noch feiner machten. Gern sang sie bei dieser Arbeit, eines ihrer Lieder ist mir im Gedächtnis geblieben, ich übersetze es hier aus dem Tschechischen:
Ja, du Land in weiter Ferne,
Ganz verhüllt sind deine Sterne,
Ferne ist der Kindheit Licht,
Und auf schwarzen Eulenschwingen
Fällt die Traurigkeit mich an
will mir durch die Schläfe dringen.
O, was hab ich nur getan?
Die Großmutter sang die Zeilen, man könnte sagen "inbrünstig", manchmal weinte sie sogar ein wenig dabei, aber dann wiederholte sie die Strophe, lächelte und tippte im Takt den zuhörenden Enkel in den Bauchnabel, der bei ihr "pupik" hieß. Und der Junge sollte eine getrocknete Wacholderbeere zerbeißen und dann den Finger in die Sahne tunken, die man für die "Svíčková" brauchte. Auch heute noch ist es so, dass der Kontrast der beiden Aromen sich nicht beißt, vielmehr - manchmal zelebriere ich so die Erinnerung an meine Großmutter - schmeckt dann Sahne auf eine Weise, dass es eine Wonne ist.
Burnus
Anfang Juni 1945, ich war zehn Jahre alt, saß ich in Trümmern der gesprengten Brücke am Main und schaute zum anderen Ufer hinüber, wo eine zerbombte Lokomotive stand. Die Großmutter hatte in ihr großes Taschentuch vier Knoten geknüpft und mir das Tuch auf den Kopf gelegt, als Schutz gegen die sengende Sonne. Sie hatte mir über die Wange gestreichelt, hatte "krasnei kluk, krasnei burnus" gemurmelt, tschechisch für „wunderbarer Junge, wunderbarer Burnus“ - ein Kopftuch ist alles andere als ein arabischer Kapuzenmantel, aber doch irgendwie damit verwandt - und sie war dann in die Wiese weggetaucht, um Kamillenblüten im Korb zu sammeln, die man später auf der Terrasse zum Trocknen auf einem Tuch auslegen würde.
Ein Burnus! Noch heute hat dieses Wort etwas, das meine Nüchternheit beiseite schiebt. Ich trug einen Burnus - wie ein Araber. Als Araber durchquerte man die Wüste und kannte die geheimen Wasserstellen und die grünen Oasen. "Kara ben Nemsi" war mir ein Begriff, der Großvater hatte mir die grünen Karl-May-Bände geschenkt, auf einem Umschlagbild schauten zwei glühende Augen unter einem Burnus hervor.
Hier die Oase am Main hatte flaschengrünes Riedgras und ein Steilufer und einen morschen Holzsteg, der bei der Detonation seltsamerweise nicht getroffen wurde. Auf dem musste man seine Schritte vorsichtig setzen. Und dort drüben erhob sich die dicke Weide, genauso kannte ich sie aus dem Märchenbuch mit den Holzschnitten von Sigrid Funkel. In der Weide saßen zwei Hexen und schüttelten ihre schilfgelben Haare, verwundert oder höhnisch. Besser man schaute nicht genauer hin. Auch nicht auf die schwarze Lokomotive. Lauter Ungeheuer.
Ich nahm einen dürren Ast, betrat vorsichtig die Bretter des Holzstegs und ging an seinem Ende in die Hocke, dann auf die Knie. Ich besah lange mein Spiegelbild, berührte dann mit dem Ast das geknotete Tuch im Wasser und das Gesicht. Blinkende Punkte sprangen über den Spiegel. Unter den Knien bewegte es sich leise: Der Fluss tätschelte schmatzend das Ufer und alle Konturen ringsum schienen sich aufzulösen. Ich glaube noch sehr genau zu wissen, dass ich in diesem Moment das Gleichgewicht verlor oder dass es mich verloren gab. Und dass es mir nichts ausmachte, nichts ausmachen würde, in den silbernen Spiegel des Flusses einzutauchen.
