Maikäfer, flieg!

Reportage zum Thema Reisen

von  Elia

Ich wurde achtzehn Jahre nach dem zweiten Weltkrieg geboren und „meine“ Ostsee bestand aus der Mecklenburger Bucht zwischen Lübeck und Flensburg. Dort verbrachte ich öfters meine Sommerferien, zuerst auf dem Bauernhof des „Kurschattens“ meiner Oma, der uns eingeladen hatte, in der Nähe von Kiel zu urlauben.

Später gelang mir nach und nach ein weiterer Blick über den „Gartenzaun“, 1987 nach Rostock/Warnemünde, 2009 nach Rügen, 2017 nach Rerik. Und im Dezember 2023 wurde ich übermütig. Jemand hatte mir erzählt, es sei sehr schön an der polnischen Ostsee und so buchte ich zehn Tage Urlaub in Kolobrzeg. Da ich das nicht aussprechen konnte, erzählte ich einer Freundin mit polnischen Wurzeln, ich wolle Urlaub in „Kolberg“ machen, mit einem Abstecher nach Danzig, falls die Zeit reichen würde. Sie korrigierte mich nicht und meinte verständnisvoll, Polnisch zu lernen sei fast unmöglich, aber ich spürte, dass es ihr lieber gewesen wäre, ich hätte „Kolobrzeg“ gesagt, was ich mir für den geplanten Urlaub auch vornahm.

Zur Vorbereitung schaute ich YouTube-Videos, in denen getestet wurde, wo man mit Kindern günstiger Urlaub machen könne, an der deutschen oder polnischen Ostsee, und für mich sah beides gleich aus. Ähnliche Promenaden, Strände, Eisstände, Menschen. Nachdem ich gebucht hatte, dachte ich nicht mehr groß über meinen Urlaub nach, denn was war mir besser bekannt als die Ostsee?

Erst kurz vorher erkundige ich mich bei Menschen mit polnischen Wurzeln: „Sag mal, muss ich eigentlich Geld umtauschen?“ „Nein“, war die allgemeine Auskunft, „da kannst du überall mit Euro bezahlen und es ist sinnvoll, erst in Kolobrzeg in die Wechselstube zu gehen.“ „Sollte man nicht wenigstens ein Paar Zloty in der Tasche haben, wenn man ankommt?“ „Nein, das brauchst du wirklich nicht.“ Die Bank gab eine gleichlautende Auskunft und so ging es ohne polnisches Bargeld los nach Polen, anders als gewohnt nicht über die Hamburg-Route, sondern an Berlin vorbei und dann nach Norden.

Ich hatte einen Reiseführer gekauft. Darin behauptete man: „An der Ostseeküste gibt es keine Sprachprobleme. Vielerorts spricht man auch Deutsch. Aber es empfiehlt sich, wenigstens „Guten Tag.“ und „Danke.“ zu lernen. Folglich lud ich eine Übersetzer-App herunter und probte das, was sie mir anzeigte, auszusprechen. Es war nicht so einfach, wie erwartet. Drei Konsonanten in Folge, das war eine Hürde.

An der Grenze empfing uns ein großer roter polnischer Adler und eine höchst gepflegte, aber ziemlich leere Autobahn. Die Landschaft war wie zuhause in der westfälischen Börde. „Wenn Du jetzt geschlafen hättest und mich fragtest, wo wir sind, würde ich sagen, ganz in der Nähe von Waldhausen und wetten, Du würdest mir glauben.“, sagte mein Mann. Da tauchte die Oder auf und ich fühlte, während wir sie überquerten, eine unwirkliche Verwunderung, so wie ein Kind sie empfindet, wenn es zum ersten Mal das Meer sieht oder die Alpen.

Natürlich war die Verwunderung nicht zu vergleichen mit dem ersten Mal 1990 Bratwurst essen am Straßenrand im ehemaligen DDR-Teil des Harz oder beim Bestaunen der Erfurter Altstadt oder beim letztjährigen Besuch im Geburtsort meiner Uroma im thüringischen Lengenfeld unter’m Stein. Man gewöhnt sich an Wunder. Aber immerhin, auch hier ging es in ein vormals unerreichbares Land.

