Panther-Sachen bei Rilke.

Interpretation zum Thema Mensch und Tier

von  Willibald

Illustration zum Text
Was schenkt uns die Kunst?
Man kommt in Berührung mit seinen feinsten Empfindungen,

Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf — Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille —
und hört im Herzen auf zu sein.

September 1903

(1) Das Ding mit dem Panther

(1.1)  Dingästhetik

Ekkehard Mittelbergs  literaturhistorische Analyse von Rilkes Panthergedicht scheint mir sehr anregend zu sein.

 https://www.keinverlag.de/texte.php?text=377806&bearbeite=765912

Im Folgenden soll es aber  weniger um die literarhistorische Einordnung gehen, die Ekkehard vornimmt, nur so viel: Symbolistisches Schreiben der Jahrhundertwende dürfte vor allem als eine Reaktion auf den naturalistisch-sozialen  Touch naturalistischer Texte und Verfahren ("Ratten", "Die Familie Selicke"; Sekundenstil bei Arno Holz und die biologische Orientierung im "Phantasus") verstanden werden.

In dieser Epochenströmung um 1900  finden sich  psychographische Tendenzen auch aus der Romantik und  aus poetischen Verfahren  im Realismus (Fontanes "Effi Briest", die Psychographie im "Schach von Wuthenow"). Und der Begriff "Ding" scheint von den Theoretikern des "Dinggedichtes" und des "Dingsymbols"  fast ein bisschen überstrapaziert zu sein. Wie kann man diese kritische These begründen?

Man vergleiche etwa eine gängige Skizze des literarischen Begriffs:

Ein Dinggedicht hat nicht nur, durch eine rein objektive und selbstgenügsame Darstellung der gegenständlichen Welt, den Anspruch, die Dinge zu kopieren oder widerzuspiegeln, vielmehr sollen besondere Wahrnehmungsleistungen durch sprachliche Mittel ausgedrückt werden.
Das Prinzip der Dingdichtung Rilkes ist gewissermaßen auch die Verwandlung des Außen in ein Innen. Auch in der Begegnung mit den Dingen gemachte innere Erfahrungen fließen in ein Dinggedicht mit ein. Dadurch tritt eine Spannung zwischen Objekt- und Subjektbezug, zwischen imaginativer Sicht und Gegenstandstreue und zwischen symbolischer und realistischer Darstellung auf.


Die gewisse Widersprüchlichkeit solcher Definitionsversuche  hat ihren Grund: Bei den sogenannten "Dingen" der "Dinggedichte"  liegt meist insofern eine Vitalisierung vor, als zumindest der Betrachter per Psychographie  und perzeptiver Wahrnehmung intensiv zugeschaltet wird, allerdings eben oft nur aus latenten Signalen erschließbar. Oder aber gleich ein menschliches Verhalten mit der Objektebene verbunden ist. Es geht nicht so sehr um die intersubjektive Einordnung mittels  Raum-, Zeit-, Zahl- und Bewegungseigenschaften, genau genommen das, wodurch sich Dinge durchaus beschreiben lassen,  sondern (zumindest) zusätzlich um das Phänomen der "Qualia".  Dieses Unterlaufen physikalischen Beschreibens  folgt  fast notwendig aus der poetischen Verfahrensweise. der Textsorte Gedicht.

 https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/qualia/10638
 https://www.cambridge.org/core/books/history-of-the-modernist-novel/what-is-it-like-to-be-conscious-impressionism-and-the-problem-of-qualia/B0DE1BF6598920BDE8A76A97EE0E2B18/core-reader

Man denke etwa an C.F. Meyers Poem "Der römische Brunnen" oder gar an seine  "Stapfen". Und man denke an Texte, die zeitübergreifend und eben nur schwer epochenspezifisch  einzuordnen sind. Es gilt wohl  - wie so oft - das Diktum  von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen".  Poetizität in der Wiedergabe der Dingwelt war schom immer wahrnehmungsgebunden und bietet einen "mindscreen". So wird denn in einer bestimmten historischen Situation des literarischen Diskurses nur bedingt "Neues" herangezogen. Immerhin mag mit diesen Vorbehalten  die Literatur der Jahrhundertwende etwa so zu "charakterisieren" sein:

