Von Wohnzimmerspaziergängen und Beziehungen

Grotesk-Zeitkritisches Drama zum Thema Aktuelles

von  unangepasste

Dass etwas nicht stimmt, merke ich, als ich immer wieder Facebook-Postings über meine Befindlichkeit einstellen will. Normalerweise nutze ich die Seite nur, um mich mit literarisch Interessierten zu vernetzen und Kontakte aufrechtzuhalten. Stattdessen suche ich einen Buchstabenwürfel, lasse das Zufallsprinzip entscheiden und erhalte „K: Wohnungsspaziergang machen“. Keine Minute später teile ich meinen Freunden das Ergebnis mit und erwähne, dass ich sogar den Staubsauger mitgenommen habe. Ob ich Zuspruch erwarte oder Small Talk? Das analytische Denken habe ich bereits abgeschaltet; vielmehr tauche ich wie ein Kind in dieses absurde Spiel, von denen es heute dutzende in den sozialen Medien gibt.
Als ich das zweite Mal würfle, kippt die Stimmung: „T: Partner/in zuhören“. Genau da trifft die Antwort meinen wunden Punkt. Ich kann mit den Wänden sprechen, mit den Blumen oder mit der Speckstein-Figur, die ich mit zwanzig in wochenlanger Arbeit angefertigt habe. Ich kann mir auch einen Menschen bauen, so wie früher als kleines Mädchen. Als meine Großmutter abgefahren war, vermisste ich sie, und da ich mich mit dem Zustand nicht arrangieren wollte, begann ich, sie in meinem Zimmer neu zu erschaffen. Die Hände waren Tennisbälle und somit zur Faust geballt, und der Kopf bestand aus einem Fußball, der so platziert war, dass zwei schwarze, große Augen mir entgegenstarrten. Auf der hinteren Seite trug sie ihre Mütze. Und doch: Großmutter schwieg. Ich fragte die Facebook-Gemeinde, welche Variante wohl vorzuziehen wäre, der Speckstein-Mann oder eine Neukreation.

Seit Monaten litt ich unter Trennungsschmerz. Um ihn in den Hintergrund zu drängen, meldete ich mich zum Jahreswechsel bei einer Dating-Seite an. Nicht dass ich daran glaubte, einen Partner zu finden, der zu mir passt. Ich wollte auf andere Gedanken kommen, mich austauschen, anstelle nur auf dem Sofa zu liegen und im Sumpf der Traurigkeit zu versinken. Die Trauer blieb. Aber ich lenkte mich ab. Ich lernte Männer kennen, mit vorgegebenem Abstand, ging am Rhein spazieren – und, auch wenn es merkwürdig klingt, kam mir das Gesetz in dem Moment gelegen. Keine Annäherungen. So konnte ich mich mit der nötigen Behutsamkeit vortasten. Denn um ehrlich zu sein: Ich bin noch nicht bereit für etwas Neues. Noch immer stecke ich in der Phase, die man wohl am besten mit „so einen Menschen finde ich nie wieder“ betiteln kann.

Einen weiteren Vorteil hat die Situation. Bis vor vier Wochen verbrachte ich drei Stunden am Tag auf dem Weg zur Arbeit und zurück. Abends fiel ich müde ins Bett. Jetzt, ins Home Office verlegt, habe ich noch Zeit, die mir allein gehört. Damit meldet sich das alte Bedürfnis zurück, der Wunsch nach einem Ausgleich. „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ Hätte ich doch nur …, denke ich dann manchmal, bis mich meine Nachbarn auf den Boden der Realität zurückholen.
Eine Stimme keift über meiner Zimmerdecke.
„Verpiss dich“.
Sie wird lauter, wiederholt die Forderung.
Der Mann brummt etwas, das ich nicht verstehe. Auf einmal fängt auch er an zu brüllen.
Zwei Stunden läuft dieses Gezänk wie ein schlechtes Hörbuch im Hintergrund, das sich immer wieder im Kreis dreht. Keine Handlung, nicht einmal eine Auflösung, lediglich der dramatische Höhepunkt in Endlosschleife.
Ob ich nicht mal klingeln soll, um die Grundzüge der Dramatik zu erklären? Exposition, Steigerung, Wendepunkt, retardierendes Moment, Katastrophe – können sich die beiden nicht nach Regeln streiten?