Wir schalteten das Autoradio an und es erklang eine Stimme mit dem Tonfall eines WDR-Sprechers, aber eben in flottem Polnisch. „Guck mal, ob du einen deutschsprachigen Sender findest.“, forderte ich meinen Mann auf, aber es gab keinen. Zum ersten Mal kamen mir Zweifel, ob es wirklich richtig sei, dass „da oben sowieso jedermann Deutsch versteht“. Und plötzlich ploppte mit einer Verzögerung, weil es ja „nur“ an die altbekannte Ostsee ging, der Gedanke auf, ob meine Krankenversicherung auch im Ausland gälte.

Von Lübeck, Kiel und Travemünde abgesehen, kannte ich von der Ostsee nur gemütliche kleine Badeorte am Meer. Ähnlich hatte ich mir Kolobrzeg vorgestellt, denn natürlich hatte ich den Reiseführer nicht gelesen, sondern mir lediglich die Fotos von den Sehenswürdigkeiten der Region angeschaut. So war ich überrascht, als sich Kolobrzeg als mittelgroße Stadt entpuppte, die, abgesehen von der innersten Ortsmitte mit dem wiederaufgebauten Mariendom, weitgehend aus Plattenbauten besteht. Die Enttäuschung ob dieses wenig attraktiven Stadtbildes drückte ich konsequent herunter. Es war mir unangenehm, sie überhaupt zu fühlen. Was fiel mir schließlich ein, von einer Stadt enttäuscht zu sein, deren aus Not geborene Bauweise, ihre letzte Ursache im zweiten Weltkrieg hatte? Das historisch schlechte Gewissen der Deutschen klopfte schon zehn Minuten nach Verlassen der Autobahn bei mir an.

Das Navi führte uns an den tristen Hochhäusern vorbei in ein Gebiet, das von massigen Hotelneubauten geprägt war. Da ich die Adresse ebenfalls nicht aussprechen konnte und folglich auch nicht gründlich gelesen hatte, fanden wir die Einfahrt zum Hotelgelände nicht und stellten etwas hilflos fest, dass sämtliche Hotels ihren Parkraum mit einer Schranke vor unbefugter Benutzung geschützt hatten. Zwar gab es kostenpflichtige öffentliche Parkplätze in der Nähe, aber dort patrouillierten gleich zwei entschlossen wirkende uniformierte Parkaufsichten mit wehrhafter Miene. Nun rächte es sich, keinen Zloty in der Tasche zu haben, mittels dessen man die Parkuhr hätte bedienen können und die Möglichkeit, diese mittels Karte zu nutzen, scheiterte daran, dass die schriftlichen Anweisungen dazu ebenfalls nicht zu verstehen waren. So irrten wir nach neunstündiger Fahrt einigermaßen erschöpft von Hoteleinfahrt zu Hoteleinfahrt und blieben schließlich in einer stehen, zu der ein belustigt wirkender deutscher Tourist durch das offene Wagenfenster den Rat erteilte, einfach kurz hier zu halten und sich an der Rezeption beraten zu lassen. Es sei schließlich kein Problem, da unser Kleinwagen wohl niemanden behindern würde. Gesagt getan. Mein Mann verschwand in Hotel und ich googelte, bereits entnervt, wie weit es von hier nach Usedom sei.

In diesem Moment erschien der schwarzgekleidete Parkplatzwächter, klopfte an die Scheibe und erklärte mir in erbostem Polnisch und unter Einsatz seines Daumens, dass ich hier innerhalb einer Minute zu verschwinden habe, andernfalls er die Polizei alarmieren würde. Hurtig zuckte ich die Übersetzer-App, um zu erklären, dass wir gerade angekommen seien und mein Mann nur eben an der Rezeption unser Parkproblem klärte, aber leider funktionierte die digitale Übersetzung nicht. Ich probierte es mehrfach und versuchte, mich zwischendurch dem unfreundlichen Herrn verständlich zu machen, aber er wiederholte nur mit sich steigerndem Unmut, ich habe hier sofort zu verschwinden, und zwar, Einsatz des Daumens, innerhalb einer Minute.

Ich sah mich schon meines Mannes verlustig gehen, blieb deshalb stur stehen und ließ mich beschimpfen, da öffnete sich die Eingangstür, der werte Gatte erschien und ich atmete erleichtert auf. Die erlangte Information reichte immerhin, nun die richtige Einfahrt zu finden.

