Das Geständnis

Text

von  plausibel

Einst begegnete mir ein Mädchen, dass mich mit ihrer ungewöhnlichen Lebensansicht in Erstaunen versetzte. Ich traf dieses Mädchen während einer Schulfahrt in den Harz, wo auch die Jugendgruppe einer evangelischen Gemeinde in der gleichen Jugendherberge zu einem Bibelwochenende, wie der begleitende Pastor die interne kirchliche Gruppenberatung nannte, sich traf. In unserer Klasse kümmerte sich keiner um Glaubensangelegenheiten, Konfirmation und der Sakramentsempfang der heiligen Kommunion lagen bereits Jahre zurück, zudem waren wir jugendlichen Schüler zu sehr mit uns selbst, mit den Anforderungen der Schule und, bei manchen, mit den ihrer strengen Eltern beschäftigt. Manche Eltern, die selber Akademiker waren, waren geradezu fanatisch darauf bedacht, dass ihre Kinder, obwohl sie wegen deren fehlenden sprachlichen Begabung besser eine handwerkliche Lehre hätten eingehen sollen, das Abitur unbedingt bestehen sollten. Es gab sogar einen Schüler, der in den neun Gymnasialklassen zweimal sitzen blieb, einmal in der Quarta und ein zweites Mal in der Oberprima. Dieser Schüler prahlte dann, dass er das Abitur zweimal abgelegt hätte, einmal nicht erfolgreich und ein zweites Mal erfolgreich. Er studiert jetzt, wie ich gehört habe, Deutsch und Geschichte auf Lehramt, offensichtlich, um seine erlittenen Schultraumata zu bewältigen.

 

Ich kam mit besagtem Mädchen nach einer der gemeinsam von allen Jugendherbergsinsassen und ihren erwachsenen Begleiter eingenommen Mahlzeiten zusammen. Wir hatten nach dem Mittagessen Zeit zu eigener Rekreation und, wie es so kam, sprach mich dieses Mädchen, das sich für mich zu interessieren schien, an. Sie fragte mich, woher ich komme, sie selber käme aus Oldenburg. Ah, sagte ich, Oldenburg, daher, wo drei bedeutende Geistesgrößen herstammen. Sie lachte, zeigte ihre schönen Zähne und sagte, was meinst du. Na, erwiderte ich, Herbart, Jaspers und Bultmann. Sie schüttelte ihren kleinen Kopf, schaute zur Erde und tat so, als würde sie sich vor etwas ekeln. Nein, diese Namen habe sie noch nie gehört, lautete ihre Antwort, nachdem sie sich von dem Anflug eines leichten Gefühlsekels ein wenig erholt zu haben schien. Ich schwieg. Ich hatte in dem philosophischen Propädeutikunterricht, den ein offenkundig atheistisch eingestellter protestantischer Pfarrer als philosophischen Arbeitskreis an unserem Gymnasium installiert hatte, den Namen Karl Jaspers gehört, der der Hauptrepräsentant des nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufkommenden Existenzialismus sein sollte. Da mich Philosophie leidenschaftlich interessierte, ich bei Nietzsche, den ich noch leidenschaftlicher verschlang, die genealogische Methode erlernt hatte, kam ich nach einiger Zeit des Suchens auf den Zusammenhang, dass die Stadt Oldenburg der gemeinsame Geburtsort von Johann Friedrich Herbart, Karl Jaspers und Rudolf Bultmann war.

 

Ich muss sagen, dass diese Erkenntnis philosophisch zwar von geringerer Bedeutung ist, aber dass es immer gut ist, wenn man komplexe Sachverhalte, die es nur in der Philosophie gibt, systematisieren kann, um sie besser im Gedächtnis behalten zu können. Wir hatten uns, während wir schwiegen, auf einen kleinen Mauervorsprung gesetzt. Ich fühlte das brennende Verlangen, dass ich ihr in ihrer gedanklichen Hilflosigkeit irgendwie beispringen müsse, wusste aber nicht genau, wie ich das tun sollte. Auf der Schule, was ein großer Mangel ist, ist Rhetorik kein Lernfach, obwohl im Deutschunterricht auf Heinrich Lausbergs gigantisches zweibändiges Werk »Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft« en passant hingewiesen wurde. So saßen wir im Harzgebirge, das Novalis so herzzerreißend beschrieb, in der Mittagspause auf einer von der Sonne angestrahlten Mauer und wussten nicht, was wir uns sagen sollten. Erst später kam mir der bedrückende Gedanke, dass Menschen, deren gemeinsames Gespräch aus unerklärlichen ins Stocken geriet, füreinander bestimmt waren. Das ist auch eine mythische Erkenntnis. Obwohl ich mich für Philosophie entschieden hatte, schätzte ich den Mythos doch gleichhoch wie den Logos ein. Unser gemeinsames Schweigen schien eine Ewigkeit anzudauern. Überdeckt wurde es durch die auf uns fallenden Sonnenstrahlen, die unsere innere gedankliche Leere zu einer Art existenzialistischen Grenzsituation, an die Menschen gelangen, ausleuchtete. Das war es, was ich in dem Philosophieunterricht aus dem Gedankengut von Karl Jaspers aufgeschnappt hatte, der existenzielle Mensch lebt in Grenzsituationen, von denen der Tod die letzte ist. Mir schien, dass auch ich durch meine jüngere Gesprächspartnerin in einer solchen Grenzsituation mich befand.

