Krummhalsflasche auf Sockel.

Interpretation zum Thema Glück

von  Willibald

Bei der Vorbereitung einer Berlinfahrt für herrscherlich-liebenswürdige  Direktoren bayrischer Gymnasien stieß Willibald auf ein seltsames Bild (siehe unten): Odolflaschen auf Treppen-Sockeln. In einer Allee. Aufmerksamkeitsheischend, weil ungewöhnlich. Und auch auf den zweiten Blick noch rätselhaft.

(1)  Allee und Sieg

Für den Betrachter von 1903 (das Bild erschien damals in der Münchner Zeitschrift „Jugend“)  sicherlich nach einiger Zeit zu enträtseln, da er die wilhelmische Ikonographie/Bilderwelt kennt. Der heutige Betrachter muss erstmal recherchieren. Ein erster Blick ins Internet verrät: Odol ist ein Kunstwort aus  dem griechischen Odous: Zahn und dem lateinischen oleum: Öl. Die Mixtur enthält ätherische Öle mit antiseptischer Wirkung. Das Patent hat der Dresdner Unternehmer  Karl August Lingner, ein patrichalischer Gründerzeitunternehmer der glanzvollen Sorte, mit energischen Aktionen in der Kunstwelt und auch in der Welt der Reklame.

Das breitformatige Bild präsentiert eine Baumallee mit einigen müßigen Spaziergängern.  Der kundige  Betrachter des Bildes lokalisiert die Allee im preußischen Kaiserreich, der Ort erinnert an die Siegesallee in Berlin. Interessant der  Einfall des Graphikers, die Siegesallee zu verfremden.  Statt der markanten  brandenburgisch-preußischen Heroen auf steinernen Stereobaten eine Riesen-Phalanx  weißer, opalener Odol-Flaschen, getragen von treppenförmiger Basis.  Altarstufenähnlich setzen sie  Figuren in verehrungswürdige Höhe. Man schaut auf zu ihnen, die schauen herab, verehrungswürdig - vielleicht magische Helfer, Penaten.

Andererseits ist das schon fast ein komischer Effekt, wenn die bauchigen Antiseptika-Mundwässer militärisch ausgerichtet und uniform in Reih und Glied stehen, fast schon surreal diese Front. Ernsthaft wirkt  die anderswo belegte Aufschrift der Krummhalsgläser: Nach dem heutigen Stande der Wissenschaft ist ODOL nachweislich das beste Mittel zur Pflege der Zähne und des Mundes. X-Flasche 1,50 Mark.

Damit entschlüsselt sich das seltsame Arrangement in seiner Bedeutung. Wir sehen eine Ehrenallee  für das Produkt Odol. Die Sieger  im Kampffeld um die beste Zahn- und Mundhygiene,  sie sind eine uniforme, unikate Macht. Eingepasst in die imperiale Kultur des deutschen Kaiserreiches, kultischer Verehrung wert.

(2)  Bild und Taktik

Ob ernst oder komisch oder surreal oder all das zusammen - es lohnt sich, die  Bildelemente, genauer zu betrachten,  den Grobaufbau, dann die Details.

Die wichtigsten Bildkonstituenten: Eine breite Alleestraße, die sich nach hinten perspektivisch verengt, sie mündet in Bäumen und Sträuchern, die den Horizont nicht freigeben. Im Vordergrund findet sich in Herrenbegleitung eine weißgekleidete Dame mit Hut und Schirm, links von ihr ein eher bürgerlich gekleideter  Mann mit Mantel und Zylinder, dazu der  Stock, rechts von der Dame ein Offizier, offensichtlich in Ausgehuniform mit Leibkoppel und dem Parade-Säbel an der Seite. Weiter hinten wieder Figuren, diesmal ein eher bürgerliches Paar. Ganz weit hinten noch einmal Spaziergänger. Eine sorglose, heitere Stimmung. Flanierende Menschen in Kleingruppen. Geselliges Ausgehen und Sich-Zeigen.