Nach einigem Hin und Her hatten wir schließlich den Wagen sicher untergebracht und radebrechend eine wenig freundliche, aber in Brocken deutschsprachige Rezeptionistin und den ernsten Mann vom Sicherheitsdienst, der uns unser Apartment zuwies, überwunden.  Um mich über das Ende der langen Anfahrt zu freuen, war ich zu müde und die Hindernisse beim Parken hatten mir das Anlangen am Urlaubsort ein wenig verleidet. Das Apartment erwies sich jedoch als sehr sauber, gut eingerichtet mit tollem, geräumigem Bad und dem versprochenen eingeschränkten Blick auf die Ostsee, die sich als grauer Streifen zwischen den Hotelblöcken abzeichnete.

Gelernt  hatte ich bis dahin schon viel: die Oder gibt es wirklich und unversehens ist man „drüber“, Polen verfügt über mindestens eine funkelnagelneue Autobahn mit wenig Verkehr, man kann keineswegs „überall mit Euro“ bezahlen, es empfiehlt sich ein Minimum an polnischem Münzgeld mitzuführen und es spricht ganz bestimmt nicht jeder in den Tourismusgebieten der polnischen Ostsee Deutsch. Ferner wird das Bemühen, das erste polnische Wort auszusprechen, von manchen Rezeptionistinnen mit herablassendem Blick beantwortet, die Zerstörung des zweiten Weltkriegs ist nicht getilgt und wenn man keine Parkkarte hat, läuft man Gefahr binnen einer Minute mit der Polizei konfrontiert zu werden. Es war kein guter Anfang und das hatte ich nicht erwartet.

Am Abend noch gingen wir zum Strand. Westlich sahen wir in einiger Entfernung den Leuchtturm von Kolobrzeg, der in zuverlässigen Abständen sein Lichtsignal über Meer und Land schob. Darunter erkannte man die Seebrücke und dahinter die Hafenmauer, beides bunt beleuchtet. Wir begrüßten freudig das Meer, welche in altbekanntem Rhythmus gegen den Strand rollte, und setzten uns in Richtung der Lichter in Bewegung. Der Strand war breit, eine Bar hatte geöffnet und beschallte die dort aufgebauten menschenleeren Liegestühle mit einem monotonen Bass. „Würdest Du da gern hingehen, bei dem Krach?“, fragte mein Mann. „Es soll junge Leute anziehen, ja, notfalls würde ich mir das eine Weile antun.“, antwortete ich und fügte hinzu: „Aber es ist ja niemand da. Die machen bestimmt gleich zu.“ Und so war es. Die Entfernung bis zur Seebrücke war schwer abzuschätzen und nach einer dreiviertel Stunde Marsch entlang des von Meerwasser schweren und gut begehbaren Wassersaumes, in der sie zwar näher rückte, aber noch lange nicht erreicht war, kehrten wir um. Inzwischen war es überall still. „Komisch, dass hier niemand mehr am Strand unterwegs ist. Für April ist es recht warm und es nicht einmal 22 Uhr.“, stellte ich fest. Später wurde klar, dass das Hotel und auch die daran angegliederten Appartements in dieser Karwoche nur wenig und ausschließlich von älteren Menschen oder jungen Familien gebucht waren. Niemand hatte um diese Jahreszeit Bedarf nach einer technobeschallten Beach-Bar.

Am nächsten Tag schwebten hellgraue Wolken hoch über dem Land. Nach dem Besuch der Wechselstube in der Innenstadt, waren wir froh, den Supermarkt einer heimischen Kette zu entdecken und den ersten Nahrungsmittelbedarf decken zu können. Seltsam empfand ich, Spekulatius und Lebkuchen in den mir von zuhause bekannten Verpackungen vorzufinden. Ab September freute ich mich stets über deren Auftauchen im Laden, beherrschte mich dann bis Weihnachten, um mir mit ihrem Verzehr nicht die Figur zu verderben, und kaufte erst Anfang Januar, bevor sie binnen einer Woche spurlos verschwanden, ein oder zwei Packungen. Der erste Impuls war, die sich so überraschend bietende Chance, eine Woche vor Ostern das verführerische Weihnachtsgebäck zu erwerben, zu nutzen. Aber als ich die Spekulatiuspackung ganz unten aus dem Regal gehangelt hatte, stoppte ich den Impuls und stellte sie, peinlich berührt, wieder zurück. Es konnte doch nicht sein, dass die Polen dieses Zeug so gern verzehrten, dass es auch zu Ostern im Programm war? Oder transportierte die Supermarktkette ihre deutschen Restbestände nach Polen, weil man sie nur dort noch zu günstigem Preis verkaufen konnte? Was in meinem Land wahrscheinlich weggeworfen worden wäre, das mutete man also den Polen zu? Wir ließen das bekannte Gebäck, wo es war und kauften stattdessen seltsame, wie sich später herausstellte, in Schmalz gebackene und mit Puderzucker bestreute Gebäckkringel und dicke, in buntes Metallicpapier gehüllte Bonbons, die sich als sehr süß erwiesen. Auf dem Weg zurück ins Appartement fielen mir riesige Wahlplakate an den Hochhauswänden auf. Die Kommunalwahlen standen vor der Tür und die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister führten offensichtlich den Titel „President“. Wen würden die Polen wählen? Würde der Kurs zurück nach Europa stabil bleiben? Oder war der nationalistische Kurs der PIS-Partei weiterhin in den Köpfen verankert? Wie wichtig war den Polen die hübsche Autobahn, die von Berlin bis Gdansk reichen sollte und an der die EU vermutlich ihren Anteil hatte? Und wie sehr freuten sie sich wirklich über deutsche Touristen?

