Ein kranker Bastard

Geschichte zum Thema Leistungsdruck

von  Terminator

Die einzige Eisdiele im Ferienort

Steinstedt stand nicht gern schlange, er war ein vielbeschäftigter Mann. An jenem sonnigen Sonntag stellte er sich jedoch geduldig in die lange Schlange vor eine Eisdiele, die ebengerade den Tag mit den meisten Besuchern seit ihrem Bestehen hatte. Steinstedt starrte auf die neue Kaffeemaschine, wechselte dann freundliche Blicke mit einem eishungrigen Bengel und einem kleinen schüchternen Mädchen. Die Mutter des Mädchens warf Steinstedt sofort einen hasserfüllten Blick zu, als sei er pädophil, den er mit einem Blick, als sei sie eine Straßenhure, erwiderte. Die Schlange stockte währenddessen, es war ja auch nur eine Verkäuferin da: die Inhaberin. Ein Mann, einen Kopf größer als Steinstedt, stellte sich demonstrativ schützend vor das kleine Mädchen, so als ob Steinstedt das Kind bedroht hätte. Steinstedt streckte sich gähnend, damit der Mann seien austrainierten Bizeps sah, worauf sich der Hahnrei beruhigte, und auf den Boden blickte, wo sein Blick auch hingehörte.

Steinstedt war des Schlangestehens müde und holte seine große Brieftasche aus der dicken Hose. Er zählte die Scheine und ging an der Schlange vorbei direkt zur Inhaberin, die auch die einzige Verkäuferin war. Er legte die Scheine auf den Tresen und sagte: „Ich kaufe Ihre Eisdiele, wenn Sie sofort verkaufen“. Die müde Frau zögerte nicht, und hatte drei Minuten später ihren wohlverdienten Feierabend, während Steinstedt die Glastüren der Eisdiele eine nach der anderen schloss, und das Eis keines Blickes würdigte. Es regnete enttäuschte bis verzweifelte Kindertränen. Steinstedt machte sich in aller Ruhe einen Kaffee, während weinende Kinder gegen die Glastüren hämmerten, und von ihren Eltern und alleinerziehenden Müttern nicht von der Eisdiele wegzubewegen waren. Um des größeren Sadismus willen holte Steinstedt einen herrenlosen Bengel hinein, ebenjenen Bengel, mit dem er einige Minuten zuvor freundliche Blicke ausgetauscht hatte, wie freundliche Menschen das eben tun. Während der Bengel vor den Augen anderer Kinder und deren Eltern und alleinerziehender Mütter die Eissorten kreuz und quer durchprobierte, trank Steinstedt seinen wohlverdienten Kaffee.



Steinstedt ist zurück

Steinstedt gähnte. Professor Afdewählius redete schon seit drei Stunden und war immer noch nicht fertig. Er sprach von demographischen Problemen, die auf Deutschland in den nächsten Jahrzehnten zukommen würden, während Steinstedt auf seinem Stuhl rutschte und es nicht mehr erwarten konnte. Übermüdet und verärgert sprang er zwanzig Sekunden früher auf, als der Attentäter auf Professor Afdewählius zulief. Und so blieb dem Attentäter-Darsteller nichts anderes übrig, als das Messer noch fünf Schritte vor dem Podium auf den Boden zu werfen und sich hinzuknien, während Steinstedt erschrak, dass er zu früh aufgesprungen war, und sich wieder auf seinen Platz setzte.  Professor Afdewählius war ratlos, also redete er einfach weiter, während der Attentäterdarsteller leise das Messer aufhob und sich wegschlich.

“Was war das?” fragte der Moderator Cedul nach dem Vortrag und vermutete vermutlich eine Künstleraktion dahinter, bis er sah, wie der Attentäterdarsteller Professor Afdewählius aggressiv um das versprochene Honorar anbettelte. Schließlich sei Steinstedt schuld, dass die Aktion nicht so gelaufen war wie geplant. Professor Afdewählius rief Steinstedt abseits des Banketts zu sich und fragte, warum dieser nicht aufgepasst habe. Da er dem  Attentäterdarsteller den Honorar verweigerte, rief dieser entnervt: “Nazis! Fickt euch mit eurem Attentat!” Da ergriff Professor Afdewählius das Wort: “Haha, sehen Sie, verehrte Damen und Herren, wir sind derart beliebt, derart in der Mehrheit, dass wir schon die Attentäter selbst bezahlen müssen, damit sie uns angreifen!” Der ganze Saal klatschte, aber die Leute wollten auch Gewalt sehen. Steinstedt suchte sich den am grünsten aussehenden Linken aus und begann eine Jagd. Der Hase lief und sprang, aber Steinstedt war flinker und schneller, und holte ihn schließlich ein. “Ich habe seit 60 Stunden nicht geschlafen, Leute, seid so nett, und sagt mir einfach, was ich mit ihm tun soll. Mein Kopf funktioniert nicht mehr, sorry. Ihr sagt, ich mache”.