Noch genauer, es war so, wie es manchmal in der Nacht bei mir abläuft. Das Herz rast, dann stockt es und dann ist keine Angst mehr da, es ist sehr ruhig und sehr warm. Dann kommt der Atem wieder zurück. Aber es ist eine Phase, von der ich hoffe, dass sie dem Tod vorausgeht. Denn dann ist er wohl nicht schrecklich. Mein zwei Jahre jüngerer Bruder hat etwas ähnliches erzählt: Er wäre einmal beinahe ertrunken, in knietiefem Wasser hatte ihn eine Flutwelle umgeworfen und er lag mit dem Gesicht am Grund. Als man ihn nach kurzer Zeit herauszog, wehrte er sich gegen die Rettung. Tröstlich. Im Fluss eintauchen, im Fluss aufgehen.
In der Schwebe - kurz bevor der Fluss mich nehmen würde - spürte ich, dass etwas hinter mir stand, etwas streichelte über die Flaumhaare in meinem Nacken, es streichelte über den Hinterkopf, es zupfte an einem Knoten des Burnus. Wahrscheinlich lächelte es. Am besten, man bewegte sich nicht und hielt den Nacken gebeugt, damit die Liebkosungen des Unsichtbaren nicht aufhörten. Und man atmete am besten ganz ruhig und schloss die Augen, solange das Unsichtbare, das Erhabene zu spüren war.
Als ich die Augen öffnete, fasste ich nach dem Burnus. Er war nicht verrutscht. Eine der beiden Baumhexen saß nicht weit von mir, sah mich an und schien auf etwas zu warten. Sie schüttelte ihre schilfgelben Haare, als ich aufstand und über den Steg zur Großmutter zurückging. Sie war noch nicht da, die Zeit des Flusses.
Karl B., 25.11. 2003
Nachtrag
Ungefähr ein Jahr nach Vaters Tod im Schwabinger Krankenhaus ein paar Gedanken und Anmerkungen. Ich fand Tonbänder in Vaters Arbeitszimmer, die "Notizen" hatte er handschriftlich verfasst, mit dem Titel "Die Wahrheit des Sauerbratens" versehen, "böhmisch" hatte er mit Bleistift ergänzt, und wollte sie offensichtlich im Computerordner "Privates" einsetzen.
Es hat mich berührt, wie hier in Vaters Schreiben der nüchterne, rationale Code den Einstieg beherrscht und wie er dann in der Großmutterepisode und in der Mainepisode familiärer und - fast traut man es sich bei Vater nicht zu sagen - poetischer wird.
Cornelia hat kurz die Frauenfiguren in Vaters Text angesprochen. Vaters Großmutter haben wir nur oberflächlich aus Erzählungen gekannt. Gekannt haben wir Vaters Vorliebe für ein tschechisch-böhmisches Lokal "Zum heiligen Wenzel" in der Amalienstraße, in dem er seinen Sauerbraten in Sahnesoße mit Wacholderbeeren und Serviettenknödeln aß. Es scheint eine tröstliche, wärmende Kraft in der Großmutter gewirkt zu haben. Es könnte gut sein, dass uns die Welt solche kleinen "Geniste" bereithält, in die wir uns mental zurückziehen, wenn wir Trost suchen. Es kann gut sein, dass unsere Imagination sich daran orientiert und dass unsere Literatur sich solche mütterlich wärmenden Instanzen in der Natur erfindet oder ertastet.
Unsere Klassiker haben danach gesucht und manchmal finden sie im schrecklich Erhabenen das Lichte. Ob das nun eine Projektion aus der Erfahrung familiärer Fürsorge ist, ob wir biologisch auf tröstliche Bilder früh geprägt und angelegt sind, ob wir mit unserem Bewusstsein die indifferente Außenwelt als fürsorgliche Welt oder als Spielplatz einer gütigen Instanz re-interpretieren. Seltsam berührend ist Vaters Text auf jeden Fall.