Der Weg entlang des Strandes, den wir am späten Vormittag in die andere Richtung als am Vorabend nahmen, war ein frohes Wiedererkennen lange bekannter Naturwunder: rund gespülte bunte Kiesel, die beim An- und Abrollen der Wellen gegeneinander klackerten, sanfte Wogen, kilometerweiter feiner Sand, frischer Wind, der noch keinen Hauch von Frühling in sich trug. Nach einigen Kilometern entlang der Wasserkante verließen wir über einen Übergang den Strand und gelangten auf die „Promenade“, einen sauber verlegten Marmorweg mit angegliederter Fahrradspur. Diese wurde durch Natursteine in Wellenform abgegrenzt. „Denkst Du, dass das vorgefertigt ist, oder muss man das vor Ort verlegen?“, fragte ich den mich begleitenden gelernten Maurer. „Das ist alles mit der Hand verlegt.“, sagte er. Ich stellte mir vor, wie Männer hier über Jahre in jeder Jahreszeit auf dem Boden gekniet und über Kilometer hinweg Stein an Stein gelegt hatten. Wie viele Knie mochten dabei Schaden genommen haben? Wie sinnvoll war eine derart opulente Bodengestaltung? Hin und wieder begegnete uns ein einsamer Spaziergänger, manchmal ein Paar oder auch ein Radfahrer, aber trotzdem lastete Menschenleere über dem kunstvoll erstellten und sicher sehr teuren Weg. Wohin führte er eigentlich?

Nach einigen Kilometern gab es Sitzgelegenheiten, Hinweisschilder mit dem Emblem der EU und einen Pfad, der von hier in ein vom Meer abgetrenntes Vogelschutzgebiet mit ruhigem Wasser führte. Dort gingen wir ein Stück und setzten uns dann auf eine Bank. Es war still, nur Vogellaute waren zu hören. Vor uns glitten Schwäne über die spiegelglatte Wasseroberfläche, von oben hingen Zweige mit ersten grünen Blattspitzen herunter.

„Wir sind übrigens in Pommern.“, bemerkte mein Mann und ich horchte dem Satz nach. Pommern kannte ich aus dem großen Dierke-Schulatlas meiner Kindheit. Nach diesem bestand Polen aus Schlesien, Pommern und Teilen von Ostpreußen. So hatte ich das gelernt, wobei ich mir einprägte, dass Pommern "oben" und Schlesien „unten“ lag und man dies alles nicht bereisen konnte. Und nun saß ich also doch in Pommern auf einer Bank und sah einem Schwan zu, der sein weißes Gefieder plusterte. „Maikäfer, flieg.“, sagte ich. „Komisches Lied. Hast Du das als Kind auch gekannt?“ „Ja, klar. Das hat jedes Kind gekannt.“ „Und, hast Du Dir dabei was gedacht?“ Er zuckte die Schultern. „Ich habe schon bemerkt, dass mit diesem Lied irgendetwas nicht stimmte.“, fuhr ich fort und rezitierte: „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, deine Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer flieg.“ – „Das ist doch grausam. Hast du als Kind bemerkt, wie grausam das ist?“ Er schüttelte den Kopf: „Über so etwas habe ich nicht nachgedacht.“ Ich auch nicht. Aber bemerkt, dass da etwas nicht stimmt, hatte ich schon. „Pommerland“, das hörte sich niedlich an und natürlich hatte ich angenommen, dass die Mutter aus dem abgebrannten Pommerland geflohen und auf dem Weg zum Kind war. „Krieg“, das hatte ich von Oma und Uroma erfahren, ist etwas ganz Schlimmes. Also konzentrierte ich mich auf den Maikäfer, wobei, es gab ja Anfang der Sechziger, wie von Reinhard Mey besungen, keine Maikäfer mehr gab. Ersatzweise fungierten uns Kindern die Marienkäfer als „Maikäfer“. Wir sammelten sie an Sommertagen im Garten, sperrten sie in ein Marmeladenglas voller Grashalme mit Luftlöchern im Deckel und ließen sie spätestens am Abend wieder frei. Ich kann mich noch gut an das Gefühl erinnern, wenn der Marienkäfer über die Hand krabbelte, dann abhob und vor dem Himmel allmählich verschwand. Ich empfand jedes Mal eine ambivalente Faszination, einmal weil er fliegen konnte, einmal, weil er danach fort war und nichts hinterlassen hatte als einen kleinen Klecks gelben Kots auf der sonnengebräunten Kinderhand. „Marienkäfer flieg, dein Vater ist im Krieg…“. Wir hatten das unseren Kindern nicht mehr beigebracht, dieses Lied. Ich glaube auch nicht, dass ich es von meinen Eltern habe und verdächtige dazu die Oma oder die Uroma.“ Beide lebten in meiner Kindheit mit im Haushalt. Was sie sich dabei nur gedacht haben?

