FABRICIAS TALK OF TOWN. (2) Meldungen zum Genießen.

Glosse

von  Willibald

"Literarisches Flair,  Kaffeehaus-Charme, alles im Literaturhaus München!" So preisen sich die Leute am Salvatorplatz vor Ort. Da gab es ganz  früher einen Friedhof, dann  einen Marktplatz. Jetzt treffen wir uns dort, Literaturaficionados für zwei Stunden am Tisch und dann wieder daheim, daheim weniger echauffiert, aber wir mögen es schon sehr, das Literarische. Draußen und zuhause.

Ich rede von Flaubert, von seiner Madame Bovary, von Salambo oder Salammbo, ich erzähle, dass uns Literatur in eine fremde Welt zieht, die gar nicht fremd ist, dass wir die Grenzen des alltäglichen Erkennens und der Wahrnehmung überschreiten, dass sich Dichter in einer Art Trance beim Schreiben bewegen und dass wir auch in Trance fallen, dass es einen geheimen Zusammenhang der Dinge gibt, dass Flaubert genau das sagt, nämlich dass es eine köstliche Sache sei, zu schreiben, nicht mehr man selbst zu sein, sondern sich in einem ganzen Universum zu bewegen, das man selbst erschaffen hat. Wenn er über diese  wunderbaren Freuden, die er genossen habe, nachdenke, sei er versucht, Gott ein Dankesgebet zu sprechen, wenn  er ihn hören könnte.
Das ist der Genuss, sage ich, den es beim Lesen zu genießen gilt, eine Levitation in freudiger Erkenntnis, emotional und kognitiv, asketisch und hedonistisch.

„Oh Gott, Patricia“, sagt meine Schulfreundin Gabina Gründling, sie leitet eine Aquariumhandlung in Sendling und wetzt gern die Zunge an mir. „O Gott,  Für mich war Madame Bovary so leblos-langweilig wie das ausgestopfte Angorakaninchen, das damals rotäugig im Heckfenster des Opel Kadett  vom Schul-Offizianten verstaubte. Entsetzlich, was unser frankophilistriger Schulmeister zwei Monate lang trieb, weil er glaubte, man könnte mit der Kenntnis von Flaubert und Kenntnissen der Poetizität im Abitur, im Leistungskurs Deutsch, glänzen. Ein Literatur-Sarkophag-Hedonist war das.
Leben!  Damals und immer: Jimi Hendrix, Procol Harum, die Stones, die Janis Joplin mit den significant others.“

Verzückt schaut Gabina auf ihren Daiquiri, dreht das Glas und beginnt zu singen:

"Oh Lord won't you buy me a Mercedes Benz.
My friends all drive Porsches, I must make amends.
Worked hard all my lifetime, no help from my friends.
So oh Lord won't you buy me a Mercedes Benz."

Kurt Wilhelm, der Theologie studiert hatte und nun eine Buchhandlung in der Au gegen Amazon verteidigt, hebt die Hände.
„Hedonismus, Dank an Gott, Mercedes?“
„Ja“, sagen wir, „was ist los?“
„Nun, ich möchte euch eine Geschichte erzählen.“
„Gut“, sage ich,  ich wollte mich erstmal abkühlen und dann Gabina reflektiert und überzeugend  erklären, was für einen Blödsinn sie da vorhin losgelassen hatte.
Kurt Wilhelm verschränkt die Arme, lehnt sich zurück und blinzelt uns an:

Es lebte einst  ein Mann in Passau, in Niederbayern, er war siebenundsiebzig Jahre alt und hatte sein ganzes Leben lang achtzig Stunden pro Woche gearbeitet und nie Urlaub gehabt. Seine Kinder waren alle verheiratet und seine Frau war gestorben. Also beschloss er, das Leben zu genießen.

Er ließ sich ein Facelifting verpassen, auf den Kopf kam ein teures neues Toupet, er kaufte zehn neue Anzüge und ein brandneues Auto, einen Mercedes. Eines Abends zog er sich einen schicken neuen Anzug und eine schicke neue Krawatte an, setzte sein neues Toupet auf, stieg in seinen Mercedes  und fuhr in Richtung München los.
Er war erst eine Meile gefahren, als er - Bumm - bei einem Unfall ums Leben kam.

Als er im Himmel ankommt, geht er zu Petrus und sagt: "Was ist hier los? Was soll das alles? Mein ganzes Leben lang habe ich hart gearbeitet, und endlich, als ich endlich alles hatte, um mich zu amüsieren, wurde ich getötet. Warum nur? Warum hast du das zugelassen?'
Sankt Peter neigt verlegen den Kopf: 'Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich habe dich nicht erkannt.'

Ich will noch etwas über Flaubert und die Immersionskraft der Literatur, über Trance und Schamanisches sagen und erstmal Hildegard von Bingen zitieren, das "Kosmosrad", "Liber Divinorum Operum", weil Kurt sich da auskennt und ihre Schriften untersucht hat. Aber Gabina funkelt mich an und schweigt. Also schweige ich auch und wir lauschen alle drei zusammen dem Nachklang von Kurts Geschichte. Trance.



Fabricia Gauss.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (10.07.21)
Hallo Willibald,
das Literaturhaus ist ein verrücktes Haus. Aber ich möchte die tollkühnen Einfälle nicht missen.

Amüsierte Grüße
Ekki

 Willibald meinte dazu am 11.07.21:
Die Leute sagen, das Leben sei das Wichtigste, aber ich lese lieber. Philologenleben? (Irischer Schriftsteller, verehrungswürdig)
Gratias. Für Empfehlung.

Antwort geändert am 11.07.2021 um 16:14 Uhr
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