Betrachten wir nun Details daraufhin, wie sie die Wahrnehmung lenken und Bedeutung vermitteln. Es geht um viererlei: Die Flaniermeile, die Parklandschaft, die Herrscherinstanzen, die perspektivische Anlage.

o Eine  Flaniermeile – so  unser kulturelles Wissen  -  dient ihren Nutzern oft dazu,  sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, das Interesse der  anderen zu sondieren, sich der eigenen  Attraktivität  zu vergewissern,  erotische Beziehungen anzubahnen. Ist man bereits  in einer Beziehung und vermag man einen ansprechenden Partner vorzuweisen,  dann  zeigt man dies beim Flanieren gern voll würdigem Stolz oder mit kaum kaschiertem Übermut.

Soziobiologen erklären  solches Verhalten mit utilitaristischen und eudaimonistischen Theorien. Also mit Kategorien von Nutzen und Glückstreben. Das Suchen  nach Partnerschaft, Liebe, Sexualität, Familie, sozialer Anerkennung, fruchtbarem Zusammenleben, das  alles sind Teilziele, zugeordnet dem Globalziel Suche nach  (privatem) Glück, erinnernd an die amerikanische Verfassungsformel vom pursuit of happiness, das allen Menschen zusteht. Dazu gehört denn auch in weiterführender Konsequenz der Beitrag solcher Bestrebungen für eine mehr oder weniger gut funktionierende Gesellschaft. Diese selbst ist mit ihren Normen (Fairness, Bildung, Gesundheit, Prestige) und Ressourcen (Boden, Rohstoffe, Arbeitsmittel) das natürliche überprivate Umfeld bei der Verwirklichung privaten Glücks.

Und umgekehrt  ist die Gesellschaft samt ihren führenden Kräften auch davon  abhängig, dass sie genügend leistet, um die Bestrebungen nach privatem Glück zu „befriedigen“. Individuelle und überindividuelle Bedürfnisbefriedigung  sind der Maßstab für individuelle und überindividuelle Stabilität.

Der Mensch, das  „zoon politikon“, sucht  öffentliche Orte auf, um zu sehen und gesehen zu werden, um  aktive und passive Wertschätzung zu kombinieren. Ein grundlegendes Verhaltensmuster,  es zielt darauf ab, die engere Lebenswelt (auch durch Erneuerung) zu stabilisieren  und damit dann auch die  Gesellschaft generell.

o Das Flanieren erfolgt in einer  Parklandschaft. Ein Park ist definierbar als ein Naturbezirk, in technischer Arbeit umsorgt und auch angelegt, ein grüner Bereich. Wer einen Park in Städten anlegt, der  holt mit gezielter Arbeit und einigem technischen Aufwand  das in die Stadt, was ihr meist fehlt. Eine Grünfläche zur Verschönerung, Erholung und Gesundheit. All das  verspricht der ambulante Genuss des grünen Geheges.

Odolflaschen  in den Park zu setzen, eigentlich komisch-absurd, hat von daher seine Logik. Gewiss ist Odol  ein chemisches Antiseptikum, ein Produkt der Forschung und der Zivilisation. Das lässt sich nicht ganz ausblenden. Und soll gar nicht ausgeblendet werden.

Ähnlich wie bei der Parklandschaft ist technischer Aufwand eine notwendige Bedingung für ein gesundheitsförderndes Areal. So  vernetzt sich das  artifizielle Produkt mit dem Konzept der Natürlichkeit und ihren positiven Valenzen. Und so  lagert sich dem Produkt  und seinen technisch- chemischen Komponenten die Vorstellung an, Odol sei Teil einer funktionierenden, wertvollen Biosphäre. Eine Bereicherung urbanen Lebens.

o Die Herrscherfiguren der Parkallee sind insofern als politische Figuren zu bezeichnen, als sie der Polis zugeordnet sind, den Städten, dem Staat, den Bürgern. Die Statuen wurden in der Siegesallee aufgestellt, weil ihre realen Vorbilder  als politische Figuren Preußen stärkten und sicherten. Sie haben Preußen kultiviert, sie haben für Recht, Ordnung, Handel  und Wohlergehen gesorgt, so die herrschende Auffassung. In dieser Perspektive erscheinen  Herrscher wie Albrecht der Bär oder  Wilhelm I. als Landesväter und ihre Taten als Verdienste um das Wohl, das Glück der Landeskinder.

