Eine Empfehlung und eine Bitte

Schauspiel zum Thema Schuld

von  Graeculus

DRIVE MY CAR 

(Japan 2021)


Regie: Ryūsuke Hamaguchi
Darsteller: Hidetoshi Nishijima, Tōko Miura, Sonia Yuan, Masaki Okada u.a.
Länge: 170 Min.
Japanisches Original mit Untertiteln

Jetzt gerade ist von Ryūsuke Hamaguchi der Film „Evil Does Not Exist“ in den Kinos zu sehen, den ich als ausgesprochen schwer zu verstehen und eigentlich unzugänglich empfunden habe.

Ganz anders „Drive My Car“, der mich stark berührt hat. Er handelt von einem Theaterregisseur, der die Aufgabe übernommen hat, in Hiroshima Anton Tschechows Drama „Onkel Wanja“ auf die Bühne zu bringen. Zu den Proben wird er – so will es ein Vertrag – im eigenen Auto, einem auffallenden roten Saab, von einer jungen Frau chauffiert, und ein großer Teil des Films besteht in den Gesprächen, welche die beiden unterwegs führen und in denen sie einander schrittweise näher kommen.

Es stellt sich heraus, daß sie beide unter einem Trauma leiden, sich nämlich für den Tod eines Menschen verantwortlich fühlen.

Im Falle des Regisseurs handelt es sich um die eigene Frau, die er sehr geliebt hat und immer noch liebt, die ihn jedoch vielfach mit anderen Männern hintergangen hat; er wußte das, hat sich jedoch nicht getraut, darüber mit ihr zu sprechen, weil er fürchtete, sie dann zu verlieren. In seiner Hilflosigkeit hat er Abstand zu ihr genommen und kam deshalb zu spät, als sie mit einer Hirnblutung in der Wohnung lag. Früher gekommen, hätte er sie retten können. Damit wird er nun erneut konfrontiert, denn einer der Schauspieler, die der engagiert hat, war einer der Liebhaber seiner Frau.

Die Chauffeurin andererseits hat das Autofahren schon in jungen Jahren gelernt, weil sie ihre Mutter, die als Barfrau arbeitete, zum Bahnhof fahren und von dort abholen mußte. Von dieser Mutter wurde sie häufig geschlagen, und als eines Tages ein Erdrutsch das Haus auf der Insel Hokkaido verschüttete, hat sie sich selbst gerettet, aber keine Hilfe für ihre Mutter herbeigerufen.

Er läßt sich eines Tages von ihr nach Hokkaido fahren. Sie stehen vor der Ruine des Hauses, und dabei sinken sie sich in die Arme, wobei die Worte fallen, die auch in der Schlußszene von Tschechows „Onkel Wanja“ vorkommen: „Wir müssen weiterleben.“

Für die Theaterinszenierung hat sich der Regisseur den Einfall ausgedacht, die Schauspieler in verschiedenen Sprachen sprechen zu lassen: Englisch, Japanisch, Koreanisch und ... Vermutlich soll dadurch das allgemein Menschliche an diesen Drama verdeutlicht werden.

Für Wanjas Nichte Sonja hat er sogar eine stumme, sehr zarte Schauspielerin engagiert, die ihre Rolle in Gebärdensprache darstellt. In der vorletzten Szene des Films sehen wir die Schlußszene des Dramas:

SONJA: Was soll man machen, wir müssen leben! Pause. Wir werden weiterleben, Onkel Wanja, eine lange, lange Reihe von Tagen und von langen Abenden; wir werden geduldig die Heimsuchungen tragen, die uns das Schicksal sendet; wir werden für andere arbeiten, jetzt und wenn wir alt sind, und keine Ruhe kennen, und wenn unsere Stunde schlägt, werden wir gehorsam sterben und dort im Jenseits sagen, wie wir gelitten und geweint haben, wie bitter weh uns ums Herz war, und dann wird Gott sich unser erbarmen, und wir beide, Onkel, lieber Onkel, wir werden ein helles, schönes, herrliches Leben kennenlernen, wir werden uns freuen und auf unsere jetzigen Leiden mit einem Lächeln der Rührung zurückblicken – und dann werden wir Ruhe haben. Ich glaube, Onkel, ich glaube heiß und leidenschaftlich ... Sie kniet vor ihm nieder und legt den Kopf auf seine Hände; mit müder Stimme: Wir werden Ruhe haben!


