Mindblowing Poems

Short Story zum Thema Liebeszauber

von  Willibald

Illustration zum Text
Rezzo

Mittwochs diese Doppelstunde Leistungskurs Deutsch beim Doc Schneider, Abiturtraining: Ein barockes Sonett von Gryphius im Vergleich mit einem Gedicht von Trakl. Abitur-Aufgabe in Baden-Würtemberg gestellt. Schnarchig, aber nicht ganz schnarchig.

Dann stehen wir zusammen im Chemiehof, fünf Minuten für die Zigarettenpause, Rezzo tippt mir an die Stirn, an die Brust: „Was Lyrisches, was Poetisches, Sven!”
"Hä?"
„Was Lyrisches, was Poetisches brauch ich von dir, Du komischer Vogel, für die Schülerzeitung. Du versteckst doch immer deine Songtexte hinten im Ordner. Manche sagen, du machst doofe Gedichte. Ich sage mit Doc Schneider: Der Poet macht Wortgeschenke. Du stellst dich den Anforderungen", er macht eine Pause, der Stinkstiefel, " in Lyrik und in Prosa. Stinklangweilige Kommentare und Berichte haben wir genug auf Lager. Stelle dich.”

Er gluckst, der Blödmann, dann fächelt er mit der Hand vor meinem Gesicht: Einfach drauflos schreiben. Den Alltag skizzieren, eine Szene aus der - er kichert - Adoleszenz. Auch im Leben von öden Langweilern stecke Poesie.
"Wie witzig", sage ich.
"Nö", meint er, „ist ernst, probier es. Vielleicht ein Gedicht, vielleicht eine short story.”
"Ok, mal gucken."
„Guck mal nicht so lang, Sven.  Das Leben vor dem Abitur gleicht einer Rennebahn.”
"O ja", knurre ich, „aber immerhin mit Zäsur, vor gleicht.” Und gucke verstohlen, ob Mirjam das gehört hat. Sie hat.
„Schon, schon“, sagte Rezzo, „aber die  Zäsur" - er spitzt den Mund, das Frettchen, und dann reimt er auch noch - "kommt nach Abitur.“
Mirjam grinst.

Nachmittags ging´s zum Aldi, wollte eine Flasche Kentucky Bourbon Whiskey kaufen. Rezzo sagt, Whiskey inspiriere ihn, da schreiben sich seine Sachen für die Schülerzeitung wie von selbst. Rezzo feiert sich dann: Er speichert seinen Text ab, fährt den Computer runter, macht in seinem Zimmer ein Feuer, tanzt darum herum, singt „loved” und die Nachbarn klopfen an die Wände den Rhythmus.

Rezzo, der Große. Er ist wirklich groß. Key Account Manager sozusagen. Wer kam auf die Idee, die Schülerzeitung "JBB-Jetzt” ins Netz zu stellen und den Direktor zu überzeugen? Eine aktuelle Johannes-Butzbach-Gymnasium-Zeitung mit Forum? Betreuungslehrer und Schüler stellen jeden Monat eine neue Ausgabe ins Netz. Beim Forum geht man ähnlich vor: Ein Gremium überprüft, ob die Einsendungen und Zuschriften publiziert werden können. Wer ist der geniale Ober-Macher? Rezzo. Chefredakteur, flache Mimik, abgrundhohe Effizienz.
Seine Redakteure schreiben, wenn sie inspiriert sind. Und die Leser können Leserbriefe direkt in die Forum-Kontaktbox schicken, wenn sie beim Lesen inspiriert wurden. Bloß, dass kaum einer schreibt. Low Performer, mentale Selbstaktivierung gleich Null.

