Weltgeschichte

Text zum Thema Ausweglosigkeit/ Dilemma

von  Andalp

In einem Bottich mit Traubensaft schwimmen Hefen. Sie sind tapfere Kerle, das muss man sagen. Sie haben die beschwerliche Odyssee unter Trauben aus dem Weingarten ihrer Vorfahren mitgemacht, wurden von zyklopischen Apparaturen zermalmt, durch Siebe und Rohre gejagt.

Aber jetzt beginnt ihr Aufstieg. Sie trinken süßen Saft, sind glücklich und vermehren sich. Hefokrit beobachtet, fragt Reisende, denkt nach und entwickelt eine Philosophie der Welt im Inneren des Gärbottichs. In der Mitte seines Lebens, also ungefähr in der dreißigsten Minute, postuliert Hefokrit: Die Welt besteht aus Materie, wir Hefen sind auch aus Materie, und Probleme müssen wir selber lösen, uns kommt kein Heiliger Geist zu Hilfe. Sein Schüler Justus von Hefig, ein Chemiker, entdeckt die Zusammensetzung ihrer Welt. Der Traubensaft, so lehrt Justus von Hefig, besteht aus Wasser, Zucker und Luft mit Sauerstoff. Von Hefig stellt in Selbstversuchen fest, dass Hefen Sauerstoff ein- und Gift ausatmen, das Kohlenstoffoxid. Aber das sei vernachlässigbar, bei dem riesigen Volumen der Welt. Da muss man sich jetzt nicht gleich einen Kopf drum machen.

Jedoch, so lehrt Justus von weiter, habe ich eine übelriechende Flüssigkeit gefunden, die Folge unseres Zuckerverzehrs, den Alkohol. Und den sollte man im Auge behalten! Der ist schwer giftig und bleibt in unserer Welt, kein Wesen und kein physikalischer Trick schaffen ihn schnell genug heraus. Ein Indikator ist das Klima. Die Aktivität aller Hefen erhöht die Temperatur, und mehr Wärme verstärkt die Aktivität, ein Teufelskreis. Das geht auch sehr langsam, nur gute Geräte messen es.
Am eigenen Leib wird man es erst merken, wenn es zu spät ist.

Die Sache wird zum Skandal. Bevölkerung und Wirtschaft wachsen rasant. Forscher vermessen die Welt bis an die Grenzen und finden harte Fakten. Der Bottich fasst tausend Liter, klingt zwar nach viel, ist jedoch endlich. Der Zucker industriell geschürft, zeigt Verknappung. Es kommt zu Preissprüngen, Versorgungsengpässen, Hungersnöten und Kriegen. Artilleriesalven von Kohlenstoffdioxid-Blasen bringen die untersten Hefeschichten im Kessel zum Kochen, während die Oberschicht der Finanzmagnaten und Wirtschaftsbosse im Überfluss schwelgt. Niemand sieht einen Grund zur Trendwende, die Profite und Renditen aus dem Zucker fließen reichlich. Für den Alfred-Hefel-Preis nominierte Wissenschaftler treten an die Öffentlichkeit und sagen: Wenn wir ungebremst weiter verbrauchen, ohne teure Abfall-Technologie, geht die ganze Hefheit am Alkohol zugrunde. Uns bleiben noch zehn Tage, genug Zeit zum Gegensteuern. Erst kommen Turbulenzen und Alkoholleichen. Bei zwölf Prozent ist Schluss. Es wird keine Überlebenden geben.

Na ja, sagen die Otto-Normal-Heflinge auf ihren Sofas im Kreis ihrer Angehörigen, ein Hefenleben dauert eine gute Stunde, sind da zehn Tage nicht zweihundertvierzig Generationen? Gewaltig! Bis es so weit ist, sind wir, die Kinder, Enkel und Ur- und Ur-Ur-Enkel, schon lange verblichen. Gereift zu Aroma im Wein. Ha-ha! Sollen sich doch in der Zukunft die kümmern, die es wirklich betrifft! Wenn überhaupt. Vielleicht haben sich die Forscher ja doch getäuscht. Oder es kommt ganz anders. Ein Meteoreinschlag, ein Leck in der Weltenwandung, und sei es ein undichter Hahn. Leute, Mithefen! Bleibt ruhig! Unser Leben läuft gerade so gut, wir werden uns doch nicht selbst beschränken! Wo bleiben die Verursacher der Misere, die Industrie, die Regierung, die zuschaut? Sollen die sich doch kümmern! Aber eins steht fest: Was auch kommen mag, es darf nichts kosten, da bin ich strikt dagegen! Das Leben ist schon so teuer genug!

Und so kam es, dass nach Ablauf der Frist der Winzer den reifen Gärkessel anstach, die sterblichen Überreste von Unmengen Hefe-Hyphen abfilterte und aus etlichen Flaschen edlen Getränks keinen unerheblichen Profit zog.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (17.06.20)
Es überrascht mich, daß nicht nur Brauer, sondern auch Winzer mit Hefe arbeiten.
Für den letzten Satz schlage ich vor:
keinen unerheblichen Profit --> einen nicht unerheblichen Profit

 Andalp meinte dazu am 22.06.20:
Keine Frage!
Das kann ich gern machen.

 EkkehartMittelberg (17.06.20)
Dein interessanter Text setzt beim Leser viel Vorbildung voraus. Spielst du mit Hefokrit auf Demokrit an?
Gruß
Ekki

 Andalp antwortete darauf am 22.06.20:
es ist halt ein Text für Leute mit Vorbildung.
Meine Kinder haben alle schon mal einen Blick in Sofies Welt geworfen, und notfalls bildet ja auch dieser Text.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram