In der Unterwelt. Gobios Blind Date 20.

Kommentar

von  Willibald

Blind Date 20
Novelle zum Thema Beziehung

Der Tegernsee ist mir von allen Seen der liebste. Ich kenne ihn, seit ich denken kann.

Ich hab ein Schwarzweißfoto, wo man mich, im Strandhöschen sitzend, ein Eis schlecken sieht, im Hintergrund der See, der Riederstein und der Wallberg. Neben mir steht hoch aufgerichtet ein schlanker Mann im Nadelstreifenanzug; sein Gesicht unter der Hutkrempe ist nicht zu erkennen, weil er zurück auf das sonnenglitzernde Wasser blickt. Ich bin wohl noch keine drei Jahre alt, auf dem Bild, und der Mann, sagte mir meine Tante einmal, wär mein Vater gewesen.

Der See war mir immer überschaubar. Ich kann ihn in allen Richtungen durchschwimmen und finde immer zurück, selbst nachts, bei Regen und Wind. Ich kenne alle seine Ufer und weiß auch unter Wasser immer, wo ich gerade bin – zwischen Gmund und St. Quirin das Schilf und der feine Sand; vor Tegernsee der Unrat zweier Jahrhunderte, von der Promenade die Halden hinuntergestürzt; vor Rottach der schwarzbraune Schlick, den der Fluss von den beweideten Almen mitbringt; vor Wiessee der jähe Abbruch in die Tiefe, die Kiesfrachten der zulaufenden Wildbäche verschlingend; dann Kaltenbrunn, seicht, sanft, die Armleuchteralgen wehend im Drift.

Heute spiegeln sich die Farben des Feuerwerks nicht in blankem Eis, sondern brechen sich in den Wellen, die der von den Bergen herunterfallende warme Nachtwind vor sich herschiebt. Ich hab versucht, das Meermädchen zu erreichen und ihm zu sagen, wie einsam man sein kann, an Land, mitten unter Tausenden. Seine Stimme war da, für einen ganz kurzen Augenblick, dann verweht in den Stimmen der Anderen.

Ich möchte zwischen den Fischen ins Neujahr hinein schlafen. Blausilberne Renken, orangefarbene Saiblinge, grüne Forellen, rubinroter Hecht und goldene Schleien. Sie wissen nicht, wer ich bin, obwohl ich sie alle zur Welt gebracht habe; ich bin ihnen gleichgültig, obwohl sie mir alles verdanken; sie fürchten mich nicht, obwohl der Tag kommen wird, an dem ich sie töten muss. Ich weiß mehr als sie, und doch nützt es mir nichts.

Sie sind die Vollkommenen.

 Blind Date

Die diffuse Ordnung der Textwelt

Wer die Folgen von „Blind Date“ gelesen hat, weiß, dass sich der Begriff „Blind Date“ aus seiner Normalbedeutung herausbewegt hat. Es geht nicht mehr um einen Erstkontakt mit Erkennungszeichen. Es hat sich eine intensive Beziehung ergeben.  Und vielleicht ist der Leser darauf gestoßen, dass sich der Autor/die Autorin als „Gobio“, als  „Gründling“,  bezeichnet, der im Wasser lebt und an Land sein Biotop kaum findet.

Drei Beziehungen sind im Text zentral.
Eine mit einer Vaterfigur – vielleicht. Ein Kind aus der nahen Ferne einen Mann mit Hut und Nadelstreifenanzug betrachtend, genau genommen ein erwachsenes Kind, das jetzt dieses Foto aus der Vorzeit betrachtet. Der Kontakt ist wohl so wenig ausgeprägt, die Fremdheit, die Unsicherheit ist wohl so groß, dass es die Information der Tante braucht, wer dieser Mann ist.

Die zweite Beziehung, die mit einer Frau,  ist kombiniert mit einer Nichtbegegnung,  eingelagert in eine Neujahrsnacht. Wieder also nur bedingt eine Kontaktnähe. Ein erwachsenes Ich versucht einen Telefonanruf bei der Geliebten. Die „Stimme war da“, aber sie verflüchtigt sich.

Drittens gibt es eine intensive  Liebesbeziehung, wenn auch seltsam verlagert. Sie ist weniger personenorientiert, vielmehr  geht es um den Ort, den Tegernsee, die Wasserwelt, weniger im Oben als im Unten. Und eine gewisse Vertrautheit samt Nähe ist zu verzeichnen, ein Biotop, tatsächlich „überschaubar“. Eine tragende Beziehung, so scheint es.

Man sehe sich weitere  Details dazu an:

Keine Eisdecke des Sees - wie wohl sonst -  als Spiegel des Feuerwerks in der Neujahrsnacht. Der  vergebliche Versuch, einen Partner anzurufen und mit ihm länger zu sprechen. Am  Ende ein  Wunsch, nicht wie erwartet der Wunsch nach Kontakt mit der angerufenen „Sie“, sondern den Wunsch „zwischen den Fischen zu schlafen“. Und das alles  endet mit einer Apotheose der Fische: „Sie sind die Vollkommenen“.  Und es gibt den Tag, an dem der Akteur der Geschichte „sie töten muss“. Die dritte Beziehung hat das letzte Wort.

Der Erzähler

Im vorliegenden Geschehen findet sich ein Ich-Erzähler (Stanzel, Nünning, Schmid, Genettes „homo/autodiegetische Erzählinstanz“), Akteur und Kommunikator zusammen. Der normalerweise  gängige Gebrauch des Imperfektes als Erzähltempus signalisiert die Vergangenheit der Ereigniskette und installiert einen Gegenwartspunkt, von dem aus rückschauend erzählt wird.

Hier ist es anders: Im ersten Satz findet sich das Präsens „liebe ich“. Der zweite Satz enthält wieder ein Präsens („sieht man mich“).  Und das Präteritum findet sich an zwei latent markierten Stellen: Die Tante „sagte“, auf dem Foto sei der Vater zu finden. Und bei dem Anrufversuch „war die Stimme da“. Allerdings nur „für einen ganz kurzen Augenblick“.  So geht es denn auch nicht um eine traditionelle Rückschau und Überschau, um Ereignisse in der Außenwelt, die als erzählenswert dem Leser vor Augen geführt werden. Hier geht es mehr um die mentale Verfassung der Orientierungsfigur, ihre mentalen Prozesse.

In ihrer Sprechzeit, in ihrem Bewusstsein befinden wir uns, wir sind weniger Kommunikationspartner in geselliger Runde, sondern Hörer eines inneren Monologes und innerer Bilder. Soweit Kommunikation auch bedeuten kann, sich in ein fremdes Bewusstsein einzufühlen und mit ihm und ihm seiner stillen Rede zuzuhören, dann ist das hier Kommunikation.

Fazit: Unser Autor, unser Text verzichtet auf den Er-Erzähler, kein Nutzen der temporalen und figuralen Distanz, die sich sonst ergeben würde. Vielmehr unredigierter, unzensierter Zugang zu einem inneren Monolog. Sicher auch im Bewusstsein, dass es ein Leser-Gegenüber gibt, ein Gegenüber, das im Fremden das Eigene wahrnimmt und seine Würde schätzt. Die Situationsmächtigkeit des traditionellen Erzählers ist hier nur in Spurenelementen vorhanden. Die Unmittelbarkeit kann dafür ihren Sog entfalten, wenn sich der Leser auf diese Bilder einlässt und sich darin versenkt.

Umfelder

Die Liebeserklärung gilt einem geographisch bestimmbaren Ort und einem emotional besetzten Biotop. Dieses Liebesobjekt „Tegernsee“ bestimmt die Syntax der nachfolgenden Sätze:  „Man“ kann das Ich, das erlebende Ich der Kindheit zusammen mit dem erlebenden, zurückblickenden  Ich, das eine Fotografie betrachtet, sehen. Es gibt „den See, den Riederstein und den Wallberg“. Vertrautes steht im Akkusativ. Man wird hellhörig, wenn dann im Nominativ „ein schlanker Mann im Nadelstreifenaufzug“ auftaucht, aus der Liebesreihe genommen ist, dem Betrachter eher unvertraut und fremd. Es bedarf einer Information von außen: Die Tante hat in der Vergangenheit gesagt, es handle sich hier um den Vater. Ein leicht irritierender Konjunktiv, ein Konjunktiv II im finiten Verb des Plusquamperfektes „wär mein Vater gewesen“

