KOMISCHE BRUCHSEERATTEN

Ballade zum Thema Zeitreise

von  rhebs

Halle Neustadt  - Komische Geschichten!

Es ist Sonntag in Marokko vor vielen Jahren. Ein französisch arabisches Stimmengewirr der Gäste des Cafés mixt sich mit den Wogen des atlantischen Ozeans, die mit infernalischem Getöse, gedämpft durch den Straßenblock, der dicht an der Stadtmauer zum Ozean befindlich ist, auf zerklüftete Felsen brausen. Ich fange Wortfetzen auf, die ich nicht verstehe. Ich verstehe kein Arabisch, ich verstehe kein Englisch, Französisch und Italienisch. Ein leiser Duft von Meer und Mövenkacke liegt in der Luft und um die Restaurantstühle schleichen zerfledderte Katzen, auf der Jagd nach Essensresten. Nur finden sie heute nichts weiter als Zigarettenkippen, die zahllos um die blau weißen Terassenmöbel liegen. Obwohl fast ganz Marokko auf der Erde und von den Häuserwänden rot schimmert, schimmert alles in Essauoira, dem früheren Mogador, alles blau und weiß. Weiß sind die Häuser, blau die Fenster, blau ist der Himmel. Ich habe meine Fototasche auf den Knien und den dritten Stenoblock, den ich hier inzwischen auch schon halb voll geschrieben habe. Neben dem Restaurant steht eine kleine Zigarettenbude, in der ich nachher noch einen letzten Stenoblock für 15 Dirham erwerben werde. Meine Gedanken kreisen nicht hier in Marokko herum, meine Gedanken kreisen um einen kleinen Steinbruchsee in Halle-Neustadt, an einem heißen Sommertag im Juni 1968.