Abkehr von dem genau gezeichneten sozialen Milieu und seinen oft "hässlichen" (poesiefernen)  "Determinanten". Stattdessen - ähnlich wie im Jugendstil oder dem Impressionismus eines Monet - ein oft alltagsfernes, idealisierendes, "schönes" Leben. Eingebettet in pflanzlich-organische Formen des Jugendstils, oft  mit Nähe zum Darwinschen Evolutionsgedanken (Haeckel) oder auch zu mystisch-religiösen Vorstellungen, oft mit pantheistischem "Touch.":

Statt naturalistisch-fotographisch konturierten Abbildern ein Rekurs auf die "Oberfläche" der Dinge, der Erscheinungswelt. Subjektive Eindrücke (Impressionen, z.B. Lichtinseln und Farbtupfen, "weiche", konnotationshaltige  Adjektive zur Beschreibung der Außenwelt),  die Konturen lösen sich auf. Analog dazu ein Modell des Menschen, der sein festes Ich verliert. Interesse der immanenten Poetik am Un(ter)bewussten und Animalischen jenseits von christlich-triebasketischen Modellen, oft nah bei Sigmund Freud oder Nietzsche.

(1.2)  Entfremdetes Leben

Nun die Hauptsache: Besonders triftig scheint mir Mittelbergs textnahe  Deutung der ästhetisch codierten "Botschaft" (Eco) des Panther-Gedichtes,  hier etwa:

So wird das gesamte Gedicht nicht allein zum Symbol für das seiner Natur entfremdete Leben eines Raubtiers, sondern darüber hinaus für sinnloses Leben. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt im Sinne des Lesers, der den Text macht, sich von der Beschränkung des Dinggedichts zu lösen und das entfremdete Leben des Raubtiers auf den Menschen zu übertragen. Ob Rilke das intendierte, spielt dabei keine Rolle.

Ich konzentriere mich, davon angeregt, auf  zwei Phänomene der Mikrostruktur:

a) Die Fokalisierung: ein im Text spürbarer,  latenter menschlicher Beobachter;  mit einem lokalen Standort,  Ausgangspunkt seiner Wahrnehmung,  und mit einem vage erschließbaren Standpunkt, in dem seine Modellierung der Wahrnehmungsobjekte, seine "Weltanschauung" fassbar wird. Das, was man als lokale und axiologische  "Perspektive" bezeichnen kann.
b) Modusbeobachtungen: die oszillierende Bedeutung des  Konjunktiv II in der  Formulierung "als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt".

Man nehme den dabei sicher auftretenden linguistischen Overflow nicht allzu negativ wahr und sehe ihn besser als den freundlich-tapsig-aufgeregten  Modus in der  Erklärbär-Rhetorik eines textfaszinierten, rilkefaszinierten Schreibens.

(2) Doppelte Optik in Rilkes Panthergedicht?

(2.1)  Empathie und Setting

Im Original  gibt es einen Untertitel („Im Jardin des Plantes, Paris“) nach der Überschrift "Der Panther".  Eine Zeile, die  vielen vielleicht gar nicht auffällt oder nach der Lektüre des Gedichtes entfällt. Mit dieser Lokalisation ist das setting/frame schärfer skizziert, eine Art Zoo, natürlich auch mit botanischem Garten, eine von Menschen ausgestellte, parkähnlich bearbeitete Natur mit Mensch, Flora und Fauna.

Eine Großstadt wie Paris: anskizziert, metonymisch steht sie auch für Kultur und Zivilisation, vielleicht für einen Höhepunkt der Zivilisation im Selbstverständnis der "grande nation", für  den Ideal- und Realtypus menschlicher Gesellschaft. Darin, in dem Park und der Stadt, vermutlich ein Ich, latent, aus unserem Vorwissen (frame, script, s.o.) erschließbar, das dem Panther zusieht und sich in ihn einfühlen kann.