Mit der überraschenden Bewusstwerdung, dass wir uns nicht nur „irgendwo in Polen“, sondern in Pommern befanden, kehrten wir zurück in unser Appartement. „Ich würde gern einmal nach Darlowo.“, sagte mein Mann. „Das hieß früher Rügenwalde und es ist am Ende des Krieges nicht zerstört worden. Ich möchte wissen, wie es hier früher ausgesehen hat.“ Das Wort „Rügenwalde“ erinnerte mich an jene Teewurst, die ich als Kind sehr gern gegessen hatte. Anders als er, der zehn Jahre älter war als ich, reizte mich weniger die frühere Bebauung, als den Ort kennen zu lernen, von dem die Rezeptur jener Wurst stammte.  Heute bin ich zwar Vegetarierin, aber in meiner Kindheit war Käse noch eine Delikatesse, die man sich selten leistete, so dass es immer irgendeine Lieblingswurst gab. Rügenwalder Teewurst war zu meiner Kindheit gewiss nicht mehr aus Rügenwalde gekommen, aber jetzt stellte ich mir vor, dass die frühere Rügenwalder Bevölkerung das Rezept auf der Flucht mitgenommen und in der neuen Heimat Geld damit verdient hatte. Natürlich war das nur ein Film im Kopf, aber der machte neugierig.

Auf dem Weg von Kolbrzeg nach Darlowo passierten wir Koszalin, vormals Köslin und seine Plattenbauten, die deutlich machten, wie sehr auch hier der Krieg und der anschließende sozialistische Wiederaufbau eine neue Stadt zurückgelassen hatte. Irgendwann bogen wir aber falsch ab und so entdeckten wir schmale Landstraßen, kleine Ortschaften und einen Einblick in die ländliche Seite Polens. Sie war so, wie ich sie nach den Lehren meiner Grundschulzeit erwartet hatte und bestand aus Dörfern, in denen auf teils unbefestigter Straße Hühner spazierten. Die Dörfer zogen sich entlang der durchführenden Hauptstraße und schienen nur wenig Raum im Hinterland zu beanspruchen. Irgendwo im Nirgendwo war ein alter Mann damit beschäftigt, die Einfassungen von Blumenbeeten weiß zu streichen. Obwohl einige Gebäude schon recht alt waren, war alles sehr gepflegt. In einem kleinen Ort, bestehend aus weniger als zehn älteren Häusern, machte ich ein menschenleeres Gelände aus, das neue Spielgeräte und einen großen Edelstahlgrill aufwies. „Ich glaube, da hat die EU wieder mal einen Dorfmittelpunkt finanziert., den niemand braucht.“, meinte ich, denn ich kannte etwas Ähnliches von zuhause.

