Okay, wir treffen uns also im Extrablatt, einem Kettenladen in A-Lage, ein Durchlauferhitzer für Menschenfleisch. Ich stehe eher auf die inhabergeführte Spelunke in der Seitengasse, wo die Leute zu alt oder zu betrunken sind, um ihr Smartphone zu zücken und dämliche Selfies zu machen, und wo es statthaft ist, seinen Verstand mit Alkohol zu bekämpfen. Auch das Licht in der Spelunke ist angenehmer, ganz einfach weil es fehlt, aber V. mag eben lieber im grell beleuchteten Schaufenster mit Blick auf die vorüberströmende Konsumviehherde sitzen. Meinetwegen.
Was die Effektivität angeht, sind konventionelle Datingportale und Tinder in etwa gleich gut. Tinder ist allerdings brutal effizient. Kein Ankreuzen von irgendwelchen dämlichen Eigenschaften, die man selbst zu haben glaubt oder an der potentiellen Partnerin gerne hätte. Kein Tippen von schwülstigen Texten in Fenster ohne Zeichenlimit. Swipen, matchen, daten, ficken. Ich liebe es.
„Jaundwasmachstduso?“ fragt V.
„Ich bin Ergotherapeut.“
Sie nickt wissend. „Mhm. Da musste ich auch mal hin. War nach einem Autounfall, ich hatte einen komplizierten Armbruch und eine Hüftfraktur.“
„Dann war es vermutlich ein Physiotherapeut.“
„Ja, hihihi, kicherkicher, natürlich, das meine ich ja auch. Ja, und gefällt dir das, also dein Beruf als Physiotherapeut?“
Genau deswegen glühe ich vor. In aller Regel habe ich eine angebrochene Flasche Osaft im Kühlschrank, die ich mit Wodka auffülle und auf dem Weg zum Date austrinke.
„Geht so“, antworte ich und schlürfe den Rest koffeinhaltige Spucke aus meinem Irish Coffee. „Also hör mal zu, V. Es ist, wie wir schon geschrieben haben. Ich hab keinen Bock darauf, dass du mir Teilnahmslosigkeit als Unterwerfung verkaufst, okay? Das hatte ich leider schon diverse Male. Ich meine, ich bin nicht nekrophil.“
Sie nickt. Ich erkenne in ihren kuhbraunen Augen, dass sie die Hälfte des Gesagten nicht verstanden hat, und ich überlege, ob ich mein Anliegen auch in Emojis darstellen könnte, damit sie begreift, worum es mir geht.
Mein vorletztes Tinder-Date, H., die hatte Power. Ich hätte uns filmen sollen, denn dann könnte ich V. nun ein Lehrvideo zeigen und müsste nicht daherpalawern wie ein engagierter Heilerziehungspfleger. H.s Hingabe und ihre Lautstärke hatten die besorgten Nachbarn dazu bewogen, die Polizei zu rufen. Ich konnte hinterher sagen: Ja, ich habe es GESPÜRT! Leider hatte H. mir anschließend das Koks aus dem Tiefkühlfach geklaut, also werde ich das Miststück sicher nicht mehr einladen.
V. nippt an ihrer Roséschorle. Das Zeug hat die Farbe von Industriereiniger, irgendwie neonrosa, bzw. neonterracotta, ich kann es gar nicht beschreiben. „Hm“, sagt sie und schaut aus dem Fenster. Dann fragt sie: „Hast du häufig Tinder-Dates?“
„Hm?“ Ich blicke von meinem Smartphone auf. Hatte gerade mit T. geschrieben, die ich wahrscheinlich morgen treffen werde. „Nö, kaum. Du bist erst die Zweite.“ In dieser Woche, und es ist gerade mal Mittwoch, Bitch. Kurz, bevor mein Vater mich enterbt hat, hat er mich gefragt, worin ich den Sinn des Lebens sähe, denn er habe den Eindruck, dass es für mich keinen Sinn in Irgendwas gäbe. Ich sagte: meinen Samen verstreuen wie eine Pusteblume. Aber rechne nicht mit Enkelkindern.
V. ist von Beruf Thekenschlampe. Nicht in einer Bar, sondern in einer Autovermietung. Sie drückt den Leuten Klemmbretter und Autoschlüssel in die Hand und macht Fotokopien von Führerscheinen. In meiner Fantasie trägt sie die Uniform ihres Arbeitgebers. Ich locke sie zu einem Transporter, werfe sie in den Rückraum, reiße ihr die Dienstkleidung vom Leib und würge sie mit beiden Händen, während ich sie auf der harten, schmutzigen Ladefläche ficke, bis sie das Bewusstsein verliert.
„An was denkst du gerade?“
„An neulich, als ich aus einer Facebookgruppe ausgetreten bin, weil mir die Statements zu sexualisierend waren. Ich meine, Sex ist schön, aber muss es immer um Sex gehen?“
Sie hat total Verständnis für meine Position.
„Also, zurück zum Thema. Gehen wir zu dir? Ist schließlich um die Ecke. Zu mir müssten wir durch die halbe Stadt gondeln.“
V. nickt erfreut. Es ist erschreckend, wie viele Frauen einen einfach so mit nach Hause nehmen, obwohl sie einen nur als Match und Kneipenstuhlhocker kennen und man ja schließlich ein blutgeiler Ritualmörder oder sonstwas in der Richtung sein könnte. Aber wenn ich mein Lebenssinnkonzept auf andere Menschen übertrage, sind wir sowieso nur Blumen. Die einen blühen und welken, die anderen kommen unter den Rasenmäher, wieder andere werden gepflückt. Manche wachsen in Plastikkästen, andere im Freiland, und wieder andere … ach, scheiß drauf.
„Wir möchten zahlen.“ Getrennt natürlich. Bei der Frequenz kann ich nicht großzügig sein. Wir Physiotherapeuten sind keine reichen Leute.