Sprachlich latent, weil im Text nirgendwo ein Pronomen der ersten Person auftaucht. Sprachlich erschließbar, weil der Panther in der dritten Person grammatikalisiert ist.  Und weil die Sprache - trotz rudimentärer Ansätze in der animalischen Kommunikation - den Menschen vom Tier unterscheidet. Etwas pathetisch formuliert: Der Mensch hat das Wort, das Tier wird benannt. Ganz ähnlich die Theory of Mind, die sich mit dem Begriff der Empathie überschneidet: Theory of Mind (ToM) ist ein Begriff aus der Psychologie und den Kognitionswissenschaften. ToM bezeichnet die Fähigkeit, intuitiv eine Annahme  über fremde Bewusstseinsvorgänge (kognitive, emotionale) vorzunehmen und zu prognostizieren, welche Aktionen zu erwarten sind.

(2.2) Der Blick und der Konjunktiv

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Eine besondere Art der Einfühlung und Empathie ist das hier im Gedicht:

Offensichtlich ist das lyrische Ich fähig, den „müden Blick“ bis ins Bewusstsein des Tieres weiterzuverfolgen: Das Pronomen "Ihm" kann sich auf "Blick" oder das Lexem "Panther" in  der Überschrift beziehen. Die zweite Deutung ist plausibler, da das "ihm ist" nicht nur ein partielles Organ voraussetzt, sondern einen Organismus, der die Wahrnehmungsbilder, die das Organ liefert,  auswertet und "zusammenschaut". Dass der Blick nichts mehr „halten“ oder „festhalten“ kann, ist so wohl auf  die Gefängnissituation des Tieres, die Annahme der "tausend Stäbe" auf eben diese  der Wahrnehmung  zurückzuführen. Das, was sich (scheinbar) bewegt, sind die Stäbe, die bei der Kreisbewegung des Panthers nicht aufhören und keinen Ausweg bieten. Und hinter den Stäben "scheint"  keine Welt zu sein. Wir setzen als Leser wohl dieses "scheint", weil wir zu wissen meinen, dass der Panther diese "Sicht" hat, dass wir die beschränkte Perspektive des Tieres als beschränkt einschätzen können, sind wir doch "höhere" Wesen, und dass diese Perspektive zwar nachvollziehbar, aber eben illusionär und insofern "scheinbar "ist. In "Wirklichkeit" gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Stäben und gerade außerhalb des Käfigs gibt es sehr wohl das Andere: die  oder eine Welt.

Der Konjunktiv in „gäbe“, im Modus der eingeschränkten Gültigkeit,  stützt diese Interpretation des Lesers, der Konjunktiv hat hier eine irreale Färbung, wir wissen, wir Menschen sind ja selber - anders als das gefangene Panther-Tier - außerhalb des Käfigs, dass es sehr wohl eine Welt außerhalb der Gitter gibt. Der Konjunktiv nimmt also die Negation in „keine Welt“ zurück. "Als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt" bedeutet soviel wie "Es gibt keine tausend Stäbe. Und: Um diesen Käfig und dahinter - außerhalb des Käfigs - gibt es sehr wohl eine Welt".

Andererseits lässt sich die Einfühlung in den Panther vielleicht auch als eine latente Bestätigung des Pantherblickes lesen: Die Formulierung mit „als ob“ und Konjunktiv muss nicht unbedingt eine irreale Färbung haben, sie kann auch eine vorsichtige Behauptung sein, die sich an eine subjektive Perspektive anbindet, die nicht unbedingt unrecht haben muss: Ein Satz wie "mir ist, als ob es keine Rettung gäbe" legt nahe oder lässt zumindest offen, dass und ob es für das "mir" keine oder doch eine Rettung gibt.