Es war Karfreitag gegen 13.30 Uhr als wir rechts der Straße eine Kirche mit spitzem Turm sahen und beschlossen, hineinzugehen. Als viel spannender erwies sich jedoch der Kirchhof, der als Friedhof fungierte und dessen Pracht ich nicht erwartet hatte. Alle Gräber waren vollends mit Marmor eingedeckt und opulent mit künstlichen Blumen geschmückt. Im hinteren Bereich imponierte ein gigantischer weißer Teddybär, der auf einer Grabplatte hockte. Ich ging nicht hin, denn dieser Teddybär gehörte vermutlich einem toten Kind und war nicht für neugierige Touristen gedacht.

Die Kirche erwies sich als neugotischer Klassiker, Grab und Kreuz waren passionsgerecht verhüllt. Katholisch anschaulich, so wie man es von Polen erwartet, war die Szene Jesu beim Gebet am Ölberg mit Hilfe angemalter Leinentücher nachgestellt und daneben lehnten an der weiß getünchten Kirchenwand reich geschmückten „Palmwedel“ aus Buchsbaum mit bunten Bändern, die vom Palmsonntag übriggeblieben waren. „Wollen wir bis zur Karfreitagsliturgie bleiben?“ Ich stellte mir vor, wie wir inmitten der Einheimischen in der Bank hockten und die Gebete nicht mitsprechen konnten. Am Mariendom in Kolobrzeg und auch an dieser Kirche hatten wir eine Info gefunden, dass die Kirche bis 1945 evangelisch war. Klar. Ich hatte mich zuhause schon gefragt, ob die Menschen hier evangelisch oder katholisch sind, denn ich kannte Norddeutschland als evangelisch geprägte Region und hatte überlegt, ob es eine gute Idee sei, im Urlaub, der sich über Ostern zog, auch einmal eine Kirche zu besuchen. Da wir an jeder Straßenkreuzung ein mit Blumen geschmücktes Kreuz oder eine Pietà vorfanden, war schnell klar, dass die Gegend katholisch ist, aber erst der Hinweis in den Kirchen legte die Spur zur Geschichte. Die am Kriegsende vertriebene deutsche Bevölkerung nämlich war ebenso evangelisch gewesen wie die an der deutschen Ostseeküste, aber sie war durch die nun ansässige polnische Bevölkerung ersetzt worden und die war halt katholisch. Ich fragte mich, wie die Menschen, denen wir in der Kirche begegnen würden, uns wahrnehmen könnten. Als Eindringlinge, als Verwandte oder doch nur als zahlende Touristen? Ich beschloss, niemanden stören zu wollen und außerdem war das Ziel des Ausflugs ja ein anderes gewesen. Wir fuhren also weiter Richtung Darlowo/Rügenwalde und unterwegs schoss mir durch den Sinn, dass ich im Falle eines Unfalls sprachliche Schwierigkeiten haben würde, den Rettungsdienst an den richtigen Ort zu bestellen und die nötigen Informationen zu geben.

Darlowo schenkte uns einen Parkplatz direkt neben dem Schloss. Wir durchquerten den Hof und ich fotografierte den „Hexen- und Folterturm“, aber nun längere Zeit in geschlossenen Museumsräumen zu wandeln und den Fokus auf längst vergangene Geschichte zu richten, hatten wir keine Lust. Wir wollten ja anhand der unzerstörten Bausubstanz erfahren, wie die Menschen, die die „Rügenwalder Teewurst“ erfunden hatten, einst lebten. In der Fußgängerzone, die aus einfachen, aber eindeutig alten Häusern bestand, besuchten wir ein Café, wo es gelang, mit nonverbaler Gestik zwei Kaffee und Kuchen zu bestellen. Die Verkäuferin war freundlich, kannte wohl Besuch aus Deutschland schon und bot ein angenehmes Gegengewicht zu manch ungeduldigen, herablassenden und genervten Gesichtsausdrücken, die mir in den vergangenen drei Tagen ob meines Versuchs, mich mit Hilfe einer Übersetzungsapp zu verständigen, begegnet waren.

Die Sprache erwies sich insgesamt als echtes Hindernis. Einmal half mir eine sprachkundige Frau aus Ostdeutschland, an einem Stand zwei Eis zu bestellen. Sie stand in der Warteschlange hinter mir und hatte mitbekommen, dass ich mich bemühte, anhand der ausgehängten Eiskarte das Gewünschte zu artikulieren.

Ein anderes Mal begegnete uns ein alter Mann am Strand. Er kam direkt auf uns zu und redete angeregt auf uns ein. Ich bedeutete ihm, dass wir leider kein Wort verstünden, weil wir aus Deutschland kämen. Da schaute er nach unten, blieb noch eine Weile stehen und wirkte traurig.