Auf schwarzen Eulenschwingen

Beim Aldi guckte mich die Kassiererin an, kaum älter als ich, ich gucke sie an.
„Du bist schon über sechzehn? Whiskey an Jugendliche, das ist nicht drin.”
"Ich bin Sven. Sven Rappe. Achtzehn. Du kennst mich doch vom Sehen. Du gehst öfters mit Mirjam zum `Da Toni´."
Sie lächelt: "Klar, aber ich will deinen Ausweis trotzdem. Das macht sich gut beim Chef. Er beobachtet durch den Spiegel die Kasse, Probleme mit dem Aufsichtsamt. Du glaubst gar nicht, wieviel Jungs von fünfzehn oder sechzehn hier Alkohol holen wollen. Zum Mädchen Anbaggern. “

„Oh, wie blöd”, sagte ich gedehnt-ironisch und schaute verstohlen in den Einwegspiegel, zeigte ihr meinen Ausweis und zog mit meiner Flasche in der Plastiktüte ab. Zuhause setzte ich mich rezzo-like in die Nähe des Computers an den Schreibtisch. Mineralwasser, Glas, Whiskey-Flasche. Bin schon längst nicht mehr sechzehn, weiß aber noch gut, wie das ist. Du gehst an den Mädchen vorbei, die kichern plötzlich, kriegen Schluckauf, verdrehen die Augen. Du wirst rot. – Du gehst in den Supermarkt. Die Kassiererin mustert schweigend die Flasche in deiner Hand. Du ziehst belämmert ab.  – Und die Damen in der Kassenschlange gucken dir nach, fixieren deine rosa Ohren und du spürst, wie sie rot und röter werden. „Adoleszenz”, hatte unser Biologielehrer Peter Wissmattinger doziert, „das ist Hormonrasen, kordiale Mikro-Spasmen, rosa Ohrwascheln.” "Ohrwascheln" - aus Oberbayern der Mann, in Unterfranken aufgeschlagen. Hat eine Sportlerlaufbahn, hinter sich, sieht man ihm noch an.

Ich schenkte mir ein, schaute in das Glas, 1 ccm Whiskey und 5 ccm Selters mischen sich.

Und da kam es rabenschwarz und rosa über mich: Solo sein, der Main, ein lyrisches Ich, Sätze wie „Mag uns wer?”, Verszeilen, richtige, mit Rhythmus und Reim. Clemens Brentano, Freiherr von Eichendorff, der barocke Gryphius, ein schlanker Heine, die ganzen Kerle aus dem Kursordner, blickten aus dem Glas, zwinkerten.

Ich brauchte eine Stunde, Rohentwurf, dann Feilen und Polieren; dann war es vorläufig fertig. Ich lud den Text ins offene Rezzo-Netz, Lyrik ist unbedenklich, Sparte "Mind-blowing Poems" und las ihn mit Vergnügen, diesen Text, meinen Text.

Sterne, dünn glitzernd

Ich blicke in die weite Ferne,
am Himmel glitzern dünn die Sterne,
Ganz solo sitze ich am Main.
Mag mich wer? Ich glaube: nein.

Und auf schwarzen Eulenschwingen
fällt die Traurigkeit mich an,
will mir in die Schläfe dringen.
Fluch Dir, Vogel, bist kein Wahn!

O Du, der diese Zeilen liest,
Und schwarze Wesen vor Dir siehst:
Du fühlst wie ich, hörst Klagerufe?
Dein Lächeln stellt mich auf die Hufe!
S. R.


Kopfkino

Hufe   und  R. -  Rappe. Gut, was? Ich schaute mir eine halbe Stunde die drei Strophen auf dem Bildschirm an, von oben nach unten, von unten nach oben: „Lyrisches Ich”, melancholisch, sitzt am Main. Eulenvogelattacke, richtig trist, irgendwie metaphorisch. Männliche Kadenz, weibliche Kadenz, raffiniertes Reimschema, weitgehend Jambus als metrisches Gitter, aber zweimal Akzentakkumulation (ähä: Hebungsprall. Sagt Schneider. Heiterkeit.) - bei "Mag mich wer" und "O Du". In der dritten Strophe dann die Leseranrede. Witziger, ironischer Touch, dieser Heinrich Heine hat sowas drauf, also vergleichbar nur, natürlich: setze mich um Gotteswillen nicht gleich, auch wenn Größenwahnsinn angesagt ist,
Tanz den Rezzo.