Den esoterischen platten Code hat er vermieden, er war ihm zeitlebens zuwider, auch im hohen Alter. Die gar nicht spektakuläre Mainepisode ist ein kleines mystisches Erlebnis. Nicht überprüfbar, ein individuelles Erlebnis eben. Allenfalls literarpsychologisch bis zu einem gewissen Grad intersubjektiv überprüfbar: Die Zeilen aktivieren ein märchenhaftes Urmuster, eine mythische Weltsicht, auch bei mir. Samuel Taylor Coleridge sprach von einer „willing suspension of disbelief“ und meinte damit, dass unsere Skepsis und unser nüchterner Verstand manchmal nicht greift, gar nicht greifen soll, wir wollen einen "dispense of disbelief", auch als sonst sehr rationale Menschen.
Dieses freiwillige Aufgeben von Unglaube und Skepsis, die Resonanz von Ereignissen und Bildern in unsererem mentalen Raum sagt vielleicht etwas über das menschliche Bewusstsein aus. Es gibt da einen Schlüssel in Texten und in unserem Empfinden, der Bilderwelten aufschließt, deren Existenz man zu kennen glaubt. Was ist in diesem Bereich "Wahrheit", was hat man unter "Wirklichkeit" zu verstehen?
Sollte Vater diese Zeilen lesen können - die Vorstellung macht mich lächeln - so weiß er die Antwort, vielleicht. Gut möglich, dass er dann zu unserer Urgroßmutter geht, dass sie ihren böhmischen Eulenschwing-Blues zelebrieren und dass sie dann schwelgen in Svíčková-Reminiszenzen, ohne Ende.
Arthur B., 15.10. 2006
Langtext: 2500 Wörter, am Schluss das Bild einer zeigerlosen Uhr
Vorlauf
Wenn man älter wird, dann ist einem die Vergangenheit besonders präsent und manchmal mischen sich auch die Zeitebenen und das kann verwirren oder am eigenen Verstand zweifeln lassen.
Ich kann noch klar denken, trotz meiner achtundsechzig Jahre. Seit etwa neun Wochen führe ich wieder Tagebuch. Genauer: Ich spreche Erinnerungen und Reflexionen am Abend auf das Band. Dann fixiere ich sie morgens schriftlich. Und jeden Monat fasse ich die Notizen in einem Monatsordner zusammen. Ich erhoffe mir von dieser Arbeit eine Art Bestandsaufnahme, ich will Bilder aus der Vergangenheit festhalten, die sich mir anbieten und ergiebig erscheinen. Ich bleibe dabei so rational wie möglich.
Auch denke ich, dass meine erwachsenen Kinder diese Zeilen einmal lesen sollten, wenn ich tot bin. Ich war ein zurückgezogener Vater, mehr in meinem Beruf als in meiner Familie eingebunden. Vielleicht bestätigt sich in diesen Zeilen ihr Bild vom Vater und Biologen. Vielleicht spüren sie aber auch die Nähe, die ich mir im Lebensabend wünsche, aber nicht mehr erreichen kann. Auf jeden Fall schließen die "Notizen" einiges aus der Familiengeschichte auf, sie erhellen das Biotop, in dem wir agieren.
Ich denke, dass meinen Einträgen Zwischenüberschriften gut tun, sie vermitteln den Eindruck von Ordnung und die brauche ich, auch wenn man den Zusammenhang der Dinge intellektuell nicht hinreichend scharf fassen kann. Ich bin Biologe, ich schätze den Diskurs. Michael-Schröter Kunhardt habe ich mir vor einer Woche auf einer Tagung angehört: "Soft-Ware", Simulationsraum, Nahtodbereich, Sam Parnias Untersuchungen zu Reanimationen in der Kardiologie. Keineswegs, so meine ich, nicht einmal annähernd ein "Beweis" für ein Jenseits oder gar ein Leben nach dem Tod, allenfalls gibt es eine gewisse Plausibilität für Hypothesen. Wenn man denn schon überhaupt solche Vermutungen anstellen und bewerten will.
