Meerweh

Kalendergeschichte zum Thema Urlaub/ Ferien

von  IngeWrobel


Meerweh

 

Jenny hatte gespart, um diese Reise anzutreten. Diese Reise in ihre Vergangenheit, mit der kurzen Zeit des Glücks am Meer, zu ihm, den sie nicht vergessen konnte. 

Ihr Leben war weitergegangen nach der kurzen leidenschaftlichen Begegnung mit einem Fremden, der ihr vom ersten Augen-Blick an näher gekommen war, als irgendein Mann vorher oder nachher.

Die Woche des Kennenlernens und Zusammenseins war für Jenny eine Offenbarung: Mit diesem Mann lernte sie nicht nur die Liebe, sondern auch sich selbst kennen. Bis zu dieser Begegnung hatte sie die Kraft ihrer Gefühle nur geahnt – nun wusste sie, was bedingungslose Hingabe bedeutet.

Die Trennung am Ende des Kurzurlaubs war entsprechend schmerzhaft für Jenny. Nur die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen ließ sie, zurück in ihrem Alltag, wieder funktionieren.

 

Die Erkenntnis, dass sie den Mann, nach dem sie sich so sehr sehnte, vielleicht niemals wiedersehen würde, traf sie bis ins Mark. Denn nichts stimmte: Unter der Telefonnummer, die er ihr gegeben hatte, gab es keinen Anschluss, und die Post kam als unzustellbar zu Jenny zurück. Sie musste erkennen, dass sie wohl nur ein Urlaubsflirt gewesen war.

 

Sie übte das Vergessen. Es gelang ihr nicht. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an den Mann und ihre gemeinsamen Tage und Nächte dachte.

 

Nach und nach dämmerte es ihr, was für eine Bewältigung der Vergangenheit nötig wäre: Sie musste an den Ort des Geschehens zurückkehren.

 

Vor Antritt der Reise war Jenny sicher, mit jedem Kilometer mehr auch eine Steigerung ihres Lampenfiebers zu spüren. Nun aber saß sie in ihrem Auto und wurde umso ruhiger, je näher sie dem kleinen Badeort kam. Sie hielt ihr Gesicht in den Wind, der durch die geöffneten Scheiben zu ihr ins Wageninnere wehte. Tief atmete sie ein ... bis sie das Meer roch. Ein inneres Jubeln erfasste sie und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

 

 

Jenny ging wie geplant vor: Nach dem Einchecken in der Pension nannte sie an der Rezeption den Namen, den ihre Urlaubsliebe ihr genannt hatte. Der Vorname Malte war zwar in Norddeutschland häufiger vertreten, als in Jennys süddeutscher Heimat, aber auch hier kreiste er den Radius ein.
Die Pensionswirtin kannte zwei Männer mit diesem Vornamen. Der eine konnte vom Alter her nicht Jennys Malte sein. Der zweite würde passen: Malte Wilhelmsen, etwa zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, wohnhaft im Nachbardorf, das direkt am westlichen Ortsende begann.


Bevor sie sich auf den Weg machte, trank Jenny zur Beruhigung einen „Geelen Köm“ – und noch einen zweiten gleich hinterher. Damals mit Malte hatten sie auch...

 

Das Einfamilienhaus war im traditionellen Stil gebaut. Es hatte ein Reetdach und eine quergeteilte Eingangstür, bei der man den oberen Teil wie ein zweiflügeliges Fenster öffnen konnte.

Nach dem Läuten öffnete sich die obere Türhälfte, und eine hübsche Frau mittleren Alters fragte Jenny freundlich, was sie wünsche.
Jenny merkte, dass sie sich nicht präpariert hatte. Über die Möglichkeit, eher sogar Wahrscheinlichkeit, auf eine Ehefrau zu stoßen, hatte sie nicht nachgedacht. Da musste sie nun durch … und antwortete nach kurzer Denkpause, dass sie einen Malte suche, den sie in einem Urlaub kennengelernt habe.
Die Frau öffnete die Tür und bat Jenny herein. Im Flur sagte sie kurz „Einen Moment bitte!“ und rief in die Wohnung hinein: „Schatz, kannst Du bitte mal kommen?“ Dann lächelte sie freundlich und verschwand in einem der Räume. Beinahe zeitgleich öffnete sich eine andere Tür, und Malte kam auf Jenny zu.

Ihr Malte, unverkennbar.

Jenny strahlte ihn stumm an. „Ja bitte?“ fragte der Mann. Sein Gesichtsausdruck zeigte kein Erkennen, er war freundlich und unpersönlich. „Ich bin’s, Jenny.“ „Jenny?“ Seine Augen suchten ihr Gesicht ab, glitten über Jennys Körper und kehrten zurück zum Gesicht – immer noch fragend. Entweder war er ein sehr guter Schauspieler und wollte sie nicht erkennen, oder er hatte tatsächlich die gemeinsame Zeit vergessen.


Für Jenny war in diesen Sekunden klar, dass sie in seinem Leben keine Rolle spielte – nie gespielt hatte. „Entschuldigung, ich habe mich geirrt!“ kam es fast 
tonlos über ihre Lippen. Dann drehte sie sich schnell um und verließ eilig das Haus.

 

Auf dem Weg zu ihrem Auto ließ sie den Tränen freien Lauf. Sie wollte weg, schnell weg von diesem Menschen, dem schönen Haus, dem Meer und ihren Erinnerungen. Ein Parkplatz bot ihr, was sie jetzt brauchte: Ruhe zum Nachdenken, zum Heulen, zum Nachdenken und Heulen...

 

Jenny öffnete die Autotür und setzte sich bequem zurecht. Sie ließ den Wind über ihre tränennassen Wangen streichen und sog den Geruch des Meeres tief ein. Nach einigen Minuten der Ruhe entschloss sie sich zu einem Spaziergang. Von dem Parkplatz aus führte ein kurzer Weg zum Watt – und schon  befand sie sich auf dem Wattwanderweg, den sie so gut in Erinnerung hatte. Heute ging sie in entgegengesetzter Richtung, sodass das Meer sich zu ihrer Linken befand.

Zuerst kreisten ihre Gedanken in ihrem Kopf und sie nahm ihre Umgebung nur undeutlich zur Kenntnis. Aber nach und nach wurde sie überwältigt von dem, das um sie herum war und geschah: Die Grasbüschel zwischen dem Sand, das Möwengeschrei, Kinderlachen und die entspannten Gesichter der erwachsenen Urlauber. Nicht weit entfernt wusste sie das Meer, roch es und schmeckte es auf ihrer Zunge.

Ein wohliges Gefühl stieg in ihr auf und sie atmete bewusst und tief durch.

Für Sekunden vergaß sie Malte.

Der Blick zum Himmel vollendete den Entschluss, dessen sie sich noch gar nicht bewusst war – sie würde wiederkommen.

 



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