So ein brillantes Gedicht! Muss man feiern! Party!
Also: Eiswürfel aus dem Kühlfach holen, ins Glas füllen, klickern lassen, über dem Text den Kopf senken, meditieren. Ab einem bestimmten Punkt kommt die Trance. Das Kopfkino beginnt zu laufen, die Zimmerwände öffnen sich und du kannst plötzlich alles sehen. Da sitzen sie, surfen im Internet und klicken spontan unsere Zeitung an. Mundwinkel nach unten, die Augenbrauen nach oben, zappen weg, leicht verächtlich, weiter im Netz, unberührt von Poesie. Low Performer, sagt mein Vater, Bildungsforscher mit Arbeitsstelle in Würzburg.

Aber da sitzt Mirjam. Hat viermal in München die Rocky Horror Picture Show angeschaut. Da gibt es, sagt sie, ein Kino an der Isar. Spielt das seit vielen Jahren. Und die Leute singen mit. Time Warp, RiffRaff und das alles. Auch im Leistungskurs Deutsch, hohe Stirn, lacht über meine Jokes, weil: Sie ist intelligent, sie ist schlau, sie ist schön. Lyrik ist wie „lyrics”, sagt sie, tanzende Worte und Sätze, tanzende Texte, sagt sie. Musik. Die liest das genau, die anderen sind spätestens bei der zweiten Strophe mit den Eulenschwingen ausgestiegen. Aber Mirjam, also Mirjam, die liest den Text bis zum Ende. Und dann noch einmal.

Sie kann in dem Stil schreiben. Der Vater hat wahnsinnig viel Bücher im Wohnzimmer, Germanist und Linguist.  Heute morgen im LK war sie auf die Takte von Andreas Gryphius doch tatsächlich abgefahren, Alexandriner mit Zäsuren: Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn/Laß, höchster Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten. Doc Schneider  hatte die Stimmung genutzt, hatte eine kreative Schreibübung eingeschoben und wir probierten den Gryphius-Stil. Rezzo trug etwas vor von Gleitflügen. In den Tälern Bourbon-Kentuckys. Es wurde sehr lustig. Von nebenan der Französischlehrer steckte den Kopf rein, was da los ist. Und: Wir bereiten doch gerade die Klausur vor, Herr Kollege Doktor Schneider. Auf dem Heimweg wollte Mirjam gleich nach Hause. Niente "Da Toni". Matheklausur am Donnerstag. Der Grundkurs.

Amors gefiederte Axt

Kreisende Eiswürfel im Glas, ziemlich klein, klickern nicht mehr, sirren kreiselnd. Ab und zu ein Blick in den Mail-Ordner auf der unteren Leiste meines Bildschirms. Puh, wenn überhaupt von jemandem, dann könnte von Mirjam eine Antwort kommen, nicht jetzt, natürlich nicht jetzt, irgendwann.

Und was soll ich sagen? Um 21.00 Uhr erscheint dieser Text, DER TEXT, auf dem Screen:

Am Main
(Dem rappenschwarzen Melancholicus zugeeignet)

I've got to keep control
I remember doing the time-warp
Drinking those moments when
The Blackness would hit me

Am Main, da wächst der Rebensaft,
er wird mit Fleiß gepfleget.
Ach, süß und köstlich wirkt die Kraft
Von Traubenhaut umheget.

Nach Glück ein jeder Mensch verlangt
Wer einsam ist, der fluchet.
Und wo ein Fluch im Netze prangt
verstehst du gleich: er suchet.

Hinweg mit dir, du Eulen-Nacht,
Dein Flügel wird gestutzet.
Der Fluss, der Sommer, alles lacht.
Die Au ist grün geputzet.


P.S.
Gruß von der S. übrigens.
(Seit wann dürfen die bei Aldi mit 17 an die Kasse?)
Wir sehen uns morgen nach der Matheklausur, muss jetzt unbedingt schlafen.
M.


Tja, das hat Mirjam geschrieben. Erschütternd. Bin seit zwei Stunden so was von erschüttert, musste alles auf Band sprechen, für das  Tagebuch,  fiebrig, heiß die Stirn. Hab an Mirjam gemailt. Vielleicht ist sie doch noch wach und liest es. Wenn nicht, spätestens morgen.