 

Sie war es, die als die Erste das Wort wieder fand. Du bist also ein Gelehrter, sagte sie. Ich zuckte unmerklich innerlich zusammen. Ich fühlte mich getroffen, irgendwie erkannt. Ja, obwohl ich noch Schüler war, wollte ich ein Gelehrter werden. Ich wollte ein philosophisch gebildeter Mensch werden, der seinen Mitmenschen den Weg zu einem verantwortbaren philosophischen Leben aufzeigen konnte. Denn nur philosophisches Wissen zu besitzen, ist unsinnig, man müsste ein philosophisches Leben führen, war ich überzeugt, um den Anforderungen des Lebens wirklich gerecht werden zu können. Da saß also ein junges Mädchen neben mir, dass mir die Wahrheit über mich und mein noch ungelebtes Leben sagte, obwohl sie mich doch gar nicht kannte. In meiner Betroffenheit wandte ich meinen Kopf zu ihr und sah auf einmal ihre ganze Gestalt, ihren Haare, ihre Arme, ihre zarte Brust, ihre auf der Mauer aufliegenden und von ihr herabhängenden Beine, ihre beschuhten Füße. Ich sagte, ein wenig zynisch, ich strebe es an. Sie sagte, was man anstrebt, muss man bereits besitzen, um es erlangen zu können. Ich fiel fast vom Hocker, so sehr schockierte mich dieses junge, meiner Meinung nach ungebildete Mädchen mit ihrer Aussage. Woher hast du das denn, fragte ich sie. Aus der Bibel, antwortete sie mir schnell und schaute mich dabei lachend an. Ich schaute weg. Mein verlorener Blick schien etwas auf der Erde suchen zu wollen, was es dort gar nicht gab, nicht geben konnte. Man nennt das, was man sucht und nicht findet, Einsicht in die Ausweglosigkeit.

 

Ich versuchte meine Hilflosigkeit, in die ich zweifelsohne durch die Einwirkung eines mir unbekannten weiblichen Wesens hineingeraten war, durch Ironie zu überspielen. Wenn du schon so weise bist, wie ich es zu sein oder zu werden anstrebe, dann können wir uns ja zusammentun und Mann und Frau spielen. Ich war gespannt, was sie auf, meiner Meinung nach, äußerst intelligente und gelungene ironische Einlage erwidern würde. Sie erwiderte mir, ohne ihre Augen von dem Boden, auf den diese blickten, abzuheben, wenn du es Ernst meinst. Wenn ich es Ernst meine, wiederholte ich fragend ihre Auskunft. Was bedeutet das, wenn ich es Ernst meine? Ich hatte in meiner jugendlichen Unwissenheit und Nichterfahrung des wirklichen Lebens, das mir erst noch begegnen sollte, den Sinn ihrer Aussage gar nicht begriffen, nicht begreifen können, der aber genau das traf, was mir in allen meinen schulischen und sonstigen Aspirationen vollkommen fehlte und abging, nämlich der Lebensernst, der Ernst des Lebens, von dem meine Mutter mir sagte, als ich in die Sexta überging, dass dieser jetzt beginne, was ich nicht verstand. Am Ende meiner schulischen Ausbildungszeit musste also ein unbedarftes junges Mädchen auf mich, einen arroganten und hilflosen angehenden Gelehrten, stoßen, um mir den Sinn des Lebens zu erklären. In dem Moment, wo sie mir dieses sagte, ob ich es Ernst meinen würde, wusste ich, dass ich es bisher nicht Ernst gemeint hatte. Jedenfalls nicht Ernst genug, um gegen die Anforderungen des Lebens bestehen zu können. Ein Abgrund tat sich vor mir auf. Ich wusste nicht, wie ich ihn schließen sollte. Offensichtlich wusste aber das Mädchen, das mir aus Gründen begegnete, die nur der Himmel weiß, wie dieser Abgrund geschlossen werden konnte. Denn sie schien über diesen Abgrund bereits hinaus gelangt zu sein.      



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (17.03.23, 11:09)
Boy (völlig verkopfter Nerd) meets Girl. Nette Geschichte, nicht ohne Humor.

P.S.:
 Lernfach -> Lehrfach

(mehrfach) Ernst -> ernst 
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