Biologie und Religion
Ich denke, mit Occams "Rasiermesser" und sparsamer, beobachtungsorientierter Erklärung kommt man gut zurecht: Immer schon war ich fasziniert von der empiriegestützten These, dass sich unser menschliches Handeln auf den "biologischen Imperativ" zurückführen lässt und dass Religion so auch zu erklären ist und dass man von der Existenz metaphysischer Instanzen absehen kann. In uns arbeitet die Software darauf hin, unsere Gene möglichst erfolgreich zu reduplizieren, das ist ein Programm der Evolution, ein Programm aus unserer Ur-Umwelt. Religion hat - so erklärt sich aus dem funktionalen Stellenwert ihre Entstehung - einen evolutionären Vorteil: Wer an ein Jenseits nach dem Tod glaubt, kämpft mit weniger Furcht für seinen Stamm und seine Kinder. Und wer an einen Gott glaubt, der alles vom einzelnen weiß, verborgene Taten und stillste Gedanken, der wird sich sehr viel moralischer und altruistischer und gruppenfreundlicher verhalten als derjenige, der die Existenz allwissender, belohnender und bestrafender Wesen für unbeweisbar oder für illusionär hält.
Ramachandran, Direktor des Center for Brain and Cognition in San Diego, hat bemerkenswerte Beobachtungen über den Zusammenhang von Schläfenlappenaktivitäten und mystischen Erfahrungen geliefert. In Trance, bei Meditation, bei Musik, dort, wo jemand auf Befragen erzählt, dass er eine Alleinheitserfahrung machen konnte oder dass er ein fremdes mächtiges Wesen sprechen hörte, lassen sich experimentell Schläfenlappenaktivitäten nachweisen. Der Schluss liegt nahe, dass unser Bewusstsein für solche Erfahrungen innerer und äußerer Bilder programmiert ist.
Natürlich sind solche mystischen Erfahrungen kein Beweis für oder gegen die Existenz einer mächtigen Instanz. Immerhin: In meiner Kindheit hatte ich einmal ein solches Erlebnis, das mir nicht aus dem Kopf geht und auf das ich später zurückkommen will.
Ich habe zwei Kinder, Cornelia und Arthur. Arthur hat zunächst Sprachen auf Lehramt studiert, dann Literaturwissenschaft und Linguistik, jetzt arbeitet er als Lektor in einem Verlag mit belletristischem uns fachwissenschaftlichem Programm. Er sprach mit mir einmal über die These, deutsche Literatur der klassischen Art, habe es vor allem mit dem "Weltinnenraum" zu tun, sie zeige gern "vorsprachliche Seelenlagen", verbinde Außenwelt und Innenwelt und habe sich die Sprache des Pietismus und der Mystik bewahrt. Er fasziniert mich, wenn er vom jungen Goethe spricht und dessen Entsetzen über das Erdbeben von Lissabon. Ein gütiger Gott, egal ob deistisch oder theistisch, der die Welt verfasst hat, ist dem Frankfurter ab diesem Zeitpunkt eine Vorstellung, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Nein, Welt und menschliches Leben ist – so meine ich - nichts anderes als die Selbstoffenbarung eines Erhabenen, eines Ungeheuren, eines Sublimen, das uns mit Fertigkeiten und Anlagen ausstattet und verbraucht. Wir Biologen haben gelernt, die Welt als ein sich selbst installierendes und entwickelndes Phänomen zu sehen. Es ist unabweisbar, dass jeder Eindruck von Ordnung und Struktur einem langwierigen Experimentieren der Welt mit sich selbst, einem kühlen „trial-and-error“-Verfahren zu verdanken ist. Eine helfende Hand, eine überlegene gütige Instanz, eine sorgende Vaterfigur, ein jenseitiger Alliierter, der mit uns Menschen etwas Besonderes vorhat, all dies dürfte Illusion sein, hilfreich gewiss, ein Mittel gegen die Angst des Menschen vor dem, was kommt, aber auch in Verzweiflung stürzend, wenn man Hilfe erhofft und sie nirgends aufscheint.