Ligner, der Produzent des Mundwassers, tritt keineswegs direkt (als Statue oder ähnliches) in Erscheinung. Ein Standbild für ihn oder eine Aufschrift, das wäre wohl ein bisschen zu direkt und peinlich. Aber indirekt, über das Produkt, ist er präsent. Und so wird hier ikonisch (im Bild)  ein Syllogismus, eine rhetorische Taktik mit einer Conclusio installiert, sie ist nicht ausgesprochen, aber stillschweigend anskizziert:

Wie die  Landesväter für das Land sorgten und in ihrer Fürsorge Verehrung verdienen, so belegt das Produkt die Fürsorge des  Fabrikanten Ligner.
Und wie Landesväter Respekt verdienen (und einfordern), so gebührt dies auch dem verdienten Odollieferanten Ligner.

Gesundheit der Zähne, ein frischer Atem, Körperkultur, attraktives Aussehen, belastbare Vitalität. Dafür stehen die flachen markenbewehrten Porzellanflaschen und sie stehen auf hohem Sockel, der Name ihres Produzenten und seine Persönlichkeit zusammen – wenn auch verdeckt - mit ihnen. Ein Habitat der Verehrung. Für Produkt und Produzenten.

o Interessant auch die perspektivische Anlage: Die Säulenallee der sich reckenden Odol-Flaschen  zieht sich bis zum Horizont hin. Wer sie beschreitet, verbringt dort Zeit. Wer  als Betrachter diese Bewegung virtuell  nachvollzieht und die Sockelreihe bis hin zum Horizont verfolgt, der löst die Statik der Bildlandschaft auf. In der Bewegung des Blickes  entwickeln die Bildelemente neben dem Miteinander ein Nacheinander. Und so  liegt es nahe, das unser Bewusstsein ein Vorwärts und Immerweiter wahrzunehmen glaubt. Der ambulante Betrachter bewegt sich  auf einer Allee von Glück und Größe, jetzt und in Zukunft; pathetischer: nun und in Zukunft und allezeit im Hoch.

o Der Odolreklamen von damals beigeordnete Satz  „nach dem heutigen Stand der Wissenschaft ist Odol nachweislich das beste Mittel“ wirkt wie eine seriöse Einschränkung, gewiss. Aber wer so spricht, der hat „die Hand am Puls der Zeit und der Wissenschaft“, er kennt die Finessen der Forschung und kann so gegenüber den Konkurrenten die Spitzenstellung bewahren, vielleicht auch ausbauen. Produkt,  Produzent und Konsument auf der Siegesbahn.

(3)  Sieger-Feier

Herrscherfiguren also, im neuen Bild ersetzt durch  Krummhalsflaschen, so dass ein Doppelungseffekt entsteht. Was das bringt? Nun, eine  erwünschte, wohlkalkulierte Wirkung: 

Wer sich beim Betrachten des einfachen Bildes den latenten Bildern öffnet, der wird  merkantil, sozial und  emotional stimuliert. Odol wird verehrungswürdig und adorabel. Das Produkt kaufen und nutzen – so lautet die verdeckte Botschaft -  heißt Verehrungswürdiges nach Gebühr behandeln. Die Leistung des Produktes und die Leistung des Produzenten sind so fokussiert und es werden  angemessene Rollen offeriert, samt einer moralisch-ethischen Spielebene:  Der Produzent bekommt, was er  - in mehrfachem Sinn – verdient.

Er liefert ja  dem Konsumenten  sowohl kosmetisches Wohlergehen als auch  medizinisches Heil, mit ätherischen Ölen,  Pfefferminze und antiseptischen Essenzen. Die Rolle des vital orientierten  Konsumenten in der Realität dankbar annehmen und erfüllen, das  schafft hohen Nutzen: Wer nicht übel aus dem Mund riecht und den Zähnen Gutes tut, der erhöht nicht nur seine Chancen auf dem Markt der Bekanntschaften und Beziehungen, er nützt  mit seiner Vitalität und darauf fußender Arbeitserfolge der Familie, der Gemeinde,  der Gemeinschaft, dem Volk, dem Vaterland.

Unverwechselbare Krummhalsflaschen.
Sie säumen eine Feiermeile für machtvolle  Sieger.
Garantiert.

