Ein Mann ohne Flügel

Kurzprosa

von  abgetaucht

 

 


Ich traf einmal einen Mann.

 

Der war beständig in Angst, es könnte vielleicht einer seiner mühsam errungenen Gedankengänge hinab fallen auf die Straße und vielleicht käme dann gerade ein Regenguss und würde ein Rinnsal bilden oder vielleicht sogar eine Flut und die würden dann seinen sorgsam gehüteten Gedankensplitter erbarmungslos zu dem Einlass eines Senkkastens und in ihn hinein spülen und ihn vielleicht hinab in dunkle Untiefen reißen und ihn sodann hin zu mit Ungeziefer verseuchten Strudeln und in Klärbecken tragen und von dort, durch Filter gepresst, halb tot vielleicht nun schon, würde er vielleicht in einem frisch zubereiteten, verführerisch duftenden, äthiopischen Kaffee, einem meisterlich aufgekochten, marokkanischen Tee mit Minze und Wermut und viel Zucker oder in einer liebevoll gekochten französischen Bouillon landen, würde genussvoll geschlürft aber unbemerkt mitverzehrt werden, und dann, er mochte es sich gar nicht ausmalen, vielleicht aber spülte es seinen schönen Gedankenblitz auch hin zu einem Bach, einem Fluss, einem Strom, vielleicht zu einem gemächlich dahin fließenden und er sänke zu Boden und gierige Tierlein bemächtigten sich seiner, schlürften ihn, spuckten ihn vielleicht wieder aus und ließen ihn verendend zurück, vielleicht aber auch landete er in einem reißenden Strom und käme dort nicht ein Raubfisch, der ihn fräße und bis zur Unkenntlichkeit verarbeitet wieder ausschiede, nähme ihn der Fluss vielleicht weiter mit bis in ein unendliches Meer, einen Ozean vielleicht, wo er, treibend oder in Tiefen hinab gesunken, nun sicher endgültig für ihn verloren wäre.


Nein, das durfte ihm nicht passieren, doch der Mann war vorausschauend, legte jeden Gedanken fein säuberlich zwischen die Blattseiten eines Buches, versenkte dieses gewissenhaft in einem sorgsam verschlossenen, metallenen Kästchen, das er in einer mit Riegel und Schloss gesicherten großen Schublade seiner Kommode verwahrte.


Als ich ihn zuletzt sah, verließ er gerade sein Haus.
Er schloss sorgfältig ab.



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Kommentare zu diesem Text


 Redux (16.08.23, 14:40)
Surreal. Kafkaesk. Und anspruchsvoll geschrieben.

 abgetaucht meinte dazu am 17.08.23 um 01:59:
Herzlichen Dank für deinen Kommentar.

 DanceWith1Life (16.08.23, 15:22)
was nur einen, wo war  das?

 abgetaucht antwortete darauf am 17.08.23 um 01:59:
Bist du auf Entzug?
;)

 DanceWith1Life schrieb daraufhin am 17.08.23 um 09:52:
1)Sucht oder(und) Gewohnheit
2) ich denke, ich bin eher am Zug
3) verdammt, wo sind die Schlüssel
4) the song remains the same
und vieles mehr

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 17.08.23 um 10:03:
Fantasievoll. Der Mann hatte schlicht Angst, dass sein Gedanke abtauschen würde.

LG
Ekki

 DanceWith1Life ergänzte dazu am 17.08.23 um 10:50:
tun sie das nicht immer, Ekki?

 abgetaucht meinte dazu am 17.08.23 um 12:50:
Herzlichen Dank Euch beiden für Eure Kommentare und Anmerkungen, auch Euer Gedankenaustausch freut mich.
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