Nordfriedhof
Cornelia, meine Tochter, hat nach einem Au-pair-Aufenthalt in London einen Psychologen geheiratet, der etwa zwanzig Jahre älter ist als sie. Die Ehe ist kinderlos. Ich lebe in München in einer Eigentumswohnung im sechsten Stock. Bei Föhn sieht man die Alpen, der Petuelring führt an der Wohnanlage vorbei, seit einem Jahr ist ein Tunnel fertig. Der Lärm ist weg und erste Grünflächen sind dort zu sehen, wo früher die breite Straße zu der Autobahn München-Nürnberg bei uns vorbeiführte.
Eine Haushälterin habe ich, die untertags drei Stunden bei mir arbeitet, sie hält die Wäsche sauber, kauft ein, kocht. Sie darf meinen Schreibtisch nicht aufräumen, meine zwei Computer staube ich hin und wieder selber ab. Auf meinem Nachttischchen liegt eine Erzählung von Arno Schmidt, „Seelandschaft mit Poccahontas“. Manche Stellen habe ich mir angestrichen, diese hier auch: „Warum komm´ ei´m Lehrer jetzt so furchbar albern vor?“: „Weil man jetzt ihr formelhaftes, dabei dünkelvolles Wesen unbefangen überblickt.“ Meine Mutter stammt aus einer Familie von Gymnasialpädagogen. Meine Lehrer waren nur selten gut. Meine Frau ist vor zwanzig Jahren gestorben, manchmal besuche ich sie auf dem Nordfriedhof. Dort gibt es einen Grabstein in der Nähe. Er ist mir aufgefallen, weil er ein etwas ominöses Zitat enthält, auf dem Sockel findet sich ein Emailleschild mit folgenden Sätzen:
Da war nicht bloß das Bewusstsein, dass da etwas ist, vielmehr das bestürzende Gewahrsein von etwas unaussprechlich Gutem. Und nachdem es verschwunden war, beharrte die Erinnerung darauf, die Erfahrung von etwas Realem gemacht zu haben. Alles andere mag ein Traum sein, dieses nicht.
William James
Ich kann nicht sagen, dass das Alter Depressionen abmildert. Die körperliche Hinfälligkeit trägt nicht dazu bei. Ich liege oft in der Nacht wach, dann versuche ich meinen Herzschlag zu beruhigen, indem ich die Hand an die Halsschlagader führe und sie presse. Meistens hat dieser Griff Erfolg. Gezeigt hat ihn mir einmal die Großmutter, sie hatte ein nervöses Herz und meinte zu mir, ich sollte mich nicht beunruhigen, wenn ich so etwas geerbt hätte. Das Herzrasen, das sich manchmal einstellt, lasse sich so beherrschen.
Großmutter
Die Großmutter ist vor fünfzig Jahren gestorben, sie war eine breite, behäbige Frau. In Budweis geboren hatte sie ihren deutschen Mann dort in einem Gasthaus kennengelernt, wo man am Abend tanzte: "Hudba" hieß das. Mein Großvater konnte tschechisch, sein Vater hatte ein Gasthaus in Budweis, in dem Deutsche und Tschechen ihr Bier tranken, zwar an getrennten Tischen, aber immerhin unter der gleichen verräucherten Holzdecke.
Als der älteste der drei Brüder die Wirtschaft erbte, war Großvater nach Frankfurt gezogen, weil dort Verwandte lebten, die eine Zeitung herausgaben, den Bockenheimer Boten. Dort versuchte er sich mit einigem Erfolg als Lokalreporter, war Mitglied der Büchergilde Gutenberg, wählte die Sozialdemokraten, solange es sie noch gab und hatte drei oder vier Bände von Egon Erwin Kisch auf seinem Schreibtisch stehen.
