Célines Schweigen

Text

von  plausibel

„J’ai bien dû rester là encore une partie de la nuit suivante.“

 

Der Name Louis-Ferdinand Céline war ihm geläufig. Als er das Buch, das er zu Studienzwecken konsultieren wollte, aufschlug, bemerkte er die Kunstpostkarte, die ihm in die Hände fiel, mit dem Motiv eines Bildes, Gemälde wäre wohl zu viel gesagt, von Edward Hopper, das den Titel »Morning Sun« trug und aus dem Jahr 1952 stammte. Die rückseitige, kleingedruckte Unterschrift wies es als ein Bild aus, das in dem Columbus Museum of Art, Ohio, hing. Die gewaltige Faszination, die von Hoppers künstlerischer Darbietung auf ihn ausging und die ihn unmittelbar in ihrem Erblicken ergriff, rührte, so schien es ihm, von dem von seiner rechten Körperseite zu erblickendem Sujet einer auf einem weißen Bettlaken sitzenden jungen Frau her, die mit einer Art blassrosafarbenen Negligé dürftig bekleidet war und ihre beiden Arme über die Unterschenkel ihrer beiden angezogenen beiden Beine kreuzartig verschränkt hielt. Ihr Oberkörper war leicht nach vorn gebeugt, und der Blick ihres Gesichtes und der ihrer Augen waren unbewegt und starr auf ein großes Fenster gerichtet, aus dem sie in die leere Weite zu schauen schien. Hinter dem Fenster waren ein riesiger Himmel und die hellbraune Fensterfassade eines Fabrikgebäudes noch erkennbar, hinter den Schemen der Fabrik wurde in weitester Ferne ein Wasserturm schattenhaft sichtbar.

 

Unzweifelhaft war der Raum, in dem sich die junge Frau aufhielt, kein privater Wohnraum, eher ein Motel-Room, wie es deren unzählige in den Staaten gab. Als ihm dieser Gedanke kam, stand ihm sofort der Hollywood-Film »Motel Room 13« mit Robert de Niro und John Cusack vor Augen, den er vor Jahren in Berlin, wo er einmal bei einem Umzug aushalf, gesehen hatte. Aber Rivka hatte in ihrem anonymen Motel-Apartment eine Art Asyl vor ihrem Zuhälter gesucht, während die junge Frau Edward Hoppers auf etwas, das ihre ganze Anspannung erklären sollte, zu warten schien. Aber auf was wartete jene amerikanische Schönheit, die, lebte sie wirklich, heute längst gestorben wäre? Was erwartete sie, deren makellos weißen Oberschenkel ein Geheimnis zu bergen schien, auf das Edward Hopper den Betrachter des Bildes aufmerksam machen wollte? Als Hopper das Bild malte, war er ein alter Mann, der nur noch wenige Jahre zu leben hatte. Vielleichte, dachte er, ersann der Künstler sein Bild aus einer Art Erinnerung, aus seinem künstlerischem Gedächtnis heraus. Es musste nicht unbedingt eine Prostituierte, wie Rivka, gewesen sein, die seiner Erinnerung entsprang, vielleicht sollte sie nur eine für amerikanische Verhältnisse ideale Prostituierte symbolisieren, deren man sich später nicht zu schämen brauchte. Die fleischliche Präsenz einer jungen Frau, von der die immense Faszination ausging, die ihn immer noch umfangen hielt, erschien ihm als das symbolische Bildmotiv, in dem wohl sein Geheimnis lag, das den meisten Freiern unbekannt bleiben musste, während sie sich ihren körperlichen Bedürfnissen hingaben, ohne jemals gemerkt zu haben, dass ihre sogenannten Bedürfnisse nicht Produkte ihrer Phantasie waren, sondern aus den Blicken der Frauen herrührten, die ihren männlichen Objekte scheinbar willenlos ergeben waren.

 

Sorgsam legte er die Kunstpostkarte, nachdem er sie so lange nachdenklich betrachtet und innerlich berührt beschaut hatte, in den Buchdeckel zurück und schlug die erste bedruckte Seite des Buches auf, dessen Meinung, vielmehr wird es wohl nicht sein, vermutete er, er studienhalber ansichtig werden wollte. Aus ihren Zeilen, die in Kursivdruck gehalten waren und den eigentlichen Bericht einleiten sollten, sprach wiederum die Stimme einer jungen Frau, die dieses Mal aber nicht so sehr durch ihre fleischliche Präsenz, sondern vielmehr durch ihre geistig literarische sein Gemüt beeindrucken und ihn innerlich berühren wollte. Sie sei es nicht gewöhnt, erklärte die junge französische Dame, sich, wenn sie redet, an andere zu wenden. Sie sei in einem Dorf an der Grenze zu Maine geboren und von Nonnen religiös erzogen worden. In der Bucheinleitung wirft sie den Nonnen vor, dass sie abweisende und überspannte Charakterzüge trügen. Sie würden aus ihrem Leben ein Opfer machen. Die Namen, die die Nonnen sich selbst und ihren Schülerinnen einst gaben, seien falsch. Schwer verständlich, kam ihm der Gedanke. Warum sollten die religiösen Namen, die Nonnen sich selbst und ihren Schülerinnen gaben, falsch sein. Ihm fiel ein, dass er eine Schwester Pia, die Nonne in einem Klarissenkloster war, kannte. Genau genommen, war sie eine Klarissen-Kapuzinerin. Sie nannte sich Klarissen-Kapuzinerin von der ewigen Anbetung.

 

Damals gefiel ihm das, wenn Menschen sich einem Ziel verschrieben, das außerhalb ihrer Vernunft und ihres Verstandes lag. Lag nicht alle Kunst, lag nicht alle Dichtung außerhalb der von der Schule propagierten Zweckmäßigkeit des Lebens? Was war Zweckmäßigkeit des Lebens anderes als Eigennützigkeit von Interessen, die nur dazu dienen sollten, über andere Menschen herrschen und sie beeinflussen zu wollen? Nonnen und Prostituierte müssten eigentlich von der gleichen Art sein, sagte er leise. Seine Gedanken wandten sich plötzlich auf ihn selbst. Er klappte das auf der Seite fünf aufgeschlagene Buch zu und legte es sorgsam auf den Schreibtisch. Dem Buch fehlte sein farbiger Umschlag. Es war schmal und von hellroter Farbe. Verlagsname, Name der Autorin und Buchtitel waren auf dem Buchrücken in Längsrichtung mit schwarzen Majuskeln aufgedruckt. Er schloss die Augen. In ihm stiegen wieder wie unzählige Male zuvor die schlechten Erinnerungen aus seiner Vergangenheit empor. Nein, dieses Mal werde ich mich ihnen nicht überlassen. Ich werde mich ihnen nicht gedankenverloren hingeben. Sie sollen nicht die Übermacht über mich behalten. Sie sollen nicht das letzte Wort sein. Nein, dieses Mal nicht. Schnell schlug er seine geschlossenen Augen wieder auf. Vielleicht wäre es besser, sich mit Céline zu beschäftigen.

 

Auf S. 184 steht: Tapin (in Kursivdruck): prostituée (in Rectedruck).                                



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Kommentare zu diesem Text


 Verlo (27.02.23, 05:53)
Céline schweigt nicht. 

Du läßt ihn nicht zu Wort kommen.
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