Die Lehre: Ich sollte dankbar über meine Einsamkeit sein. Und doch: Bei jedem Paar, das ich beim Einkaufen entdecke, fühle ich Eifersucht, geht die Szene in meinem Kopf nicht über eine Rosamunde-Pilcher-Handlung hinaus.
„Jetzt stell dich nicht so an, wir alle dürfen nicht nach draußen“, sagt die Kollegin, als ich mich beschwere, dass ich den Urlaub im Reiseverbotszeitraum nehmen muss. Ich schweige, beobachte aber einen Ärger in mir aufsteigen. Sie ist verheiratet. Sie hat gut reden.

Eigentlich kann ich gut allein sein. Zu anderen Zeiten habe ich keine Schwierigkeiten, mich zu beschäftigen, sehne mich sogar regelrecht nach Rückzug, um mich vom Alltag wieder aufzutanken. Doch der Körper schreit, er sei aus dem Gleichgewicht. Meine Beine fühlen sich wie Blei an, nachdem sie neun Stunden vor dem Computer saßen. Statuen-Beine. Draußen brauche ich jedoch ein Ziel. Allein spazieren gehen ist etwas, was ich nicht gelernt habe.
Da hilft auch keine Argumentation über „privilegierte Mittelschicht“, „jammern“ und all die anderen Vorwürfe, die durch die sozialen Medien jagen, sobald einer das obligatorische Schweigen bricht. „Wie kann sie es wagen? Sie hat ein Dach über dem Kopf, friert nicht und hat genug zu essen. So viel Rücksichtslosigkeit, wie sie an den Tag legt …“ Natürlich können wir das aushalten. Und doch: Diese Meinungen erschrecken mich. Die völlige Bedürfnislosigkeit als Ziel, schweigen, wegdrängen, denn „anderen geht es schlechter“. Emotionen sind unberechtigt geworden, wenn sie sich um jetzt „bedeutungslose Alltagsdinge“ drehen. Der Mensch als Maschine. Und wer daran scheitert, muss sich wenigstens spalten, in innen und außen aufteilen. Mit Sicherheit kann das gelingen. Aber muss es das?

Das Gefühl, fremdbestimmt zu sein, lässt mich nicht los, breitet eine Unruhe in mir aus, sodass ich hin- und herlaufe, vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer und wieder zurück, minutenlang. „Wohnungsspaziergang machen“. Ich brauche keinen Würfel für eine Liste nicht ernst gemeinter Tätigkeiten. Ich mache diese Tätigkeiten schon längst.

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Kommentare zu diesem Text


 kalira (11.04.20)
durch die wohnung zu schlendern wird vielleicht bald nicht mehr zur kunst sondern zur alltagsgewohnheit gezählt werden ;) wer weiß wer weiß .... ich mag den text!

aus meiner ganz eigenen perspektive gesprochen, muss ich sagen, das tägliche gefühl, morgens die einzige zu sein, die der arbeit wegen die wohnung und den hof, das haus und sogar den kiez verlässt, fühlt sich ebenso merkwürdig an. es ist ein gefühl von ähnlichem alleinsein.

 unangepasste meinte dazu am 11.04.20:
Ja, das kann ich mir vorstellen. Home Office ist schon ein Glück. Ich habe neulich gelesen, dass nur 29% bisher auf Home Office umgestellt wurden. Ich habe ein, zwei Kollegen, die gelegentlich freiwillig ins Büro fahren - wohl überwiegend, weil sie einfach mal raus müssen. Bei den leeren Räumen dort bestimmt auch ein merkwürdiges Gefühl.