Der Konjunktiv ist sozusagen polysem lesbar.  Er unterstreicht einmal die negative Formulierung von "keine Rettung":  Ein Satz wie "Das wäre nicht das erste Mal" bedeutet "Das ist nicht das erste Mal, das ist schon oft geschehen". Die Negation wird nicht aufgehoben durch "wäre". Der Modus ist vielmehr eine Art redundantes Signal, das die Negation "keine" begleitet. - Dort aber,  wo wir die Passage "und hinter tausend Stäben keine Welt" so lesen, dass es sehr wohl eine Welt hinter diesen Stäben gibt, dort hat sich unsere Prämisse einer existenten Welt zum Generator der "irrealen Lesart" aufgeschwungen.
Noch einmal, leicht variiert, bei "Du schaust so, als ob du mich lieben würdest" ist die Liebe fraglich, aber nicht ausgeschlossen. Dass es hinter den Stäben wirklich keine Welt gibt, ist rein sprachlich nicht ausgeschlossen. Nur unser Weltwissen narkotisiert (bis zu einem gewissen Grad) diese "Lesart der wirklich fehlenden Welt". Unsere Spontanreaktion nämlich, dass die tausend Stäbe in "Wirklichkeit" ja nicht existieren, lässt uns vielleicht vorschnell folgern (und dann bekräftigen), dass auch  die folgende Passage ("keine Welt")  die Wirklichkeit verfehlt. Es gibt nicht - so der Konjunktiv -keine Welt . Und diese doppelte Negation- duplex negatio est affirmatio -  scheint sich aufzuheben  und alles ist in Ordnung.

(2.3) Der Gefangene - die doppelte Optik des Gedichtes

Dazu noch ein nicht linguistisch-grammatisches, sondern ein "ethologisches" Argument: Dort, wo die Stäbe nicht mehr sind, steht latent -  erschließbar aus dem script "Parkbesuch" -  ein beobachtendes Ich. Wenn es das Innere des Panthers kennt, dann vielleicht, weil es die Gefangenseinsituation nachempfinden kann.

Klar doch: Wie kennen die ursprüngliche Heimat des Panthers, wir verstehen den Verlust der angestammten Wildbahn als Voraussetzung für die Irritation und Depression des Tieres. Das kann aber noch intensivere Gründe haben als nur die Einfühlung in eine nachvollziehbare, aber letzten Endes fremde Situation. Aber, aber, aber. Wie sicher, wie fremd  ist die Prämisse, dass es  tausend Stäbe gibt  und dass es eine gitterfreie Welt nicht gibt?

Antwortversuch flankierend mit einem kleinen Salto Mortale vorwärts: Das lyrische Ich schaut "vor"  Stäben und durch Stäbe auf eine gefangene, animalisch schöne Kreatur. Der Bewohner der Welt außerhalb des Käfigs ist vielleicht der Insasse einer Kultur, in welcher man Tiere einsperrt und ausstellt, er ist aber auch gleichzeitig in seinem vitalen, seinem animalischen Kern von der Parklandschaft und der Stadt und der Zivilisation eingeengt und gefangen. Eine reduzierte, eine wenig vitale Welt. Und somit eben nicht die ursprüngliche oder "eigentliche Welt". Und ähnlich wie eine "Teilunwahrheit" oder Zweifelhaftigkeit einer Aussage - wir leben in einer vitalen Welt -  die  mit dieser (nun zweifelhaften)  Aussage verknüpften Aussagen zweifelhaft  machen kann,  ist der Konjunktiv "gäbe" eben seiner Negationskraft beraubt oder zumindest darin geschwächt: So "ist " in dieser eingeschoben, versteckten Perspektive die uns bekannte und von uns bewohnte Welt eben "keine Welt" . Und die "tausend Stäbe" lassen sich plötzlich als (poetische) Metonymie für "Gefängnis" lesen. "Tausend Stäbe" und "keine (vitale) Welt" passen nun und stützen sich gegenseitig.

Und somit - diese Interpretationshypothese sei gewagt - sieht der Beobachter ein komplexes und trotzdem anschauliches System: Er erkennt wahrscheinlich textdurchwandernd und erlebend neben seiner "normalen" Perspektive (von außen den Panther sehen und sich empathisch in ihn "versetzen")  alternativ  im Subtext des Gedichtes und dessen Perspektive sein animalisches, sein vitales Ich im und mit dem Panther in einer Gefängniswelt. Im Text ist ein Kipp-Phänomen  samt Perspektivenflucht  (>>>) eingebaut.

(3) Irrealis-Konjunktiv?

(3.1 ) Panthers Konjunktiv

Damit  ist die These vom irrealen Konjunktiv plötzlich ihres Monopols beraubt. Die vom Potentialis schiebt sich vor. Und somit sind jetzt mindestens zwei Lesarten möglich und plausibel. Die Welt des Beschauers ist (auch) ein Gefängnis und/oder sie  ist kein Gefängnis.