Sonja spricht diese Worte nicht mit Worten, sondern sie tritt hinter ihren Onkel und hält ihre gestikulierenden Hände vor seine Augen, was wie eine Umarmung wirkt und sicher auch so wirken soll. Wir haben es nicht leicht, aber wir müssen weitermachen und dürfen hoffen, sofern wir glauben, nach unserem Tode Gottes Erbarmen zu erfahren und ausruhen zu können. Endlich ausruhen.

Es folgt noch eine letzte Szene, in welcher die Chauffeurin in einem Supermarkt einkauft, ihre Ware in einem roten Saab verstaut und damit irgendwohin fährt, begleitet von einem Hund, welcher, wie wir an einer früheren Stelle gesehen haben, der stummen Schauspielerin und deren Mann gehörte. Das Kennzeichen des Autos ist ein anderes als früher, ansonsten scheint es dasselbe zu sein. Das zu verstehen fällt mir schwer. Nicht so die letzte Szene in „Onkel Wanja“, von einer Stummen vorgetragen – eine tiefe Symbolik.



Anmerkung von Graeculus:

Der Film ist in der arte Mediathek bis zum 30. Mai aufrufbar. Sollte sich jemand angeregt fühlen, ihn anzusehen, wäre ich für den Versuch einer Deutung der Schlußszene dankbar.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (06.05.24, 14:02)
Es gilt zu bedenken, dass uns kulturell Dinge von Japan trennen. Das betrifft besonders Kleinigkeiten, die uns entgehen bzw. deren Deutung uns schwer fällt (im besten Fall). Zieht man dann noch in Betracht, dass jede Kultur nicht starr und homogen, sondern fluid und beeinflussbar ist, können wir ganz schnell mit unserem Latein (oder Deutsch oder Japanisch) am Ende sein.

 Graeculus meinte dazu am 06.05.24 um 14:26:
Kennst Du den Film?

Die Schlußszene scheint anzudeuten, daß die Chauffeurin in den Kreis um den Regisseur, die stumme Schauspielerin und deren Mann dergestalt aufgenommen worden ist, daß sie das Auto fährt, in Begleitung des Familienhundes. Aber handelt es sich tatsächlich um dieses Auto? Es hat eine andere Nummer. Und ist es wirklich derselbe Hund? Oder hat sie sich das gleiche Auto gekauft und ebenfalls einen Hund zugelegt?

Das sind ja zwei unterschiedliche Bedeutungen. Ich sehe nicht, daß das etwas mit spezifischen Eigentümlichkeiten der uns oft fremden japanischen Kultur zu tun hätte.

In dieser Hinsicht war ich lediglich dadurch überrascht, daß in Japan Linksverkehr die Norm ist, das Auto aber sein Lenkrad links hatte, wie bei uns.

 Graeculus antwortete darauf am 06.05.24 um 14:34:
Ansonsten habe ich eigentlich schon den Eindruck, das Wesentliche am Film zu verstehen: die Eifersucht und Verletztheit des Ehemanns, das mißhandelte Kind ... und den "Onkel Wanja" sowieso.
Vorher hatte der Regisseur übrigens Becketts "Warten auf Godot" inszeniert, was wir zu Anfang sehen. 
Da liegt der Akzent nicht auf kulturellen Unterschieden - ohne deren Existenz zu leugnen.

 TrekanBelluvitsh schrieb daraufhin am 07.05.24 um 01:18:
Eine meiner Lieblingsbands kommt aus Japan und singt auch Japanisch. (Japanische Musiker*innen haben den internationalen Markt selten im Auge.) Dank dem Internet finde ich viele Übersetzungen. Aber dennoch erschließt mich der Sinn zuweilen nicht, weil japanische mythologische Figuren, popkulturelle Erscheinungen etc. vorkommen. Wenn dann etwas noch mehrerer Bedeutungen haben kann, wird es echt schwierig. Ganz davon abgesehen, dass es Tabus in der japanischen Kultur gibt, die wir gar nicht kennen.