 kalira antwortete darauf am 11.04.20:
homeoffice ist eine herausforderung, meiner ansicht und erfahrung nach, wie derzeit alles eine herausforderung zu sein scheint. :)
auf den text bezogen, der gekonnt mit einer aktuellen realität umgeht bzw aus dieser seinen erzählinhalt zieht, möchte ich sagen, ist es gelungen aufzuzeigen, dass das alltägliche auch in ausnahmesituationen nichts absonderliches geworden ist. auch in "krisenzeiten" ist die sehnsucht nach partnerschaft da. und vielleicht liegt darin das drama, dass ich als mensch mir vielleicht gar nicht mehr erlaube, menschlichen bedürfnissen nachzugehen, weil es in der "krise" doch wichtigere dinge gibt ?
mir scheint, die augen immer ganz offen zu halten, ist ein ding der unmöglichkeit. wenn ich sie aber ein wenig verschließe, sieht die welt gleich anders aus, und noch anders werden die kommentare über meine halbweltsicht ... hm.

Antwort geändert am 11.04.2020 um 18:20 Uhr

 unangepasste schrieb daraufhin am 11.04.20:
"und vielleicht liegt darin das drama, dass ich als mensch mir vielleicht gar nicht mehr erlaube, menschlichen bedürfnissen nachzugehen, weil es in der "krise" doch wichtigere dinge gibt ?

Genau. Und das verbunden mit der aktuellen Emotionalität, die bei dem Thema fast überall aufkommt, kann zu merkwürdigen Situationen führen.

Auch wenn man die Augen ganz offen hält, man kann nur schwer alles erfassen und einschätzen, daher muss man mit einer Meinung vielleicht vorsichtig sein - was es aber in all dem noch gibt, sind menschliche Bedürfnisse, subjektive Gefühle, und ich finde, all das ist zulässig, und diese subjektive Wahrheit darf in all ihren Facetten ausgedrückt und erlebt, zugelassen und akzeptiert werden. Jedenfalls sollte es so sein.

 Regina (11.04.20)
Das Schicksal ist kein Wunschkonzert. Da sind die einen unglücklich zusammen, die anderen einsam. Aber Probleme bestanden schon zuvor. Und ist auf die Arbeit schieben bis zur Übermüdung keine Fremdbestimmung gewesen? Vorübergehend mal keine Ansprüche stellen an Urlaub, Luxus, immerwährende Party und flüchtige kontakte? Und das Gesundheitssystem? Der Notarzt soll doch immer kommen, für jeden sturzbesoffenen, bei jedem durch Raserei verursachten Unfall. Millionen haben nicht, was wir gewohnt sind. Also, ich möchte keine Zustände wie in der Lombardei und klage nicht.

 unangepasste äußerte darauf am 11.04.20:
Ach, ich wusste es. Auf diese Kommentare habe ich gewartet. Und ja: Die Arbeit ist Fremdbestimmung, und Home Office ist eine riesige Erleichterung, da man es selbst bei den üblichen zwei Überstunden pro Tag noch schafft, seine Wohnung zu saugen und etwas im Kühlschrank zu haben. Das sollte aus dem Text (hoffentlich) auch hervorgehen.

 Regina ergänzte dazu am 11.04.20:
Das wird der arb.geber hoffentlich auch weiterhin einsehen. Aber diese fragen stehen ja aktuell nicht im Vordergrund sondern die Dynamik dieser Infektionskrankheit.

 unangepasste meinte dazu am 11.04.20:
Ja, das stimmt. Ich würde mir wünschen, dass am Ende einige Arbeitgeber Konsequenzen aus den Erfahrungen ziehen und sich die Pendlermassen zwischen den Städten auf lange Sicht reduziert (für die Menschen und für die Umwelt). Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung sprechen, aber da kann ich sagen: Es funktioniert einwandfrei und die Produktivität leidet in keiner Weise. Und für den Austausch unter Kollegen hatte der Chef auch eine gute Idee: Wir haben ein tägliches virtuelles "Kaffeekränzchen" von einer Viertelstunde. Das hat den Kontakt eher intensiviert.