Die Menge im Saal war begeistert. “Schlag ihm in die Fresse!” schrie eine bürgerliche Dame Mitte 50. Steinstedt tat dies. “Tritt ihm in den Bauch!” rief ein älterer Herr. Auch dies tat Steinstedt. “Jetzt tritt ihm in die Fresse!” wieherte eine Seniorin im Rollstuhl vor Begeisterung. Steinstedt holte aus, fiel aber hin, rutschte halt aus, war halt müde. Er fiel dabei etwas unglücklich auf den Kopf, war dann verwirrt, und verprügelte auf einmal all jene, die ihm soeben Gewaltbefehle erteilt hatten, mit einem Schlagstock. Bis ihn Professor Afdewählius zur Seite riss und fragte: “Was machst du denn, Junge?” So ungeschickt hatte sich Steinstedt damals in seinem Nebenjob angestellt, als er Student war und nicht wusste, wovon er die Miete für sein Penthaus in der City bezahlen sollte.



Gerechtigkeit

“Gerechtigkeit!” lachte Steinstedt, “Sagt doch lieber gleich Milde, Gnade, Gleichmacherei, das ist doch, was ihr mit Gerechtigkeit meint!” Die Studenten am Linken-Stand waren nicht begeistert, Steinstedt ging auf die andere Straßenseite zur AfD, während er dachte: “Gerechtigkeit ist in dieser Gesellschaft marginalisiert, ja kriminalisiert. Gerechtigkeit existiert nicht mehr real, es sind nur noch Gerechtigkeitsphantasien erlaubt: Batman, Punisher...” “Haben diese Schwuchteln für straffreien Sex mit Kindern agitiert?” fragte der AfD-Werber Steinstedt. “Nein, nur für soziale Gerechtigkeit”. “Was für Kommunistenschweine, nicht?” “Werdet erstmal eure Nazischweine los, dann können wir über die Kommunistenschweine reden”. Steinstedt trank am AfD-Stand noch einen Kaffee, während die von ihm beleidigte Leberwurst ihn demonstrativ ignorierte. Da kam endlich Professor Afdewählius im Rollstuhl angerauscht, mit dem sein alter Student eigentlich reden wollte. “Über die ersten Buchstaben in meinem Nachnamen bin inzwischen gar nicht mehr glücklich”, klagte der emeritierte Akademiker.

Auf dem Heimweg ging Steinstedt an einer Gesamtschule vorbei, wo im Hof ein anscheinend geistig behinderter Junge von einer geschlechtlich bunt gemischten Gruppe aus älteren Jugendlichen schon zum n-ten Mal misshandelt wurde. Steinstedt schaute diesmal nicht weg, sondern verscheuchte die Meute mit einem ernsten Blick und fragte den den Schulhof beaufsichtigenden Lehrer, warum dieser den Schulhof nicht beaufsichtigte. Der fette Trottel stöhnte nur und aß weiter sein Pausenbrot. Als Steinstedt eine Woche später an demselben Schulhof vorbeiging, wurde der behinderte Junge nachgeäfft, mit Saft begossen und mit Kastanien beworfen. Steinstedt blieb stehen. Zwei Mädchen machten sich nun einen Spaß daraus, den Jungen heftig zu ohrfeigen, während der Rest der Gruppe darüber lachte, dass er, wie sie es nannten, Angst vor Mädchen hatte. Steinstedt stieg über den Zaun und ging entschlossenen Schrittes auf die Gruppe zu. Er haute einen Elftklässler mit einer ordentlichen Ohrfeige um, verpasste einem Mädchen eine Kopfnuss und grätschte dem anderen Mädchen ein rotwürdiges Faul ein. Er schlug zwei Jungen und ein weiteres Mädchen leicht bis mäßig ins Gesicht, während der Opferjunge schnell ins Schulgebäude wegschlich. Bevor Steinstedt den Chef der Clique mitnahm, schaute er noch beim Direktor vorbei, dem er wortlos mit der Faust die Nase brach.

Den Anführer der Schulhofgang begleitete Steinstedt nach Hause. Er verprügelte seine Eltern krankenhausreif und ließ den Halbstarken zusehen. Dann verprügelte er auch den Bengel und rief einen Krankenwagen. Auf dem Weg zur Kneipe, in der er bei einem Drink über diese verfluchte Degeneratengesellschaft hinwegkommen wollte, sah er, wie ein muslimischer Mitbürger dem vom Rollstuhl gestoßenen Professor Afdewählius metaphorisch ausgedrückt auf die Beine half. Steinstedt fasste mit an, erfuhr, wer die Täter waren, und rief jemanden bei der Polizei an, der diese beiden Skinheads kannte. Der Syrer war Anfang 30, und nahm Steinstedts Einladung auf einen Single Malt an. In der Kneipe sprachen die Männer bis zum Geschäftsschluss über die Almoraviden und Almohaden, über religiösen Extremismus im dunklen Mittelalter und in der aufgeklärten Zeit, die keinen Grund mehr hatte, an Flüche und Hexen, Bündnisse mit dem Teufel und heilige Kriege zu glauben. Hat sich die Haltung der Fundamentalisten geändert? Nein, stellte Steinstedt fest. An mangelnder Aufklärung kann es also nicht liegen. Ein Hass, der Selbstzweck ist, findet immer einen Grund. “Man muss dem Hass mit Gerechtigkeit begegnen” sagte der Syrer in Kants, Goethes und Steinstedts Muttersprache, die er erst letztes Jahr erlernt hatte. “Ohne Gerechtigkeit geht die Gesellschaft zugrunde”, stellte Steinstedt fest und ging nach Hause.


Anmerkung von Terminator:

7.2018/1.2019/1.2019

"Erst war Pervers das neue Geil, dann war Krank das neue Pervers." (der Laudator bei der Verleihung des VW-Turm-Schwanzvergleichspreises von Hannover, 2020).

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