Das Bordell

Text

von  plausibel

Das Bordell der Gemeinde in Engel lag in einem kleinen Tal der Ruhr, das nur durch einen schmalen, zweispurigen Zufahrtsweg zu erreichen war. Die flachen Steilhänge, die die von wenigen Menschen bewohnte Senke in allen Windrichtungen umsäumten, erschienen einer Besiedlungen ungünstig gewesen zu sein. Die Straßenbaubehörde, die damals noch nicht mit der Wohnungsbehörde kooperieren musste, verlor alsbald die vergessene Niederung aus ihren Augen, und so kam es, dass sich zu den wenigen, seit etlichen Generationen hier lebenden Seelen ein Mann sich vor Jahren gesellte, der in seiner Vorzeit zur See fuhr. Er wurde von den Einwohnern wegen seiner Statur und seines mächtigen Bartwuchses Seebär genannt. Er zog mit seiner einzigen Tochter hierher, von der die Talbewohner wussten, dass sie aus einer Verbindung des Seefahrers mit der weiblichen Nachkommenschaft eines einstigen afrikanischen Stammeshäuptlings, der wegen seiner ungewöhnlichen Brutalität an Menschen berüchtigt war, hervorgegangen sein soll. Der Seefahrer selber verhehlte nicht, dass er aus Niederösterreich, der Heimat Wittgensteins, stammte.

 

Welche Gründe den Seefahrer bewogen, in die entlegene Talsenke mit seiner Tochter, einer ausgesprochenen halbfarbigen Schönheit, zu ziehen, entzog sich der Kenntnis seiner Mitbewohner. Sie argwöhnten, dass er wegen einer begangenen Straftat, deren polizeilicher Aufklärung durch fremdländische Strafbehörden, die weniger als ihr Ruf Wert besaßen, er sich rechtzeitig zu entziehen wusste, hierher gekommen ist, wo niemand sich um den anderen zu scheren meint. Die Insassen des Tales gingen ihren eigenen Beschäftigungen nach, von denen die wenigen Verhältnisse in der näheren Umgebung lagen. Auch waren es nur die Männer, die in der Umgebung ihre bezahlten Beschäftigung fanden. Die Frauen blieben unter sich. Sie konnten ihre Tage, solange ihre Männer außer Hauses waren, frei nach ihrem eigenen Gutdünken gestalten. Sie waren Gefangene ihrer überlieferten Vorstellungswelt, die ihnen suggerierte, dass ihnen kein eigenes Leben zustand. Was sie unter Leben verstanden, war ihre körperliche Hingebung an die Männer, die sie besaßen. Die Männer sahen ihre Frauen als ihren Besitz an, über den sie nach ihren Wünschen verfügen zu können meinten.

 

In dieser Situation kam die Ansiedlung des Seefahrers mit seiner halbfarbigen Tochter ihnen nicht ungelegen, bedeutete sie doch, dass den Frauen neben ihrer Lektüre aus der Regenbogenpresse ein sonderbarer Gesprächsgegenstand unverhofft zugefallen war, der ihre Phantasie ungemein anspornte. Morgens, wenn sich einige von ihnen zufällig gleichzeitig in dem Konsumladen trafen, liefen ihnen ihre Münder über an Gerüchten, die sie über den Seefahrer selber erfunden hatten. Martha, die wegen ihrer stattlichen Leibesfülle unter den Frauen eine Art Wortführerin ihrer aufkommenden Gerüchteküchen einnahm, pflegte die kurzfristigen weiblichen Wortmeldungen mit Zitaten aus der Zeitschrift »Woche der Frau«, die sie sorgfältig las, zu beenden. Sie sagte dann: „Dieser Hollywood-Vergewaltiger, wie heißt er gleich, ich kann mir so schlecht diese amerikanischen Namen merken.“ Sogleich sprang ihr die junge, zufällig neben ihr stehende Sybille gedanklich bei, von der man munkelte, dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer evangelischen Pfarrersfrau unterhielt: „Weinstein“. Sie sprach diesen Namen nicht mit gespitzter Zunge aus, sondern nach Art ihres westfälischen Dialekts, was so klang wie ‚Weinschtein‘. „Danke, liebe Sybille, ich hätte auch selber drauf kommen können. Also, was wollte ich sagen?“