Darum und aus anderen Gründen - sollte man auch nicht glauben, ein Film im Original mit Untertitel würde einen näher an die Bedeutung bringen. Gerade weil Sprache ja auch Kultur ist und wenn man die nicht kennt, wars das.

 Kardamom äußerte darauf am 07.05.24 um 02:25:

können wir ganz schnell mit unserem Latein (oder Deutsch oder Japanisch) am Ende sein.
Das macht nichts. Keine Scheu, es gibt immer die Möglichkeit, dass ein Funken überspringt.

 Graeculus ergänzte dazu am 07.05.24 um 11:32:
Es ist klar, daß wir einen japanischen Film nicht so verstehen können, wie ein Japaner ihn versteht.
So wird z.B. das Wort (des Pendant für) "ich" in Japan ganz anders verwendet als bei uns. Und im Film glaube ich zu bemerken, daß es verschiedene Wörter gibt, die in den Untertiteln als "ja" wiedergegeben werden.

Dennoch habe ich nie den Eindruck, etwas grundsätzlich nicht zu verstehen ... außer bei der allerletzten Szene, und ich hoffe, daß mir bei ihr jemand behilflich sein kann.

Übrigens ist der Film ja für den internationalen Markt produziert, weshalb ich vermute, daß Hamaguchi nichts für Nicht-Japaner völlig Unverständliches eingebaut hat.
Vielleicht bedeutet das Fremdgehen der Frau für einen japanischen Mann nicht exakt dasselbe wie in unserer Tradtion (die heterogen genug ist), aber grundsätzlich verstehe ich das schon.

Vor allem: Bei mir springt der von Kardamom angesprochene Funken über.

 Graeculus meinte dazu am 07.05.24 um 16:14:
Was mir noch ein- bzw. auffällt: Der Regisseur des Films macht zum Protagonisten einen Theaterregisseur, den nacheinander zwei europäische Stücke inszeniert: "Warten auf Godot" und "Onkel Wanja". Er hat also selbst keine Berührungsängste.
Und dann noch - das merke ich gerade: Beide Stücke antworten, etwas unterschiedlich, auf dieselbe Frage:
- Sonia: "Wir müssen weiterleben."
- Wladimir: "Morgen hängen wir uns auf. Pause. Es sei denn, daß Godot käme."

 Kardamom meinte dazu am 07.05.24 um 17:05:
Japaner haben wenig Berühringsängste mit europäischer und amerikanischer Kultur. Die mögen diese sogar. Ihre eigene Kultur schätzen sie ausserdem. Das ist kein Widerspruch.

 Graeculus meinte dazu am 07.05.24 um 23:22:
Davon gehe ich aus. Gemeint war meine Bemerkung als Antwort auf Trekans Bedenken. Sie sind nicht ganz unberechtigt, halten aber weder Hamaguchi noch mich davon ab von einer interessierten Auseinandersetzung mit anderen Kulturen.
Wobei ich nochmals sagen möchte, daß "Drive My Car" kein hermetischer Film über Japan ist.

 Kardamom meinte dazu am 08.05.24 um 06:48:
Trekan scheut ja ebensowenig zurück vor japanischer Kultur, er bevorzugt halt die Musik.

Was den Film betrifft, den habe ich jetzt, allerdings ist er sehr lang. Da muss ich ein Zeitfenster für finden.

 Graeculus meinte dazu am 08.05.24 um 22:50:
170 Minuten, ja. Es eilt ja nicht. Auch in einer Woche oder zwei werde ich mich noch an diesen Film erinnern.

 Graeculus meinte dazu am 08.05.24 um 22:50:
Beachte nur: in der Mediathek bis zum 30.5.

 Kardamom (07.05.24, 02:21)
DANKE
für diesen Tipp. Ich werde den Film sehen. Ich mag Japan sehr, ganz besonders die schrägen Künstler. Japanische Filme werden nicht so oft gezeigt.