 Ich habe meine Wehrdienstzeit hinter mir und bin arm wie eine Kirchenmaus wieder im Zivilleben zurück. Ich besitze zwei Anzüge, zwei  Hosen, ein wenig Unterwäsche und Handtücher. Ich bin eher reich von Sinnen, einmal, weil ich eine Woche vorher eine nigelnagelneue Einraumwohnung im neunten Stock des Blockes 618, im ersten fast fertigen Neubauwohnkomplex 1 von Halle-Neustadt, bekam. Das Leuna- und Bunawerk ging auf wie Hefe und platzte aus seinen Werkzäunen ganze Kilometer weit in die sächsisch - anhalterische Ackerlandschaft. Jeden Tag fressen sich Bagger, Kräne und tausende Bauarbeiter mit dröhnenden, quietschenden Klappern durch die noch unindustrielle Flur. Zehn achtzig Meter hohe Schornsteine spucken täglich Ruß, Dreck und Kohlendioxyd in die Luft. Riesige Fackeln der Benzinspaltanlagen in Leuna I und Leuna II brennen Tag und Nacht ununterbrochen.
30.000 Menschen sind hier beschäftigt und klettern täglich auf zwei Werkbahnhöfen aus den täglich voller werdenden Schichtzügen, die zum Schichtwechsel im Zehn Minutentakt zum Schichtwechsel ihre Menschenladungen auswechseln. Menschen, die von der Schicht kommen, Menschen, die zur Schicht eilen. Ein süßlicher Duft nach Chemikalien liegt wie ein unsichtbarer Dunstschleier in der Luft. Wenn man diese Luft schnell einatmet, hat man einen süßlichen Geschmack im hinteren Bereich der Zunge. Ich liege auf dem Bauch auf einer Decke am Bruchsee und zeichne den Grundriss meiner neuen Wohnung auf Papier. Ich bin seit gestern nicht mehr arm wie eine Kirchenmaus. Mein  Spediteurgroßvater ist gestorben und hat mir Achtzehntausend DDR-Mark auf ein Konto der Kreissparkasse hinterlassen, die mir seit gestern zur Verfügung stehen. Zusätzlich bin ich mit allen Sinnen reich, weil am vierten Juli meine Traudel aus Thüringen für immer zu mir zieht.  Wir heiraten in 6 Tagen und wollen auf eine Hochzeitsreise nach Ungarn aufbrechen. Also bin ich reich! Reich bin ich auch mit meiner Angst vor einem dauernden Zusammenleben mit einer Frau, mit meiner zukünftigen Frau. Freude, Ängstlichkeit, Zufriedenheit und Missmut streiten sich in meinem Kopf herum. Ich könnte gleichzeitig freudig los brüllen vor Glück, könnte aber auch gleichzeitig heulen wie ein Schlosshund. Am Vormittag hatte ich von den Achtzehntausend Mark locker die Hälfte ausgegeben. Eine drei Meter Makoré furnierte Schrankwand von Max Kluge aus Langenau. Es war das feinste Bauhausdesign-Möbel, was es damals in der DDR zu kaufen gab und auch das wohl teuerste, was sofort geliefert wurde, weil so etwas kostspieliges auf drei Meter sich kaum jemand damals leisten konnte. Ich hatte im HO-Möbelkaufhaus, wie ein Krösus, die Hundertmarkscheine dem Verkäufer auf den Tisch geblättert und gleichzeitig dazu eine praktische Klappcouch, zwei Sessel und einen Couchtisch erworben. Im Rundfunkladen nebenan in der Ulrichstraße in Halle, habe ich einen von den neuesten Fernsehern, Plattenspieler und ein Heli-Radio  gekauft. Im gleichen Kaufrausch habe ich die Geschirrabteilung leer geräumt, Lampen, Kaffeemaschine und eine Mini-Waschmaschine. Große Waschmaschine ging nicht, die hätte nicht ins Bad gepasst. Mit dem Barkas -Taxi bin ich in meine Wohnung zurück gefahren und habe fix mit dem Fahrstuhl die Reichtümer ohne Anbauwand in die Wohnung gebracht. Dann habe ich ein altes Bett, was ich von einem Kollegen geschenkt bekommen hatte, in die Einzelteile zerlegt und alle Bretterteile auf den Flur gestellt, mit einem Zettel versehen: "Spende!" Die Matratze wollte ich noch bis zum anderen Tag nutzen.
Als ich mit Badehose, Decke und Handtuch plus ein wenig Schreibutensilien aus der Wohnungstür komme, waren die Bretter des Bettes verschwunden. Am See, neben meiner Decke, hat sich inzwischen ein Mädchen gesellt, die gelangweilt in einem Buch herum schmöckert. Sie nimmt die Sonnenbrille ab, liest, setzt sich die Sonnenbrille wieder auf, räkelt sich in der Sonne, setzt die Sonnenbrille wieder ab - und das im fünf-Minuten-Wechsel. "Hey, hast wohl auch keinen ruhigen Tag! Hast du Hummeln im Hintern?" rufe ich rüber. Sie lacht und sagt, sie hat morgen praktische Facharbeiterprüfung als Köchin und hat mächtig Manschetten. Ich bin mit meiner Decke zu ihr rüber gerobbt