Er bekam eine Anstellung in einer kleinen fränkischen Tageszeitung, in einer Kleinstadt am Main. Dort zogen die Großeltern hin, auch um in der Nähe ihrer Schwiegertochter und ihrer zwei Enkel zu sein. Außerdem gab es bei Egon Erwin Kisch einen Bericht über einen mittelalterlichen Klosterabt namens Johannes Butzbach, der als Student aus Miltenberg, der Stadt am Main, nach Prag und von dort wieder nach Franken zurückgewandert war.
Mein Vater wurde 1940 eingezogen und fiel in Frankreich. Meine Erinnerungen an ihn sind schwach, sein Bart kratzte, wenn er mir die Wange zum Gutenachtkuss hinhielt. Und jetzt stand seine Fotografie in einem silbernen Rahmen auf dem Nachtkästchen meiner Mutter. Meine Mutter liebte mich sehr, allerdings nur, bis ich in die Pubertät kam. Eine sehr schwierige Frau. Sie mochte die Stadt nicht, die vielen Fachwerkhäuser gingen ihr auf die Nerven, der rote Sandstein auch. Als sie hörte, dass man früher die Zierbalken in den Häusern mit Ochsenblut bestrichen hatte, war ihr Urteil über die Stadt und ihre Bewohner endgültig, sie habe "die Nase gestrichen voll" von diesen ochsenblutroten Einlegarbeiten.
1945 an einem Apriltag knallte es und die rote Sandsteinbrücke, die über den Main führte, lag in Trümmern. Ein paar Irrsinnige hatten die Zündeinrichtungen aktiviert, um die anrückenden Amerikaner zu stoppen. Großmutter verstand sich auf das Leben, sie machte frischen Eierlikör aus Schnaps und aufgeschlagenen Eiern. Falls die Amerikaner über eine Pontonbrücke kamen und wütend in die Häuser eindrangen, wollte sie ihnen einige "Stamperln" anbieten. Und falls die Russen nachkommen sollten, würde sie halt noch ein paar Hühner schlachten, die jetzt im Garten herumliefen. Außerdem: Irgendwoher hatte sie immer sehr gutes, abgehangenes Rindfleisch für den böhmischen Sauerbraten, die "Svíčková na smetaně".
An manchem Wochenende gab es diesen Braten in Rahmsoße, dazu Serviettenknödel, er schmeckte am Sonntag noch besser als am Samstag. Das musste an den Kräutern liegen, die sie am Main sammelte, zum Trocknen auslegte und die ihr Aroma über Nacht in der Soße entfalteten und sie noch feiner machten. Gern sang sie bei dieser Arbeit, eines ihrer Lieder ist mir im Gedächtnis geblieben, ich übersetze es hier aus dem Tschechischen:
Ja, du Land in weiter Ferne,
Ganz verhüllt sind deine Sterne,
Ferne ist der Kindheit Licht,
Und auf schwarzen Eulenschwingen
Fällt die Traurigkeit mich an
will mir durch die Schläfe dringen.
O, was hab ich nur getan?
Die Großmutter sang die Zeilen, man könnte sagen "inbrünstig", manchmal weinte sie sogar ein wenig dabei, aber dann wiederholte sie die Strophe, lächelte und tippte im Takt den zuhörenden Enkel in den Bauchnabel, der bei ihr "pupik" hieß. Und der Junge sollte eine getrocknete Wacholderbeere zerbeißen und dann den Finger in die Sahne tunken, die man für die "Svíčková" brauchte. Auch heute noch ist es so, dass der Kontrast der beiden Aromen sich nicht beißt, vielmehr - manchmal zelebriere ich so die Erinnerung an meine Großmutter - schmeckt dann Sahne auf eine Weise, dass es eine Wonne ist.