Der Liebesbezug wird nun präsenter und eindrucksvoller: Das erzählende Ich liebt den See als das „überschaubare“ Biotop. Bei aller Ausdehnung eben doch nicht fremd,  sondern in Einzelheiten bekannt und präsent, egal an welchem Punkt das erlebende Ich sich dort aufhält. Ein seltsam erhabenes Biotop in der Tiefe der Oberwelt, für ein menschliches Lebewesen und sein Bewusstsein eine Art erhabenes Umfeld, ohne Lieblichkeit der süßen Art („gestürzt“, „Unrat“, „Schlick“, „jäher Abbruch“), vielmehr fern von Naturgottheiten und deren Sinngebung ein – vielleicht kann man so sagen – ergriffen beschreibender Blick auf die Wasserlandschaft unterhalb und zwischen den Orten oben.  Und dazu manchmal der poetische Atem in der wahrnehmenden und beschreibenden Instanz, wenn etwa im zweiten Absatz die Prosa trochäisch-daktylisch skandiert wird,  untermalt von flankierenden Alliterationen und Assonanzen:

dann Kaltenbrunn, so seicht und sanft, die
Armleuchteralgen wehend im Drift.

Eine Melodie wird vielleicht hörbar?

... meine Töchter führen den nächtlichen Reihn,
und wiegen und tanzen und singen dich ein....

Der dritte Absatz verlässt bis zu einem gewissen Grad das menschenferne, fischnahe Biotop zugunsten der Oberwelt und ihrer Rituale: Kein Spiegeln des Feuerwerks im Eis dieses Jahr an Neujahr.  Und hier ein aktiver Versuch der telefonischen Kontaktaufnahme. Der Versuch einer Situationsbeschreibung, ein Erreichenwollen, ein Anrufen und der sprachliche Versuch  über das Eingeständnis der Einsamkeit „an Land“ den Kontakt (wieder?) zu gewinnen.. Nur ein kurzzeitiger Anfangserfolg „Ihre Stimme war da“, dann ein Abbruch.

Folgerichtig der  Zug zum Vertrauten und zur seegrünen Unterwelt: Ein Schlafen zwischen den Fischen „ins Neujahr hinein“. Sie werden in ihrer Farbpracht benannt „blausilbern, orangefarben, grün, rubinrot, golden“, alles Attribute der Attraktion und der elementaren Schönheit. Es ist nicht klar, ob hier die Farbenwelt imaginiert wird. Und auch die gewisse  Schwarmopulenz (?) lässt stutzen. Sicher aber: Dazu kommt ein weiteres, offensichtlich zentrales Merkmal ihrer Attraktion für das erzählende und erlebende Ich: Die Fische in ihrer Indifferenz, ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschen.
Ihre Furchtlosigkeit, auch wenn sie vom Menschen getötet werden.
Ein eher rätselhafter Schluss, der es in jeder Hinsicht in sich hat:

„Sie wissen nicht, wer du bist; du bist ihnen gleichgültig,
sie fürchten dich nicht,
obwohl der Tag kommt,
an dem du sie töten wirst.

Du weißt mehr als sie,
und doch nützt es dir nichts.
Sie sind die Vollkommenen.“

Lässt sich diese Stimme und ihr Rätsel lesen&verstehen?
Vorsichtig verstehen?

.

....  ein schlanker Mann im Nadelstreifenanzug;
sein Gesicht unter der Hutkrempe ist nicht zu erkennen,
weil er zurück auf das sonnenglitzernde Wasser blickt.

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Kommentare zu diesem Text

gobio (30)
(09.07.21)
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 Willibald meinte dazu am 09.07.21:
Tja, die Farbenpracht der Fische und das Licht legen die Lesart Aquarium nahe, allerdings eben nur sehr indirekt gestützt. Das Aquadome wird ja nicht explizit. Immerhin scheint es hier im Akteur einen Herren und einen Bewunderer der Fischwelt zu geben. Ein artifizielles Behältnis, von Menschen gesetzt, den Herren über Leben und Tod, scheinbar gottgleich und ambivalent in ihrer Sehnsucht nach einer Unterwasserexistenz. Irgendwo am Rande die verdeckte Figur mit Hut.
gobio (30) antwortete darauf am 09.07.21:
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