Fragt sich, ob in der letzten Strophe sich nicht auch der Beobachter im Pupillen-Bild „gesehen“ „sieht“. Einmal als ein Bildstimulus, der nicht weiter wichtig für den Panther ist und in dessen Depression versiegt. Dann weil er, der Beobachter, in einem vitalen Sinn nicht existiert, allenfalls in der reduzierten Existenz des Stadtmenschen, der sich - zweifellos auf eine sehr sensible, sehr empathische Weise im Panther einen Idealtypus von wildem Tier und Natur gönnt und sich mit „seiner“, des Panthers und des Menschen,  Existenzform konfrontiert sieht. Mit der Schwundstufe von Welt unterhalb der Natur. Manche würden wohl den Begriff der "Schwundstufe" zurückweisen. Aber den gewissen Verlust mit zugestehen.

(3.2) Linguistisches zum "als ob" mit dem Konjunktiv

Hier ein bisschen Material und Überlegungen zum Aufschlusswert von

"als ob" + Indikativ
"als ob" + Konjunktiv I
"als ob" + Konjunktiv II

Auch die literarische Qualität des Grass-Werkes kritisierte Kempowski: Die paar Ausschnitte, die er gelesen habe, finde er "bieder und altmodisch - so, als ob die Zeit an ihm vorübergegangen ist und es Arno Schmidt nie gegeben hätte". (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Mit Blick auf die Scheingesellschaften hatte Bass schon im Februar 2000 in einem Memo an Andersens Enron-Team geschrieben: "Es sieht so aus, als ob die ganze Sache keine Substanz hat". (Quelle: Der Spiegel ONLINE) (habe?, hätte?)

Italienischer Fußball wirkt derzeit wie in die dunklen Sechziger Jahre des Catenaccio zurückgefallen, so als ob man Ferraris kauft, um mit ihnen durch verkehrsberuhigte Zonen zu tuckern. (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Es komme ihm vor, als ob die "Reise zwischen Alltagsleben und Kunst auf einer Möbiusschleife stattfindet". (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Die zitierten Sätze legen nahe: In der deutschen Grammatik sind selbst explizite Konjunktivsätze (Konjunktiv II)  mit als ob/wie wenn nicht notwendig mit der Irrealis-Lesart verknüpft. Vielmehr liegt so etwas vor wie ein hypothetischer Vergleichssatz zum Zwecke einer  möglicherweise plausiblen Erklärung. Gehen wir auf weiteres Material ein:

Er sieht so aus, als wäre er krank/wie wenn er krank wäre. (Buscha 1995, S.14)
Max war knallrot im Gesicht - als ob er sich furchtbar aufgeregt hätte. (Oppenrieder 1991, S. 364)


In beiden Sätzen ist keineswegs ausgeschlossen, dass eine Krankheit vorliegt, beziehungsweise eine heftige Aufregung.  Folglich, ich wiederhole mich: Eine Formulierung mit „als ob“ und Konjunktiv muss nicht unbedingt eine irreale Färbung haben, es kann auch eine vorsichtige Behauptung sein, die sich an eine  subjektive Perspektive anbindet, die nicht unbedingt unrecht haben muss: Ein Satz wie "mir ist, als ob es keine Rettung gäbe" ( eine Parallele zu "ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt“)  unterstreicht dann  die negative Formulierung von "keine Rettung" und nimmt sie nicht zurück.

Man kann hinter solchen sprachlichen Strukturen eine  logische Beziehung sehen, man bezeichnet sie linguistisch als  Abduktion (C.S.Peirce). Im Unterschied zum  deduktiven Schluss ist die Abduktion nicht logisch stringent, sondern nur wahrscheinlich: Eine Art berechtigte Vermutung, die der Erklärung eines seltsamen Umstandes dient.
Sieht ungefähr so aus: Wenn jemand einen Stein im Schuh hat, dann geht er „komisch“ und humpelt.
Anna geht so merkwürdig und humpelt, als ob/wie wenn sie einen Stein im Schuh hätte.
Oder das Beispiel mit Max von oben: Wenn sich jemand aufregt, dann ist er meistens knallrot im Gesicht. Max ist knallrot im Gesicht, wie wenn er sich furchtbar aufgeregt hätte/als ob er sich aufgeregt hätte/als ob er aufgeregt wäre und - als ob es sich aufgeregt hat.