Burnus
Anfang Juni 1945, ich war zehn Jahre alt, saß ich in Trümmern der gesprengten Brücke am Main und schaute zum anderen Ufer hinüber, wo eine zerbombte Lokomotive stand. Die Großmutter hatte in ihr großes Taschentuch vier Knoten geknüpft und mir das Tuch auf den Kopf gelegt, als Schutz gegen die sengende Sonne. Sie hatte mir über die Wange gestreichelt, hatte "krasnei kluk, krasnei burnus" gemurmelt, tschechisch für „wunderbarer Junge, wunderbarer Burnus“ - ein Kopftuch ist alles andere als ein arabischer Kapuzenmantel, aber doch irgendwie damit verwandt - und sie war dann in die Wiese weggetaucht, um Kamillenblüten im Korb zu sammeln, die man später auf der Terrasse zum Trocknen auf einem Tuch auslegen würde.
Ein Burnus! Noch heute hat dieses Wort etwas, das meine Nüchternheit beiseite schiebt. Ich trug einen Burnus - wie ein Araber. Als Araber durchquerte man die Wüste und kannte die geheimen Wasserstellen und die grünen Oasen. "Kara ben Nemsi" war mir ein Begriff, der Großvater hatte mir die grünen Karl-May-Bände geschenkt, auf einem Umschlagbild schauten zwei glühende Augen unter einem Burnus hervor.
Hier die Oase am Main hatte flaschengrünes Riedgras und ein Steilufer und einen morschen Holzsteg, der bei der Detonation seltsamerweise nicht getroffen wurde. Auf dem musste man seine Schritte vorsichtig setzen. Und dort drüben erhob sich die dicke Weide, genauso kannte ich sie aus dem Märchenbuch mit den Holzschnitten von Sigrid Funkel. In der Weide saßen zwei Hexen und schüttelten ihre schilfgelben Haare, verwundert oder höhnisch. Besser man schaute nicht genauer hin. Auch nicht auf die schwarze Lokomotive. Lauter Ungeheuer.
Ich nahm einen dürren Ast, betrat vorsichtig die Bretter des Holzstegs und ging an seinem Ende in die Hocke, dann auf die Knie. Ich besah lange mein Spiegelbild, berührte dann mit dem Ast das geknotete Tuch im Wasser und das Gesicht. Blinkende Punkte sprangen über den Spiegel. Unter den Knien bewegte es sich leise: Der Fluss tätschelte schmatzend das Ufer und alle Konturen ringsum schienen sich aufzulösen. Ich glaube noch sehr genau zu wissen, dass ich in diesem Moment das Gleichgewicht verlor oder dass es mich verloren gab. Und dass es mir nichts ausmachte, nichts ausmachen würde, in den silbernen Spiegel des Flusses einzutauchen.
Noch genauer, es war so, wie es manchmal in der Nacht bei mir abläuft. Das Herz rast, dann stockt es und dann ist keine Angst mehr da, es ist sehr ruhig und sehr warm. Dann kommt der Atem wieder zurück. Aber es ist eine Phase, von der ich hoffe, dass sie dem Tod vorausgeht. Denn dann ist er wohl nicht schrecklich. Mein zwei Jahre jüngerer Bruder hat etwas ähnliches erzählt: Er wäre einmal beinahe ertrunken, in knietiefem Wasser hatte ihn eine Flutwelle umgeworfen und er lag mit dem Gesicht am Grund. Als man ihn nach kurzer Zeit herauszog, wehrte er sich gegen die Rettung. Tröstlich. Im Fluss eintauchen, im Fluss aufgehen.
In der Schwebe - kurz bevor der Fluss mich nehmen würde - spürte ich, dass etwas hinter mir stand, etwas streichelte über die Flaumhaare in meinem Nacken, es streichelte über den Hinterkopf, es zupfte an einem Knoten des Burnus. Wahrscheinlich lächelte es. Am besten, man bewegte sich nicht und hielt den Nacken gebeugt, damit die Liebkosungen des Unsichtbaren nicht aufhörten. Und man atmete am besten ganz ruhig und schloss die Augen, solange das Unsichtbare, das Erhabene zu spüren war.
Als ich die Augen öffnete, fasste ich nach dem Burnus. Er war nicht verrutscht. Eine der beiden Baumhexen saß nicht weit von mir, sah mich an und schien auf etwas zu warten. Sie schüttelte ihre schilfgelben Haare, als ich aufstand und über den Steg zur Großmutter zurückging. Sie war noch nicht da, die Zeit des Flusses.
