Eines Tages war das Meer in sie eingedrungen, in die schmalen Öffnungen der Gedanken gesickert und hatte alles mit Schlick umspült. In ihrem Kopf blieb ein salziger Rest aus Seetang und Sandkörnern zurück.
„Bleib am Rand“, hatte man ihr gesagt, als sie noch ein Mädchen war, „immer einen Schritt vom Wasser entfernt“. Doch manchmal hatte sich ihr Blick zu weit am Horizont verfangen, und auf einmal war eine Welle zu ihr herübergeschwappt. Hier am Meer ging alles viel leichter verloren. Zu Hause stieß sich ihr Denken an den eckigen Linien, den harten Gebäuden, den Menschentrauben, die auf sie zuliefen. Hier war die Landschaft weit, und die Gedanken rollten, waren sie einmal losgetreten. Dann rannte sie hinterher wie ein Kind, mit flatternder Kleidung und ausgestreckten Armen. Irgendwann gab sie auf.
Sie mochte es, dieses Verlieren, war es doch gleichzeitig ein Sieg über die graue Geschäftigkeit, vielmehr noch eine Befreiung. Jetzt drang das Meer immer tiefer in ihren Kopf, holte sich tadelnde Worte, Buchstaben vergangener Nachrichten und die dunklen, ausgefransten Sätze alter Ängste. Das Wasser trug alles fort, und sie sah nur noch ein Fließen, eine Kraft, fremdartig und doch vertraut.
Manchmal hatte sie das Leben in sechsundzwanzig Buchstaben gepresst, kantige und runde, wohlklingende und raue. Nun schliff das Wasser auch die Spitzen der Worte, und einzelne erkannte sie kaum wieder, erneut vor ihre Füße gespült. Einige packte sie in ihre Taschen; andere ließ sie dort.
Ein Fenster mit Schlieren waren diese Tage. Nur unklar konnte sie den Innenraum erkennen. Sie lebte ohne Pläne, wischte nicht über das Glas. Sie stand und blickte auf das Wasser, selbst nichts weiter als ein Punkt.
Anmerkung von unangepasste:
2016
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Kommentare zu diesem Text
Dieter Wal (58)
(07.10.18)
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