Spuren

Short Story

von  Hartmut

Das Thema seiner Doktorarbeit in Physik bekommt Christian N. im November 1963: „Entwicklung eines Datenakquisitionssystems für Mesonen.“ Am gleichen Tag unterschreibt auch Marie Marlene, fünf Jahre jünger als er, einen Arbeitsvertrag am Institut für Kernphysik. Sie besteht den Aufnahmetest, weil sie gute Englischkenntnisse vorweisen kann. In Amsterdam, wo sie vor kurzem noch gewohnt hat, ist man mehrsprachig. Sie ist jetzt nichtwissenschaftliche Mitarbeiterin, Stundenlohn 3,50 DM, ganz unten auf der Lohnskala. Christian wird sie einarbeiten. In einem verdunkelten Raum sind die Spuren von Mesonen auf einem Film zu verfolgen, Elementarteilchen, deren „Lebensdauer“ angeblich nur 0,00000000000000009 Sekunden betragen.
Nachdem die Welt in der Ära Kennedy von einer nuklearen Katastrophe in letzter Minute verschont geblieben ist, stürzen sich die Industrieländer auf die Nutzung der Atomenergie. Dein Freund, das Atom heißt es.

Marie sitzt acht Stunden in einem verdunkelten Raum und misst die Spuren, weiße Linien auf schwarzem Filmmaterial, gerade, mal gekrümmt als Spirale oder nur als Punkt. Es sind die Spuren von zufälligen Ereignissen, Kollisionen  voller Geheimnisse, die wir wahrscheinlich einmal verstehen werden – oder auch nie.
Der kommende Doktor ist auf sie angewiesen, auf ihre Augen, ihren Zeige- und Mittelfinger, die zusammen die Lage der Spuren in einem xy-Koordinatensystem beschreiben sollen.
Wenn sie zusammensitzen in der Dunkelheit des Raumes und der Wissenschaft, führt er schon mal ihre Hand, damit auch kein Fehler bei der kommenden Weltformel gemacht wird. Einmal schaut er wie elektrisiert auf den Film und murmelt: „Vielleicht doch ein Neutronenstrahl.“ Einmal ist es umgekehrt, sie führt die seine und sie drückt nicht nur den Mikrotaster, sondern auch seine Hand, nicht fest aber bestimmt und sagt leise: „Ich habe gelesen die Amerikaner arbeiten an einer neuen Bombe, eine Neutronenbombe, die Städte schont und nur die Menschen tötet.“

Auf einem Fest des Instituts wird auch Marie eingeladen, der Rektor ist gekommen und lässt sich mit (seiner) Magnifizenz anreden.
Erst spät wird getanzt, und als ein Song der Beatles gespielt wird, geht sie alleine auf die Tanzfläche. Ihr langer, bunter Rock fällt auf, ein Batik-T-Shirt darüber, schlank ist sie, die Haare sonst streng von einem Band gehalten hat sie losgebunden :Love me do!
In der Nacht hat es plötzlich geschneit, die Straßen sind unpassierbar. „Sie sollten bei mir übernachten, ich wohne ganz hier in der Nähe.“ Sie schaut ihn an, den ganzen Abend haben sie kaum ein Wort miteinander gesprochen, er hilft ihr in den Mantel und sie geht mit.
Bei ihm zu Hause dreht sie sich einen Joint. „Aus meiner Heimatstadt, beste Ware, zum Träumen. Willst du auch einen?“, und geht zu seiner Plattensammlung. „Oh, nicht nur Wagner”, bemerkt sie und sucht sich eine aus. „Freedom is another word for nothing left to lose”, singt sie leise mit. Dann ist sie nur noch müde und schläft auf dem Sofa ein.

Christian, aufgewachsen in einer katholischen Welt, ist verlobt. Ein gar nicht so seltenes Verbot hat sich das Paar auferlegt. Sie schlafen noch nicht miteinander, nicht vor der Ehe. Der Vater seiner Verlobten, ein Frauenarzt, verschreibt die „Pille“ nur an Ehefrauen.
Erst gegen Morgen kommt sie in sein Bett und sucht seine Wärme. „Ik heb vreselijk koud, waarom slapen jullie moffen met het raam open?“
 

Später, viel später treffen sie sich zufällig auf der Urlaubsinsel Vlieland nördlich von Amsterdam auf einem „Fietspad“, einer schmalen Spur aus weißen Muscheln.

Die Welt hat sich weiter von christlichen Dogmen entfernt, eine sich beschleunigende Ausdehnung des Universums wurde gemessen, Antimaterie und schwarze Löcher, Mesonen und ihre Kindeskinder, virtuelle Teilchen, mathematische Kopfgeburten, ein Teilchen mit dem Namen „Higgs“ gefunden und das bis dahin unbekannte Wort „GAU“ wurde Realität.
Ihre einst dunkelblonden Haare trägt sie kurz, jetzt sind sie grau geworden. „Hallo Herr Doktor“, begrüßt sie ihn. Christian ist mit seinen beiden Töchtern unterwegs. Als sie sich verabschieden, legt sie ihre Hand auf seine und sagt lächelnd: „Ich habe mich zu oft verliebt und dann später den falschen Mann geheiratet.“
Er spürt einen leichten Druck – wie damals.


Anmerkung von Hartmut:

vor Jahren schon einmal geschrieben....

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