Unten im Hotel befand sich ein Schwimmbad. Mit den älteren Frauen, die dort arbeiteten, gelang die Verständigung wiederum nur mit Händen und Füßen, aber eines der jungen Mädchen sprach Englisch. Wir kamen ins Gespräch und unterhielten uns über die europäischen Sprachfamilien. Dass ich gerade Spanisch lernte und mir das leicht fiel, weil ich vor fünfzig Jahren das Latinum erworben hatte, machte Eindruck auf sie. Ob ich in der Lage sei, die lateinischen Inschriften in Kirchen zu verstehen, wollte sie wissen und ich fragte mich, welche der, ihr gleichaltrigen Menschen zuhause sich von dieser Kompetenz ebenso hätten beeindrucken lassen. Allgemein bemühten sich mehrere junge Menschen darum, Englisch zu sprechen und einmal lächelte jemand, als ich bei der Aussprache des englischen Preises für „dwie kawy“ etwas unterstützte. Diese dritte Sprache, die niemandes Familiensprache war, wurde wohl als eine Art Brücke empfunden.

Nach mehreren Tagen begannen wir, Abwechselung zu vermissen, denn weder Fernsehen, noch Kino, noch Gespräche, noch ein Besuch der Hotelbar waren möglich. Ersteres, weil wir kein Wort verstanden, letzteres, weil das Hotel so unterbesetzt war, dass das Personal dort ab 20 Uhr nur noch mit Aufräumen und Frühstücksvorbereitungen für den nächsten Tag befasst war.

Darlowo jedenfalls erwies sich im Weiteren als gemütliche Kleinstadt mit alten und nur mäßig renovierten Häusern, angeordnet um einen Markplatz, auf dem ein mit LED beleuchtetes, mannshohes Osterei einlud, eine Erinnerungsfoto zu schießen. Kurz vor 15 Uhr erreichten wir die Kirche. Auf einem Grünstreifen an der Kirchenmauer waren alte und teilweise zerbrochene Grabsteine mit deutschen Inschriften aufgereiht. Eine Tafel erklärte, dass hier früher ein Friedhof gewesen sei und dass die Grabsteine aus den umliegenden Orten zusammengetragen worden wären. Diese waren mit ihren deutschen Namen aufgeführt und erinnerten mich an die Titel melancholischer Romane, die in meiner Kindheit Bestseller waren und in denen es um das vergangene Leben in der verlorenen pommerschen, schlesischen oder ostpreußischen Heimat ging. Ich fragte mich, wie es wohl für diejenigen gewesen war, die selbst als Kind oder deren Eltern von hier vertrieben worden waren und die diese Ansammlung von Grabsteinen bei einem ersten Besuch in den Neunzigern vorgefunden hatten. Eine Tafel versuchte in polnischer und deutscher Sprache damit zu trösten, dass die Erinnerung an liebe Menschen nicht an Gräbern, sondern in den Herzen fortlebe und dass „wir unsere Gebete zu Gott schicken, für alle Verstorbenen dieser Erde, deren Erbe eine „neue Generation pommerscher Menschen“ übernommen hat.“ – Es klang versöhnlich. „Weißt du“, sagte mein Mann, „dass man die letzten Deutschen, die hier noch geblieben waren, am Ende in Viehwaggons getrieben und wegtransportiert hat?“ Ich hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht. Ich wusste von der furchtbaren Flucht der deutschen Bevölkerung Ostpreußens im Winter 1945, von den vielen Tausend Toten, die am „Frischen Haff“ ums Leben gekommen waren und natürlich war mir bewusst, dass die Strände der Ostsee nicht so unschuldig waren, wie ich das als Kind empfunden hatte, aber ich hatte es stets als eine lang entfernte Vergangenheit betrachtet. Als die Oder-Neiße-Linie anerkannt wurde, war ich ein Kind und hatte nie Verständnis dafür, wieso sich die „Vertriebenenverbände“ über etwas aufregten, was lange ein Fakt war. Für mich war jenes Polen, wie ich es im Dierke-Atlas kennengelernt hatte, das richtige Polen, ein ländlicher, friedlicher Ort, an dem noch Hühner im Graben scharrten.