Und hinter den Stäben in der Parklandschaft inmitten der Stadt rings um den Käfig findet sich keine vitale Welt. Wahrscheinlich. Diskutabel.
Sehr.

Salute und  ein vitales Valeatis  an die geneigten Leser, vor allem an Ekkehard (und James Blond)...!

willibald

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (10.01.19)
Lieber Willibald,
ich danke dir sehr für die sorgfältige Lektüre von Rilkes Gedicht und meiner Interpretation. Seit Wolfgang Iser wissen wir, dass der Leser den Text machen kann und die Literaturwissenschaft akzeptiert unterschiedliche Lesarten. Aber Iser setzte dennoch ein genaues Studium des Textes voraus.
Heute sehe ich oft unterschiedliche Lesarten, die nur willkürliche Anmutungen darstellen. Ganz anders deine Interpretation, die den Wirkungen der Konjunktive genau auf den Grund geht und so zu einem Ergebnis kommt, dem ich gerne zustimme. Hier ist es für den eiligen Leser, der sich die Zeit nehmen möge, deine Argumentation zu verfolgen:
"Und somit - diese Interpretationshypothese sei gewagt - sieht der Beobachter sein animalisches, sein vitales Ich im und mit dem Panther in einer Gefängniswelt."

Damit kippt die These vom irrealen Konjunktiv plötzlich. Die vom Potentialis schiebt sich vor. Und somit sind jetzt mindestens zwei Lesarten möglich. Die Welt des Beschauers als Gefängnis und/oder kein Gefängnis."

 Willibald meinte dazu am 11.01.19:
Carissime Ekkehard, gratias ago, für schöne Resonanz.
Und einen Dank vom jungen Robert Gernhardt an alle "alten"Philologen ("alt" im Sinne von "vertraut" und "verlässlich" und "kundig" und "penibel"und "seren") Philologen.

Auf den Lateinlehrer Otto Kampe

Er ist wie Crassus sehr gerissen
und so beredt wie Cicero.
Wie Maecen ist er kunstbeflissen,
ein Wüstenfuchs wie Scipio.

Lukullus gleicht er als Genießer
am immer wohlgefüllten Tisch,
und gleich Ovid, dem Feind der Spießer,
so ist auch er kein kleiner Fisch.

Wie Tacitus ist er Erzähler.
Wie Seneca sucht er das Wahre.
Er hat wie Cato keine Fehler
und so wie Caesar keine Haare.

Gernhardt, Robert (2006): Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006. Frankfurt: Fischer Klassik (S.11).

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 12.01.19:
Gratias ago, Willibald, das Gedicht auf den Lateinlehrer kannte ich noch nicht und habe mich köstlich amüsiert, war ich doch selber einer.
Liebe Grüße
Ekki
Dieter Wal (58)
(11.01.19)
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 Willibald schrieb daraufhin am 11.01.19:
Salute, Dieter,

vielleicht - nach der Umschau in Dieters Texten - hier auch ein Gernhardt. Dessen Hauptfigur trennt scharf und eher töricht zwischen Außen- und Innenwelt, und sie dürfte als Kontrastmodell funktionieren. Kontrast zu den Umschauerlebnissen.

Philosophie-Geschichte

Die Innen- und die Außenwelt,
die warn mal eine Einheit.
Das sah ein Philosoph, der drang
erregt auf Klar- und Reinheit.

Die Innenwelt, dadurch erschreckt,
versteckte sich in dem Subjekt.
Als dies die Außenwelt entdeckte,
verkroch sie sich in dem Objekte.

Der Philosoph sah dies erfreut:
indem er diesen Zwiespalt schuf,
erwarb er sich für alle Zeit
den Daseinszweck und den Beruf.

Gernhardt, Robert (2006): Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006 . Frankfurt Fischer; S.99

Antwort geändert am 11.01.2019 um 16:45 Uhr
Dieter Wal (58) äußerte darauf am 11.01.19:
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 Willibald ergänzte dazu am 11.01.19:
Diese Erzählung kenne ich (noch) nicht.
R.G. forever.
gratias.
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