Jetzt um 0.30 hör ich auf, bin voll von zwei kleinen Gläsern Whiskey ohne Kohlensäure, bin gestreift von Amors gefiederter Axt, behämmert von Amors Flügelschlag, von Mirjams Hammertext beflügelt. Loved. Die Flasche stell ich besser weg, weg in die Küche.

Wär ja blöd, ich sehe Mirjam morgen vor der Klausur auf dem Gang und  bin im Tran,  mir fällt nix ein, dann  räuspere ich mich  und sage unsicher  zuerst „Guten Morgen“ und dann gleich hinterher, weil sie aus München zu uns nach Unterfranken kam:  „Grüß Gott!“ Stilsicher, poly-glott. Und bisschen peinlich. Und sie lächelt ein bisschen stolz und sagt vielleicht: „Mei, ich bin´s doch nur.“

Anmerkung:
Mirjams Lieblingslied  in der Rocky-Horror-Picture-Show
 RiffRaffs Time-Warp

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Kommentare zu diesem Text

Sweet_Intuition (34)
(04.10.18)
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 Dieter_Rotmund (04.10.18)
Du solltest den Text als mehrteiligen Text einstellen, das würde uns Lesern entgegenkommen.
Offensichtlich hast Du große Probleme bei der korrekten Verwendung von Geviert- und Halbgeviertstrichen. Mach' Dich da mal kundig, es lohnt sich! (Die Problematik kumuliert in "Plastik-Tüte", wo gar kein Strich nötig wäre).
Ich sage dann noch was zum Inhalt, wenn die Hausaufgaben gemacht sind.

 Habakuk (04.10.18)
Sehr guter Text. Literatur! Ich kann mich nicht mit jedem Text literaturtheoretisch auseinandersetzen, weil das Kraft, Zeit und Muße erfordert, wenn es dann Hand und Fuß haben soll.
Daher nur dieses kurze Statement. Lesenswert, empfehlenswert. Meiner bescheidenen Meinung nach.

Gruß
Iphigenie (38)
(04.10.18)
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 Willibald meinte dazu am 04.10.18:
Wow. Auch das mit BWL stimmt.
Vale!
ww

 Dieter_Rotmund (05.10.18)
Guten Morgen allerseits!

"Hat eine Sportlerlaufbahn, hinter sich, sieht man ihm noch an."

Warum das erste Komma?

Kommentar geändert am 05.10.2018 um 10:38 Uhr

 Willibald antwortete darauf am 05.10.18:
Das mit dem Komma ist natürlich bedenkenswert.

Gedacht war an den Sprechrhythmus (und den Schreibrhythmus) von Sven Rappe. Er soll ja eine short story liefern. Implizit sind wir Zeugen ihres Entstehungsprozesses. Also stärker und eher Mimesis als Orthographie.

Dann: Das Präsens kann einen strarken Gegenwartsbezug haben und daher durative Sportlertätigkeit signaliseren. Das nachklappende "hinter sich", dementiert diese Lesart. Das abschließende "sieht man ihm noch an" ist demgegenüber mehrdeutig.

Übrigens wird gleich zu Beginn des Textes über ein Kommaäquivalet gesprochen, die Zäsursache.

Nö", meint er, „ist ernst, probier es. Vielleicht ein Gedicht, vielleicht eine short story.”
"Ok, mal gucken."
„Guck mal nicht so lang, Sven. Das Leben vor dem Abitur gleicht einer Rennebahn.”
"O ja", knurre ich, „aber immerhin mit Zäsur, vor gleicht.” Und gucke verstohlen, ob Mirjam das gehört hat. Sie hat.
„Schon, schon“, sagte Rezzo, „aber die Zäsur" - er spitzt den Mund, das Frettchen, und dann reimt er auch noch - "kommt nach Abitur.“
Mirjam grinst.

Ein bisserl wie der skaz bei Wolf Haas das alles?

beste Grüße
ww

Antwort geändert am 05.10.2018 um 14:08 Uhr

Antwort geändert am 05.10.2018 um 14:17 Uhr
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