und habe mir von ihren Ängsten erzählen lassen. Sie soll ein Lammspieß an Sellerie kochen, was sie noch nie hin bekommen hätte. Die Lehrstelle wäre im Interhotel am Thälmannplatz in Halle und die Ansprüche ihres Chefs sehr hoch! Dann hab ich ihr von meinen Glücksumständen, inklusive meiner Hochzeit nächste Woche, erzählt. Sie ergänzte, dass sie einen Freund hat, der in einem Hotel in Dresden ebenfalls Koch ist und schon im vorigen Jahr ausgelernt hat. Er wollte sie auch heiraten - nur sie will noch ein Weilchen warten. Dann plätscherte das Gespräch langsam aus und sie lag ruhig in einem blauen Badeanzug, der gut gefüllt war, auf ihrer fast weißen Frotteedecke. Sie blickte stumm zu mir rüber, auf der Seite liegend und knabberte an einem langen Grashalm, der fast bis zu meiner Decke reichte. Ich hab mit dem Mund, wie in einem italienischen Film gesehen, am anderen Ende geknabbert. Sie biss ein Stück ab, ich biss ein Stück ab, sie bis ein Stück ab. Als wir uns küssten, hatten wir erst mal beide Grasspelzen im Mund. Nach dem lustigen Ausspucken, küssten wir uns ohne dem bitteren Grasgeschmack. Ihr Mund wurde immer süßer und ihre gekämmten Haare immer wirrer. "Wie sieht denn so eine neue moderne Einraumwohnung aus?", fragte Brigitte, die in einem alten Bauernhaus am Rande von Halle-Neustadt in dem Dorf Nietleben, bei ihren Eltern lebte. "Na, da komme mal mit!" und rollte meine Decke zusammen. sie zog sich ein blaues Sommerkleidchen drüber, was sie sicher gekauft hatte, als sie im zweiten Lehrjahr nicht so füllig rund um ihren Körper herum war. Sie war so schön ausentwickelt und die Gerichte, die sie zu kochen lernte, hatten sicher auch ihren Anteil an ihren properen Körperkurven. In meiner neuen Wohnung benutzte sie erst einmal begeisternd die stark zischende heiße Dusche und nebelte das kleine Bad komplett ein. Die Matratze tat ihren letzten Nachmittag- und abendfüllenden Dienst. Als rundherum in Halle-Neustadt die Lichter der neuen Wohnungen angingen und eine halb abgebrannte Kerze die Szenerie auf der Matratze flackernd beleuchtete, war es für sie und für mich richtig modern idyllisch, gemütlich. Wir schauten vom längsten und größten Neubaublock der DDR aus dem neunten Stock auf die kleineren Plattenblöcke herunter, wo die Halle-Neustädter Neubürger auf ihren Balkonen ihr Abendessen zu sich nahmen. Da und dort flackerte ein Fernseher durch halb aufgezogene Gardinen, auf den Flachdächern schissen die Tauben auf die unzähligen Fernsehantennen, die ausnahmslos nach dem Westen ausgerichtet waren. Die Angst vor der Kochprüfung hatte ich Brigitte aus ihren Lenden gestoßen und ehe die Kerze runter brannte, beseitigte ich noch die Manschetten von den ihr zuzubereitenden Dessert. Als Brigitte gegen Morgen verschwunden war, spülte ich ein paar geringelte blonde Schamhärchen aus der Duschwanne und sammelte ewig lange blonde Haare von der Decke auf der Matratze auf. Ich hatte ein wenig schlechtes Gewissen, steckte diese Nacht, mich bei mir  selber entschuldigend, unter dem Begriff "Hörner abstoßen" weg.
Eine Woche später war Trudchen da und freute sich riesig über die fix und fertig eingerichtete Wohnung. Da sie auch Bettwäsche, Handtücher und einige Tischdecken mitgebracht hatte, hatten wir einen kompletten, wirklich kompletten Hausstand. Sie hatte Eintausendzweihundert Mark gespart und konnte ihr "Vermögen" erstmal im Sparbuch stehen lassen. Einen neuen Job in einem Kindergarten in Halle-Neustadt hatte sich schon im März besorgt, als ihr Umzugstermin aus Thüringen feststand. Die neue Klappcouch hielt unseren gegenseitigen ehelichen Verpflichtungen absolut stand, wobei ich ergänzen muss, das diese täglichen Pflichten absolut nichts mit Pflicht, sondern mit reinster Kür zu tun hatte. Wären wir wie beim Eiskunstlaufen vor einer unabhängigen Jury gestanden, hätten wir immer die Note Zehn zugewiesen bekommen. Trudchen war unersättlich und ich war es ohne Abstriche ebenso. Wir gingen kaum aus, wir kletterten in jeder freien Minute auf der Klappcouch herum. Auch das Essen wurde früh morgens und abends auf der Klappcouch eingenommen. Einen Tag vor dem Hochzeitstermin kam meine Mutter und Trudchens Eltern, die wir im Hallenser Hotel "Roter Ochse" einquartierten.
