Die Hand im Motorraum

Grotesk-Zeitkritisches Drama

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  HAMBURG VOR ORT

Tigerratte, wohnhaft in Hamburg Lokstedt in der Nähe von Hagenbecks Tierpark - daher sein Spitzname - war nun schon seit neun Wochen ohne Auto. Er hatte seinen uralten Mercedes 200 Strich 123 an einen Russen verkauft, der seinen Bruder in der Heimat beglücken wollte.
Tigerratte machte sich deshalb den Multikulti-Verkehrsverbund Hamburgs mit U- und S-Bahnen etwas näher erfahrbar. Er fand es sehr lebendig mit den vielen Menschen so nah dran. Auch sehr kreativ die vielen Malereien auf Sitzen und Wänden, die Kratzradierungen an den Scheiben! Außerdem holte er sein Fahrrad aus dem Keller und trat in Kontakt mit der Stadt-Natur. Das Wetter war zwar regendominant, aber manchmal auch sonnfleckig. Er konnte neben den Autokosten sich damit auch noch das Werkeln im Fitnessstudio ersparen. So erschlug er mehrere Fliegen mit einer Klappe.

Eines Freitags, kurz vor Nikolaus, seine Druckertinte war mal wieder verbraucht, strampelte er mit dem Fahrrad über die Automeile Nedderfeld zum Büromarkt Staples, um Nachschub zu erwerben. Auf dem Rückweg konnte er mit seinen stahlblauen Augen Opel-Dello nicht übersehen. Er musste einfach da mal reinzuschauen. Der Autonarr war noch nicht ganz gestorben. Schwanger mit der alten Idee, sich mal einen Kombi zu kaufen, um problemloser größere Gepäckmengen transportieren zu können, betrat er das Gelände. Ein Opel-Astra war in seinen Augen zwar ein Proletenwagen, denn jeder Popel fährt ´nen Opel, doch seinem momentanen Budget angemessen. Diese Kombis galten schon vor der Opelkrise als besonders preisgünstig und wurden in Deutschland massenhaft locker an den Mann gebracht. Es standen gut ein Dutzend Gebrauchte herum in den weiten Hallen. Ein stahlblauer tat es ihm besonders an, denn er fand, dass die Farbe seiner Augen sich darin wiederfanden.
Kurzentschlossen unterschrieb er den Kaufvertrag. Nach der Anmeldung am Montag durch den Händler holte er ihn ab und fuhr stolz nachhause. Auf der Heimfahrt kam ihm der Gedanke, dass er in jungen Jahren schon mit dem Namen Astra zu tun hatte. Er trank gern das gleichnamige Bier, weil nicht so bitter wie das Holsten, welches knallt am Dollsten, wie man in Hamburg sagt. So fuhr er nun Opel, weil nicht so teuer. Sein wirkliches Traumauto, den BMW Z3 hätte die Finanzen überfordert. Außerdem geht da nicht viel Gepäck rein.

Zuhause angekommen öffnete Tigerratte alle Klappen und Türen, um das Fahrzeug genauer zu inspizieren. Als Techniker interessierte ihn natürlich besonders der Motorraum. Er öffnete die Haube und betrachtete die Aggregate. Plötzlich stutzte er. Aus einem Spalt zwischen Kotflügel und Kühlergrill neben dem Wassertank für die Scheibenwaschanlage lugten vier Finger hervor. Zunächst dachte er, da hat jemand seinen hautfarbenen Handschuh beim Nachfüllen von Öl oder Wasser stecken gelassen. Er zog an den Fingern und seine Pupillen weiteten sich, der Mund blieb offen, der Atem stockte, denn er hatte plötzlich eine zusammengeschrumpelte pergamentene fremde Hand in seiner. Er konnte ihre Knochen unter der Haut mit seinen Fingern spüren.
Als sein Atem wieder einsetzte, schaute er sich auf der Straße um ob jemand zu sehen ist. Nein. Spontan entschied er, kein Aufsehen erregen zu wollen. Er wickelte schnell sein altmodisches Stofftaschentuch – Tempos konnte er nicht leiden - um die Hand und verschwand schnell in seine Wohnung. In der Küche legte er die gefundene Hand aufs Buffet.
Analytisch begabt schloss er bei näherer Betrachtung der zarten feingliedrigen Finger und des Daumens, dass es sich um die einer Frau handeln bzw. gehandelt haben musste. Selbst im Zustand der Austrocknung hatte die Hand noch einen gewissen zarten Appeal. Er stellte sich vor wie sie geschmeidig über seinen Körper geglitten haben könnte. Allerdings Rückwärtsvisionen nützten jetzt wenig. Das hielt nur auf, dachte er logisch genau.
Sein Gehirn rotierte. War die Hand beim Zuklappen der Motorhaube abgetrennt worden? Aber warum blieb sie dann dort liegen? War sie dort vergessen worden? War mit dem Astra eine zerstückelte Leiche transportiert worden? Aber warum die Hand dann ausgerechnet im Motorraum? Lebte der Rest der Frau noch?
Doch hier handelte es sich eher um kriminalistische Fragen. Tigerratte überlegte, ob er die Polizei oder den Autohändler informieren sollte. Nach Hin und Her kam er zu dem Beschluss, es beruhen zu lassen. Er wollte keine Zeit mehr für Scherereien opfern. Vielleicht wollte eine Hand die andere waschen und da hatte dann eine gemogelt und ihre Quittung bekommen.
Doch wohin mit der Hand? Nach ein paar Gedankengängen umwickelte er sie mit einem alten Lappen und entsorgte sie bei seinem Mittagsspaziergang unauffällig im Niendorfer Gehege. Da passte sie viel besser hin, dachte er. So Leichenteile noch Lebender oder Nichtlebender waren viel natürlicher im Wald aufgehoben. Im Fernsehen kam das jedenfalls des Öfteren vor, dass Teile oder ganze Leichen vergraben wurden.
Was hatte eine Hand im Motorraum eines Astra zu suchen?

An einem Samstag im Frühling des nächsten Jahres las er folgende Schlagzeile in der Morgenpost:

< Schäferhund findet tote Hand beim Spaziergang im Niendorfer Gehege >


Die Hundebesitzerin Annika Jäger folgte ihrem Liebling in den Wald, abseits des Spazierweges, weil er bellte und nicht zurückkommen wollte. Da lagen ein paar Knochenreste einer menschlichen Hand. Frau Jäger schien das nicht geheuer, hob sie deshalb auf, verstaute sie in einer Plastiktüte und brachte sie zum Polizeikommissariat Niendorf im Garstedter Weg.

Fünf Monate nach dem Fund der Hand stand dann im Hamburger Abendblatt:


Ein Rätsel liegt auf der Hand - Warum der Fall mit der abgetrennten Hand aus dem Niendorfer Gehege ungelöst bleibt


„Es hat sich niemand bei uns gemeldet, dem die Hand fehlt“, sagte Kripo-Sprecher Peter Kühner. Auch für ein Verbrechen gibt es keine Anhaltspunkte. Die rechte Hand ist keiner Person zuzuordnen, die in der Region vermisst wird".

Erleichtert dachte Tigerratte, dass sein Zwischenspiel mit der Hand keine Folgen hatte und auch nicht zu einem besseren Ergebnis in diesem Rätsel führen konnte, denn auch er hätte nichts Tragfähiges zur Lösung des Problems beitragen können.



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