Spuk

Erzählung zum Thema Liebe und Traurigkeit

von  agmokti

Nervtötende Musik dröhnte durch die engen Gassen, während sie zwischen Menschen hindurch navigierte. Neonlichter warfen Schatten auf ihre blassen Wangen, sie drängte mit unverkennbarer Unruhe vorwärts. Sie wollte wieder das Leben kosten, wollte sich verlieren in den endlosen Strömen von Möglichkeiten. Eine alternde Frau, die den Schmerz einer Liebe in sich trug, die mal relevant, die wichtig gewesen war und die alles dafür tat, um diesen wieder los zu werden.


Sie liebte einen Mann, der sie auch liebte - das war eine Tatsache. Der sich dennoch nicht für sie entscheiden konnte. Altbekanntes Drama. Aus Rücksicht zu ihr und Ängsten vor falschen Versprechungen. Für sie war es Flucht, für ihn war es Fürsorge. Er war wie ein Gespenst in ihrer Existenz, immer präsent aber nicht greifbar. Sie versuchte, sich an das Gespenst zu gewöhnen, sie versuchte dem Spuk nicht nachzugeben, den Spuk nicht für vollzunehmen, denn manchmal war er da, geisterte in ihrem Leben für Stunde­n herum und verschwand wieder auf unbestimmte Zeit. Seine Zweifel und Ängste hielten sie auf Distanz. Sie wusste, dass sie gehen musste und das würde sie auch tun. Die Frage war nur, wann.

 
So tauchte sie in die Räume und Dunkelheit ein, die Zufluchtsorte für gebrochene Herzen waren. Sie trank nicht um ihre Gefühle zu betäuben, sondern weil sie es gewohnt war. Sie wollte erweiterte Sinne, Momente die ihre Gedanken in neue Welten katapultierten, Pulver, das sie in einen ruhigen Zustand versetzte. Die Nacht versprach einen Schluck Vergessenheit. Wünsche und Sehnsüchte kreisten wie ein wildes Tier in ihr, mussten ausbrechen.


Sie traf auf Gestalten, die sich wie Schatten aus einer anderen Welt auftaten. Ein alter Mann mit zerschlissenem Anzug und einem väterlichem Lächeln erzählte ihr von seinen  Reisen um die Welt. Eine kurzsichtige Tänzerin mit wilden Haaren und heiserer Stimme zog sie in eine Ecke und flüsterte ihr Geschichten von unerfüllter Liebe ins Ohr. Ein Musiker mit verblichenen Tattoos spielte auf seiner Gitarre Lieder voller Höhen und Tiefen - von gebrochenem Willen, zerstörtem Wollen. Und dann war da noch der schöne Mann, der sie mit der Aussicht auf Pillen in seinen Bann zog, die all ihre Ängste und Hemmungen wegwischen sollten.


Sie ließ sich treiben, zwischen den Küssen fremder Lippen und den Berührungen wilder Hände. Sie hörte ihren Geschichten zu, teilte ihre eigenen mit ihnen, und sie fühlte sich wohl, fühlte sich verstanden, durfte sich treiben lassen, ohne die Verantwortung für ihr Leben tragen zu müssen. Keine Kinder hatten sie gebunden, keine unschuldigen Seelen, die von ihren Entscheidungen betroffen wären. Sie durfte sich verlieren, denn es ging nur um ihr eigenes Leben und das lag bereits in Brüchen.


Die Nacht verschwamm zu einem einzigen, rauschigen Wirbel. Ihre Gedanken wurden frei, ungezähmt, überbordernd, sie konnte es in dem Moment mit jedem aufnehmen, jedem Scheiß trotzen, während sie sich durch die Schatten der Stadt bewegte.
Die Nacht wurde zum Tage, die Tage wurden zu Nächten, ein endloser Kreislauf von Fühlen und Betäubung. Die Zeit, wie ein zerschlagenes Glas, das seine Flüssigkeit verschüttet. Stunden wurden zu Minuten, Minuten zu Sekunden. Doch inmitten dieses Strudels hörte sie, wie etwas in ihr laut brach.


Als die Sonne langsam aufging und die Dunkelheit vertrieb, fand sie sich allein wieder. Sie spürte die Erschöpfung, die sie in den Knochen trug, ihre Schritte waren schwer. Die Straßen waren still, als würden sie den Atem anhalten, um ihre Leere zu umarmen. Die Nacht hatte ihre Geheimnisse verschluckt und sie hatte im Gegenzug andere Geheimnisse in sich aufgenommen. Sie war verletzt, hatte gelernt, dass sie das Recht hatte, weiterzugehen, weiterzumachen, ohne sich selbst zu verurteilen.


Die Frau blieb kurz stehen, genoss den Wind an verschwitzter Stirn, der sich kalt um sie legte und lächelte müde. Sie wusste, dass sie zumindest wieder eine Geschichte zu erzählen hatte.


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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (09.06.23, 14:02)
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