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Flasche
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Kommentare zu diesem Text


 Lala (09.01.19)
Interessiert gelesen. Dazu erstmal dieses hier:

„Von den Berlinerinnen und Berlinern wurden die Skulpturen als „Puppenallee” belächelt. Der größte Teil der Figuren blieb beschädigt erhalten. Ab Mai 2009 wurden sie in der Zitadelle Spandau restauriert und dort ab 2015 als Teil der neuen Dauerausstellung „Enthüllt – Berlin und seine Denkmäler” präsentiert.“
Siehe: https://www.berlin.de/senuvk/berlin_tipps/grosser_tiergarten/de/sehenswertes/kunstdenkmale/denkmalgruppe_siegesallee.shtml

Nebenbei: Die Zitadelle sowie Spandau – Ja, richtig gehört: Spandau – sind ein schönes Ziel bei Berlin und immer interessanter, seit Mitte, Prenzelberg und Neuköln-Nord aufgehört haben Berlin zu sein.

Da wir den Hohenzollernschinkelklotz von Schloss äußerlich – naja fast – wieder aufgebaut haben, könnte Herr Jauch sich nach der Garnisonskirche ja der „Puppenallee“ annehmen? Wobei ich die krumhalsige Flaschenallee mit Markenproduktaufdruck a la Armani wie sie uns Willibald hier offenbart hat, sehr viel geiler fände. Die Markenflaneure mit gutem Gehrin- wie Mundgeruch bestimmt auch. Aber das bleibt wahrscheinlich ein frommer Wunsch von mir. Drum werd' ich weiter immer Treu und Redlichkeit üben

 Willibald meinte dazu am 09.01.19:
Für den Af(f)icionado Lala zwei Leckerbissen:

(a) https://next.brand-history.com/sujet/700/40679.jpg
(b) viertes Bild ergänzt unterhalb Text: Odol-Zeppelin über BärLin.

greetse und gratias

ww

Antwort geändert am 09.01.2019 um 20:08 Uhr

Antwort geändert am 09.01.2019 um 20:16 Uhr

 Lala antwortete darauf am 09.01.19:
f ?
fd.

Edit: Ok. Latein ist lange her und ich übersetze das jetzt mal mit afficio. Also vergiss das "fd".

Antwort geändert am 09.01.2019 um 20:30 Uhr

 Willibald schrieb daraufhin am 09.01.19:
Jou, archaisierend, aber nicht ganz weg:

Und wenn er teilweise 15 Instrumente gleichzeitig zu spielen hatte, sein Körper mit dem Perkussionsapparat fast eins wurde, so führte er eindringlich vor, wie die Musik von Xenakis nicht nur den Hörer physisch affiziert, sondern genauso – und noch viel mehr – den Spieler. [Neue Zürcher Zeitung, 19.01.2017]
Er [der Essay] […] lässt sich vom Verstand nicht so leicht wegschieben wie Literatur, die vom Besonderen erzählt und deswegen eher das Gefühl affiziert als den Intellekt. [Die Welt, 12.11.2016]
Die zahlreichen Zeichnungen in der Schau unterstreichen, daß der Künstler fast immer von konkreten Dingen und Orten affiziert wird. [Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.04.2003]
Gestern saß er auf dem Sofa still neben mir […], als hätte er recht. Meine ganze Seele war so empört, so in Aufruhr, mein Herz so affiziert als vor zwölf Jahren; als wäre in der ganzen Zwischenzeit nichts anderes vorgefallen. […] [Bruyn, Günter de: Die Finckensteins: Berlin: Siedler 1999, S. 161]
Eine eigentümliche Schwermut liegt über diesen [Film-]Bildern, in diesen schwankenden Bewegungen und leeren Blicken, die Farben machen den Krieg ganz somnambul […]. John Fords Leute beschwören eine Zeit zwischen Traum und Trauma, eine Nähe zum Tod ist zu spüren, die auch den Beobachter affiziert. [Süddeutsche Zeitung, 07.05.1998]


Einen Bossa-Nova-Liebhaber, Kenner der Tropicalia-Szene, Brasilien-Afficionado? (Nicht mal Portugiesisch beherrscht er.)
[Die Zeit, 11.03.1999, Nr. 11]

greetse

ww

Antwort geändert am 09.01.2019 um 21:34 Uhr

 Lala äußerte darauf am 09.01.19:
Jetzt mach hier mal nicht so einen Affen. :)

Danke.

Antwort geändert am 09.01.2019 um 21:44 Uhr

 Willibald ergänzte dazu am 09.01.19:
ok, ko, bene, gut, skeptisch ;-)

ww
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