 Augustus (11.04.20)
salve,

zunächst sei festgestellt, dass die Prot. sich zwar nach einem Partner sehnt, jedoch nicht gewillt ist sich mit einem Surrogat zufrieden zu geben, da der letzte Partner (die Gründe bleiben verborgen, warum er nicht mehr existiert) durchaus hoch die Hürde für den nächsten Anwärter aufgestellt hat.
Die Volksweisheit, die besagt, es wird die Verlassene über den Vorherigen schon der Nächste zu trösten wissen, schlägt hier fehl.
Allerdings muss auch sagen, dass das Gespinst des Vorgängers den Gemächern der Herzkammern der Prot. noch nicht entwichen ist, weswegen pfeilsicher gesagt werden darf, dass der spukende Geist noch nicht eingefangen und in der Truhe verwahrt worden ist.
Darüber hinaus merkt die Prot. dass sich zu einem einzigen Zeitpunkt Fälle ereignen - nicht nur die Sehnsucht nach einem Partner - sondern auch noch die Familie und Freunde mit ihren unzureichenden Ansichten zu Wort melden und dadurch nur noch mehr die Unvollkommenheit der Prot. spüren lassen.

Allerdings finden sich im Text noch Spuren von Witz und Ironie, wenn das streitende Paar im Haus beschrieben wird, weswegen m.E. speziell dieser Teil des Textes sehr zu begrüßen ist. Diese Schilderung ist eine ironische und sarkastische Wendung im Text. Anzumerken sei vllt. noch, dass die Autorin solche Kunstgriffe eher meidet und andere Textformen bevorzugt, weswegen gerade dieser Text aus der Fülle der bisher geschriebenen - anders auffallend herausfällt.

Ave

 unangepasste meinte dazu am 11.04.20:
Da stimme ich dir zu. Der nächste kann nicht über den vorherigen hinwegtrösten - höchstens vielleicht die Gedanken an ihn ein wenig mehr in den Hintergrund drängen.
Freut mich, dass dir Witz und Ironie hier gefallen. Bei solch heiklem Thema kann dieses Stilmittel nur helfen, denke ich - und auch vor Anfeindungen schützen, denen man zur Zeit sehr schnell ausgesetzt ist, wenn man nicht gänzlich aufhört zu schreiben. Was schade wäre.
europa (44)
(11.04.20)
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 unangepasste meinte dazu am 11.04.20:
Ganz genau, das trifft es auf den Punkt!

 W-M (12.04.20)
gut und interessant ... mein fazit: alles geschieht sowieso immer gleichzeitig, geburt, tod usw., und man ist immer allein. ein dichter/eine dichterin, vielleicht mehr als andere, hat dies alles auch im kopf, in seinem/ihrem gedicht, das ist nichts neues, in gedichten macht man ständig "wohnzimmerspaziergänge" oder "kauft alleine ein" ... und, in einem kleinen gedichte-zyklus, an dem ich mich aktuell versuche, zum bevorstehenden todestag von Paul Celan, schrieb ich vor kurzem: "alles sterben geschieht gleichzeitig und jetzt / genau in diesem augenblick" vielleicht auch auferstehung (damit es zur osterbotschaft passt)? diese ganze "corona-zeit" führt es uns nur wieder einmal deutlich vor augen und lässt uns (einige wenigstens) manchmal wieder an wesentliches denken, dass wir philosophisch oder religiös werden?! anregender text, gerne gelesen.

 unangepasste meinte dazu am 12.04.20:
Diesen Zeit-Theorien mit dem Gleichzeitig-Konzept kann ich immer sehr schwer folgen (bei Max Frisch im Tagebuch gibt es da auch etwas), aber ich finde den Gedanken spannend. Ich kann es nur mit meinem begrenzten menschlichen Gehirn und Empfinden nicht nachfühlen.
Aber stimmt, in Gedichten sind Grenzen und Regeln sowieso aufgehoben und es entsteht ein Eigenleben, das manchmal auch an die Welt von jetzt erinnert. Manchmal stoße ich auf alte Texte und lese sie auf einmal ganz anders vor diesem Hintergrund.
Sätzer (77)
(13.04.20)
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