 

Was Martha eigentlich sagen wollte, eigentlich entzieht es sich unserer Kenntnis, andererseits ist es nicht schwer zu erraten: Man hätte diesem amerikanischen Frauen-Vergewaltiger sein unmäßig obwaltendes Ding, mit dem er derartige frivole Untaten zu begehen trachtete, einfach abschlagen sollen. In diesen oder diesen ähnlichen Vorstellungswelten bewegten sich die in jenem unwirklichen, der Realität entzogenem Tal lebenden und wohnenden Frauen. Diese von der Regenbogenpresse gefütterten Vorstellungswelten waren ihren Männern vollkommen unbekannt geblieben, sie mussten ihnen fremd vorkommen, denn den in dem Tal lebenden Männern kam der Bordell-Betrieb, dessen offizielle Aufnahme dem Seefahrer nach einiger Zeit der Planung und von Seiten der Bevölkerung widerstandslos von der hiesigen Polizeibehörde zugesprochen worden war, sehr gelegen.

 

Unter den Talinsassen befand sich aber auch ein älteres, alleinstehendes Ehepaar, das der Glaubenssekte der Zeugen Jehovas angehörte. Für gewöhnlich stand die Frau, die sich mitnichten an dem Dorftratsch beteiligte, bereits vor dem Konsumladen, kaum dass er geöffnet hatte. Sie stand dann ein wenig schräg abseits von der Eingangstür, um niemandem zu nahe zu kommen oder zu aufdringlich vorkommen zu wollen. Sie trug immer einen unfarbigen Rock und hielt in ihren Händen eine Ausgabe des »Leuchtturms«, dem Glaubens- und Verbreitungsorgan der Zeugen Jehovas. Sie sagte auch nichts, während sie so mit ihrer kleinen Gestalt dastand. Hingegen kenne ich einen Zeugen Jehova, der freitags vor Rewe steht, merkwürdigerweise ein jüngerer, nicht ungepflegt erscheinender Mann, der ein so hässliches und schreckliches und langgedehntes „Guten Morgen“ mechanisch ausstößt. Er steht nahe bei den gitterartigen Einkaufswagen, die von der Kette abgelöst werden müssen, dass man sich seiner eigentümlich unschönen Suggestion kaum entziehen kann.   

 

Der »Leuchtturm«, den die Zeugin Jehovas zu verteilen gedachte, für den sie aber keine Abnehmer fand, stand wohl im krassesten Gegensatz zu der »Woche der Frau«, die von den meisten Frauen, die das Tal bewohnten, vielleicht außer Sybille, die für höhere Literatur ihr Herz geöffnet hatte, gelesen wurde. So war bei genauerer Hinsicht dieses kleine Taldorf in mehrere weltanschauliche Fraktionen aufgeteilt und gespalten, auf der einen Seite die tonangebenden Männer, die eine Art unauffälligen Hedonismus an den Tag legten, auf der anderen Seite die Frauen, die zwangsweise den gepflegten Hedonismus ihrer Männer aus naheliegenden moralischen Gründen nicht teilen konnten, und in die Mitte zu beiden Seiten stieß nun der bärtige Seefahrer, der ein Bordell eröffnet hatte, das in Wirklichkeit seine halbfarbige Tochter leitete, wenn sie selber nicht das gut bezahlte Objekt einer Männerwelt wurde, die das Sagen hatte. So musste es zu unaussprechlichen und grausamen Konflikten kommen.


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Kommentare zu diesem Text


 uwesch (24.02.23, 16:55)
Mit Interesse gelesen. eine Welt für sich.  LG Uwe

 plausibel meinte dazu am 24.02.23 um 17:40:
Ja, so sollte es gemeint gewesen sein.

 TassoTuwas (24.02.23, 19:50)
Ein viel versprechender Schlusssatz.
Lass es krachen  :D !

LG TT

 AlmaMarieSchneider (24.02.23, 21:44)
Eine eigene Welt, da schließe ich mich an.
Gerne gelesen.

Liebe Grüße
Alma Marie

 plausibel antwortete darauf am 25.02.23 um 10:11:
Werde es versuchen, TassoTuWas.
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