 Graeculus meinte dazu am 07.05.24 um 11:33:
Dann bin ich gespannt, was Du zu der letzten Szene sagen wirst.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 08.05.24 um 02:19:
Ich kenne mich nur etwas in der Musik aus und da auch nur in Independent/Metal - Bereich. Dort ist es auffällig, dass viele japanische Bands westliche Einflüsse aufnehmen und mit ihrer japanischen Tradition verbinden. Dabei ist es oft auffällig, dass jene japanischen Musikmacher nicht solche "Genre-Nazis" sind, wie wir es im Westen zumeist gewohnt sind. Es wird bunt gemischt.

So ist die im Westen erfolgreichste japanische Band "Babymetal". Sie hat sehr viele Freunde hier - zu denen auch ich gehöre und ich habe sie auch schon zwei Mal live gesehen - aber auch richtig viele, die sie hassen. Neben durchaus vorhandenem Rassismus hat das auch damit zu tun, dass "Babymetal" Elemente von Black-, Death-, Melodic Death - und Speed Metal in ihren Songs mischt. Und z.B. gerade Die Hards des Black Metal nehmen ihre Musik oft viel zu wichtig und sind erbost, wenn jemand sich bei dessen Elementen bedient, aber nicht "den wahren Black Metal" verbreitet.



Nichtsdestotrotz hat Japan viele Jahrhunderte der Isolation hinter sich. Und auch wenn diese Zeiten schon fast 150 Jahre vorbei sind, ist da vieles noch prägend und hat sich unabhängig entwickelt. Darum kann sich das schon mal unserem Verständnis entziehen. Ist mir aber auch egal. Es gefällt mir einfach. Und die Meisten, die heute noch nach Bayreuth "auf den Hügel" rennen, verstehen den reaktionären Charakter von Wagners Werken ja nicht.

Ich persönlich finde diesen zum Teil wilden Mix von Kultur erfrischend, eben weil wir im Westen auf Geners zu oft zu viel Wert legen und jedes Genre auch gleich mit einer Wertung belegen. So haben bei uns nicht Wenige immer noch nicht verstanden, dass z.B. "Zeichentrick" bzw. Gezeichnete Geschichten nicht zwangsläufig etwas für Kinder sind.

 Kardamom meinte dazu am 08.05.24 um 06:55:
Gut mgl. das die Qualität japanischer Kultur auf die Langzeitisolation zurück geht. Sie hatten dadurch Gelegenheit, das noch so kleinste Detail zu Perfektion auszuentwickeln.
Gleichzeitig wuchs der Hunger auf das unbekannte, was die Aufnahmefähigkeit von neuem erklären könnte.

 Graeculus meinte dazu am 08.05.24 um 19:00:
Ich habe den Eindruck, daß die Aufnahmebereitschaft für westliche Kultur auf das Scheitern im II. Weltkrieg zurückgeht. Sieger exportieren ja häufiger ihre eigene Kultur.

Aber das ist hier nicht so wichtig.

 Kardamom meinte dazu am 08.05.24 um 21:16:
die liebten europäisches schon vor dem 2. Weltkrieg

 Graeculus meinte dazu am 08.05.24 um 22:49:
Du meinst, zur Zeit der quasi-faschistischen Militärherrschaft vor dem 2. Weltkrieg? Ja, ich glaube, Du hast recht. Ich habe es zumindest von der deutschen Philosophie gehört.

 Kardamom meinte dazu am 09.05.24 um 05:50:
... und noch davor fing es an. Musik, Literatur, Medizin, Mode, Haushaltsgeräte usw. seit der Öffnung war vieles europäische neu und beliebt.

 Graeculus meinte dazu am 12.05.24 um 23:02:
Anders als in China anscheinend.

 Kardamom meinte dazu am 13.05.24 um 07:30:
Wie das in China war, weiss ich nicht. China war als Kolonie arg gebeutelt, da wäre eine Abneigung verständlich, die konnten nicht so unbefangen sein.

Antwort geändert am 13.05.2024 um 07:32 Uhr
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