Karl B., 25.11. 2003
Nachtrag
Ungefähr ein Jahr nach Vaters Tod im Schwabinger Krankenhaus ein paar Gedanken und Anmerkungen. Ich fand Tonbänder in Vaters Arbeitszimmer, die "Notizen" hatte er handschriftlich verfasst, mit dem Titel "Die Wahrheit des Sauerbratens" versehen, "böhmisch" hatte er mit Bleistift ergänzt, und wollte sie offensichtlich im Computerordner "Privates" einsetzen.
Es hat mich berührt, wie hier in Vaters Schreiben der nüchterne, rationale Code den Einstieg beherrscht und wie er dann in der Großmutterepisode und in der Mainepisode familiärer und - fast traut man es sich bei Vater nicht zu sagen - poetischer wird.
Cornelia hat kurz die Frauenfiguren in Vaters Text angesprochen. Vaters Großmutter haben wir nur oberflächlich aus Erzählungen gekannt. Gekannt haben wir Vaters Vorliebe für ein tschechisch-böhmisches Lokal "Zum heiligen Wenzel" in der Amalienstraße, in dem er seinen Sauerbraten in Sahnesoße mit Wacholderbeeren und Serviettenknödeln aß. Es scheint eine tröstliche, wärmende Kraft in der Großmutter gewirkt zu haben. Es könnte gut sein, dass uns die Welt solche kleinen "Geniste" bereithält, in die wir uns mental zurückziehen, wenn wir Trost suchen. Es kann gut sein, dass unsere Imagination sich daran orientiert und dass unsere Literatur sich solche mütterlich wärmenden Instanzen in der Natur erfindet oder ertastet.
Unsere Klassiker haben danach gesucht und manchmal finden sie im schrecklich Erhabenen das Lichte. Ob das nun eine Projektion aus der Erfahrung familiärer Fürsorge ist, ob wir biologisch auf tröstliche Bilder früh geprägt und angelegt sind, ob wir mit unserem Bewusstsein die indifferente Außenwelt als fürsorgliche Welt oder als Spielplatz einer gütigen Instanz re-interpretieren. Seltsam berührend ist Vaters Text auf jeden Fall.
Den esoterischen platten Code hat er vermieden, er war ihm zeitlebens zuwider, auch im hohen Alter. Die gar nicht spektakuläre Mainepisode ist ein kleines mystisches Erlebnis. Nicht überprüfbar, ein individuelles Erlebnis eben. Allenfalls literarpsychologisch bis zu einem gewissen Grad intersubjektiv überprüfbar: Die Zeilen aktivieren ein märchenhaftes Urmuster, eine mythische Weltsicht, auch bei mir. Samuel Taylor Coleridge sprach von einer „willing suspension of disbelief“ und meinte damit, dass unsere Skepsis und unser nüchterner Verstand manchmal nicht greift, gar nicht greifen soll, wir wollen einen "dispense of disbelief", auch als sonst sehr rationale Menschen.
Dieses freiwillige Aufgeben von Unglaube und Skepsis, die Resonanz von Ereignissen und Bildern in unsererem mentalen Raum sagt vielleicht etwas über das menschliche Bewusstsein aus. Es gibt da einen Schlüssel in Texten und in unserem Empfinden, der Bilderwelten aufschließt, deren Existenz man zu kennen glaubt. Was ist in diesem Bereich "Wahrheit", was hat man unter "Wirklichkeit" zu verstehen?
Sollte Vater diese Zeilen lesen können - die Vorstellung macht mich lächeln - so weiß er die Antwort, vielleicht. Gut möglich, dass er dann zu unserer Urgroßmutter geht, dass sie ihren böhmischen Eulenschwing-Blues zelebrieren und dass sie dann schwelgen in Svíčková-Reminiszenzen, ohne Ende.
Arthur B., 15.10. 2006
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