Wir besuchten keine Karfreitagsliturgie, sondern beschränkten uns auf einen kurzen Blick in die Kirche, beobachteten vereinzelte Gottesdienstbesucher und gewahrten einen exotischen jungen Mann, der ein Franziskanergewand trug. Dann fuhren wir zurück nach Kolobrzeg und liefen den Rest des Urlaubs am Strand entlang, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Über die Ostertage füllte sich dieser. Fliegende Händler boten auf Klapptischen Bernsteinschmuck an, im Hafen konnte man Tassen mit Vornamen kaufen: Lukasz, Tomasz, manche auch bei uns üblich, andere nicht. Das Denkmal der „Vermählung Polens mit dem Meer“ gefiel mir, denn ich konnte die Freude gut verstehen, einen Teil der Ostsee gewonnen zu haben. Die darüber hinaus überall vor Gedenkstätten in Form von Blumensträußen mit rot-weißen Bändern zutage tretende Nationalverbundenheit irritierte mich, einfach weil ich zu einer Generation gehöre, die beim Herumwirbeln mit Nationalflaggen sensibel reagiert. Kurz und gut: Die Geschichte, mit der ich nicht mehr gerechnet hatte, fiel uns hinterrücks in die Hacken und ließ mich zweifeln: Wen wählen die Polen bei der anstehenden Kommunalwahl? Wie wichtig ist die Sprache? Wie war das mit den geforderten Reparationen? Wie kann man eine gute Nachbarschaft gestalten?

Zuhause fiel mir das Lied wieder ein: Maikäfer flieg. Ich versuchte vergeblich, es über meine MusikApp zu streamen. Bei weiteren Recherchen entdeckte ich, dass das Lied nicht, wie angenommen, am Ende des zweiten Weltkriegs entstanden ist, sondern viel älter war, mindestens dreihundert Jahre alt. Pommern war wohl oft ein Kriegsschauplatz. In meiner Generation kennt dieses Lied jedenfalls mindestens jeder Zweite und bei einer Umfrage in einer Einkaufsstraße, die eine große deutsche Wochenzeitung durchgeführt hatte, waren einige alte Menschen auf die Frage, ob ihnen der Titel „Maikäfer flieg…“ etwas sage, spontan angefangen zu singen. Aber was soll dieses Lied? Was soll ein Lied mit einer Spieluhrmelodie und dem harmlosen und friedlichen Bild eines Kindes, das im Garten einen Maikäfer findet, ihm die Freiheit schenkt und hinterherschaut, wie er davonfliegend mit dem Himmelsblau verschmilzt, wenn dieses Kind gleichzeitig mit dem Verlust beider Eltern im Krieg konfrontiert ist? Ist es bittere Ironie? Oder soll es trösten, weil das Kind bei allem Leid diesen einen Moment der Unbeschwertheit genießen kann, so, wie es wohl nur Kindern möglich ist?

Im Rückblick war es schön, dem Spiel der Wellen der mit Polen offiziell verheirateten Ostsee zuzuschauen, den grenzenlosen Wind in den Haaren zu spüren, die Fürsorge der Menschen für ihre Pudel, französischen Bulldoggen, Spitze und … angeleinte Kaninchen … zu sehen, die sich, aus der vermutlichen Enge einer Plattenbauwohnung befreit, am Strand tummelten. Am Ende der zehn Tage rief ich den unfreundlichen Mann vom Sicherheitsdienst an, um unseren Schlüssel dort abzugeben. „Dzien dobry –Oddaj klucz“, sagte ich, das heißt „Guten Tag- Schlüssel abgeben.“ „Recepcja hotelowa.“, antwortete er. „Hotelempfang.“ „Dziekuje.“, verabschiedete ich mich. „Vielen Dank.“ Und dabei hatte ich den Eindruck, obwohl ich ihn am Telefon natürlich nicht sehen konnte, dass er lächelte. 

Als ich diesen Reisebericht fertiggestellt hatte, gab ich ihn meinem Mann zu lesen. „Bist Du wirklich nur wegen der Rügenwalder Teewurst nach Darlowo gefahren?“, fragte er. Und ich musste lachen, denn so war es.



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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (22.04.24, 20:16)
Hallo Elia,
ihr seid als Touristen in Polen auf Zurückhaltung gestoßen. Aus dem Reisebericht, der nichts beschönigt, spricht aber eine freundliche Contenance. Man muss sich wohl darauf einstellen, dass es noch lange dauern wird, bis sich der Umgang von Polen und deutschen Touristen normalisiert hat.

LG
Ekki

 Elia meinte dazu am 23.04.24 um 09:08:
Danke für Deinen Kommentar.
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