Mein Schwiegervater, der im Schatten wie Humpfrey Bogart aussah, zückte seine Geldbörse und blätterte 600 Mark hin, für die beiden Drehsessel, die ich gekauft hatte. Ansonsten war es eine billige Hochzeit für ihn. Für seine älteren Töchter hatte er locker das Zehnfache ausgegeben. Ich hatte Trudchen einige Tage vorher ein schwarzes Kostüm gekauft und mir einen schwarzen Anzug von der Stange. Der Friseur hatte am Morgen des Hochzeitstages nicht viel Mühe, ihr dichtes volles glänzendes halb blondes Haar in eine tolle schlichte Form zu bringen. Um Zehn Uhr hatten wir den Standesamttermin im Komplexbau im Ersten WK und alles in allem war ich und Trudchen total happy. Wir wollten uns, wir hatten uns, nun mit Haut und Haaren, für immer. Nach den Glückwünschen unserer drei Hochzeitsgäste juckt es mich in der Hose und das plötzlich sehr gewaltig. Ich ging noch mal zur Toilette und sah die Bescherung. FILZLÄUSE! SACKRATTEN! Und das am Tag unserer Hochzeit. Ich fiel gefühlsmäßig aus allen Wolken - wie sollte ich das meinem Trudchen nur beibringen, das lies sich doch nicht verheimlichen - das habe ich ihr doch sicher auch angetan und übertragen! Mit den letzten Hörner abstoßen habe ich mir Filzläuse auf der Matratze am Bruchsee  von der Gras knabbernden Brigitte geholt. Nun knabberten die Sackratten an meinen Schamhaaren rum und sicher auch in Trudchens hübschen dunkelblondem Busch. Das "Hochzeitsessen" im Interhotel am Thälmannplatz habe ich wie in Trance überstanden und keinerlei Erinnerung, was ich gegessen hatte. Zum Glück schnatterten alle ohne Unterlass und niemand merkte, dass ich stiller und stiller wurde. Und als Höhepunkt des Hochzeitsessens taucht mit dem Dessert auch noch die Filzlaus - Brigitte mit hoher Kochmütze am Tisch auf und betrachtet schamlos und ungeniert die Braut. Das Abendessen im "Rotes Roß" habe ich auch nur wie im Tagtraum über mich ergehen lassen. Anderen Tag haben wir die Eltern in den Hallenser Tierpark geschleppt. Schwiegervater war Tierfreund. In meinen Sackhaaren liefen derweil die gemeinen Biester, trotz intensiven Schrubbens mit allen Seifen meines Bades vom Vorabend- und Frühdusche, zu Hochform auf und veranstalteten ein Vorwaldrally, als sie wohl vor dem Affenkäfig ihre Verwandten rochen. Fein sauber lauste da eine Affenmutti ihr Junges und zerknackte jede Laus einzeln genussvoll mit ihren großen Zähnen. Wer zerknackt meine, unsere Läuse? Die Lösung bahnte sich sachte am anderen Tag an, als ich verzweifelt einen Hautarzt in Halle, in der Altstadt  in der "Tripperburg" aufsuchte. Der lachte sich einen Ast, als ich ihm mein Problem mit allen Einzelheiten und Details der Umstände erläuterte und beruhigte mich. "Sie gehen jetzt in die Apotheke und holen eine Tube Disohexapropanolsalbe, dann gehen sie in eine Drogerie und besorgen sich das Haarwaschmittel "Haarweich", entleeren sie und füllen das Disohexapropanol mit einem dicken Strohhalm um. Dann sagen sie ihrer Frau, dass ihre Schamhaare sie kratzen und achten darauf, dass sie sich unbedingt in einer Woche und dann in einer weiteren Woche noch mal wäscht. in den Haaren stecken nämlich noch die Nissen, die Eier der Läuse,  welche in der Woche dazwischen schön regelmäßig ausgebrütet werden. In Vier  Wochen kommen sie zur Nachkontrolle und bringen eine Flasche Weinbrand Spezial mit! Hinter ihm an der Wand hängt eine kleine Reklametafel mit der besagten Spezi Sorte, wo schon so elf bis vierzehn dicke Kreuze, wie Flugzeugabschüsse, angekreuzt waren. Er wies mit dem Daumen nach hinten und ergänzte: "Hier kommt das dickste Kreuz drauf - einen Hochzeiter hatte ich in meiner sechsjährigen Laufbahn als Hautarzt noch nicht!" Und nun ab durch die Mitte! Kurz angemerkt, in vier Wochen war ich wieder clean. Keine Läuse, keine Nissen - nur lumpige  neunzehn Märker ärmer für die Schnapsflasche. Diesem wirklich gravierenden Ereignis bin ich mit einem blauen Auge davon gehüpft. Trudchen hat meine Manipulationen in keinster Weise mitbekommen.


Anmerkung von rhebs:

Gleicher Text vertont als Podcast:
https://anchor.fm/richard-hebstreit/episodes/KOMISCHE-BRUCHSEERATTEN-e1bkdsi

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