Zwei Typen von Kultur

Essay zum Thema Schuld

von  Graeculus

Die Anthropologie kennt zwei Typen von Kultur: die Schamkultur und die Schuldkultur. Für jene besteht das Übel im Verlust gesellschaftlichen Ansehens, der Ehre, für diese das Böse in der Verwerflichkeit der Gesinnung, aus der heraus gehandelt wird. Mit der Schuldkultur ist die Annahme der Existenz eines inneren Kompasses, des Gewissens, sowie der Fähigkeit zu einer freien Willensentscheidung verbunden, wohingegen die Schamkultur darin nur die Internalisierung gesellschaftlicher Normen sieht. Auch der religiöse Begriff der Sünde gehört zu einer Schuldkultur.

Um zwei Beispiele, verbunden mit einem Paradigmenwechsel, zu nennen: Noch die Welt Homers und seiner Helden (9./8. Jhdt. v.u.Z.) ist die einer Schamkultur, wohingegen drei Jahrhunderte später Sophokles seinen Ödipus mit der schlimmsten denkbaren Schuld konfrontiert: der Tötung des eigenen Vaters und der Ehe mit der eigenen Mutter. Für Europa hat dann der Sieg des Christentums die Frage auf Jahrhunderte entschieden.

Während aber wissenschaftlich, derzeit vor allem in der Entwicklung der Hirnforschung, die unbewußte Steuerung unseres Verhaltens immer deutlicher wird, seine Abhängigkeit von Hirnzuständen und damit unsere Determiniertheit, entwickelt sich, so mein Eindruck, das populäre Denken konträr dazu – selbst in einer postchristlichen Ära - immer mehr in Richtung einer Schuldkultur. Man schaut in den aktuellen Diskurs, und es kann nicht lange dauern, bis man auf die Frage von Schuld und Verantwortung stößt.

Dafür habe ich nur eine Erklärung: daß nämlich die Schuldkultur sich wunderbar dazu eignet, anderen ihre Fehler, ihre Verwerflichkeit vorzuhalten und sich dadurch selbst besser zu fühlen.

Mir scheint allerdings, daß, wenn es um die eigene Verantwortung geht, der Determinismus durchaus verlockend ist: Ich mußte so werden, mußte so handeln, weil ... Das klingt für mich überhaupt nicht plausibel, da nicht anzunehmen ist, daß unter all den Milliarden Menschen nur ich determiniert bin (ein Opfer der Umstände), die anderen hingegen Verantwortung tragen und Schuld auf sich laden.

Es ist vielleicht nicht schlecht, vom moralischen Roß zu steigen und dafür zu sorgen, daß man sich wenigstens nicht schämen muß. Damit hat man genug Probleme.


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Kommentare zu diesem Text

Terminator (41)
(16.07.24, 02:19)
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 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 17:05:
Die Ergänzung durch die Angstkultur ist interessant. Allerdings: Haben nicht auch Schuld und Scham mit Angst zu tun?

Daß die Schuldkultur der Barbarei zuzurechnen sei, da gilt es zu bedenken, daß der Weg von Homer zu Sophokles der Weg von der Scham- in die Schuldkultur ist, aber nicht der Weg in die Barbarei.
Geist von etwas (99)
(16.07.24, 06:36)
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 LotharAtzert antwortete darauf am 16.07.24 um 09:38:
Anderen die eigenen Fehler aufbürden und sie dafür bluten zu lassen.
 - in der Münchner Rhythmenlehre ein bekanntes Phänomen: den eigenen Saturn, der mit Sorge, Mühsal und Kargheit verbunden ist, einem Erfolgreicheren aufzubürden - das ist aber erst die Hälft: tatsächlich versucht man den Jupiter des Erfolgreichen zu okkupieren. Das heißt, man versucht, diesen zu verdrängen, wobei man in der ersten Stufe noch das "Wir" gebraucht - "wir haben das gemeinsam entdeckt", während es im nächsten Schritt heißt: "Ich habe das entdeckt" und den wahren Entdecker bald niemand mehr kennt.

(Bekanntestes Phänomen - die Zwölftonmusik: alle denken an Arnold Schönberg, aber der war's nicht. Leider hab ich selbst vergessen, wie der aus Wien stammende Erfinder heißt)

Es gibt auch eine einfache Abwehr dagegen, aber die behalte ich aus naheliegenden Gründen für mich. :D

Antwort geändert am 16.07.2024 um 09:44 Uhr

 Regina schrieb daraufhin am 16.07.24 um 09:59:
Das erste zwölftönige Musikstück wurde 1919 von einem recht unbekannten Komponisten namens Matthias Hauer herausgegeben. An der Kompositionstechnik arbeiteten mehrere, nicht Schönbergh allein, unter anderem Anton von Webern und Alban Berg.

 LotharAtzert äußerte darauf am 16.07.24 um 10:09:
Matthias Hauer - genau der war es. Schönberg hat aber zeitlebens behauptet und wird ja auch in der Öffentlichkeit so wahrgenommen, er sei der große Macker. Pfui deiwel!

 Graeculus ergänzte dazu am 16.07.24 um 17:11:
Die Weitergabe des Schwarzen Peters an andere ist noch steigerbar.
Ob die Neigung, die Leistungen anderer für sich zu beanspruchen, noch in einem Zusammenhang mit der Scham- oder Schuldkultur steht, weiß ich nicht, denn dieser (oft schamlose) Trick dient sowohl dem eigenen sozialen Ansehen als auch dem für die Schuldkultur und ihrem Akzent auf Verantwortung typischen Individualismus. Bei Kierkegaard: Ich allein vor Gott! Vor Gott dürfte eine musikalische Erfindung allerdings eine geringe Rolle spielen - im Geniekult schon eher.

 Regina (16.07.24, 06:55)
Ist hier eine Gegensätzlichkeit zwischen orientalischer und westlicher Kultur verborgen, mit der man rechnen muss oder ist das ein individuelles Phänomen?

 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 17:19:
Meine Anregung bestand in der Lektüre des Buches "Die Griechen und das Irrationale" von E. R. Dodds, bezog sich also zunächst auf eine - im Text angedeutete - Verschiebung innerhalb der griechischen Kultur.

Dann habe aber auch ich kurz an den Gegensatz von Christentum (also Okzident) und Islam (also Orient) gedacht: Der Islam betont viel mehr die Allmacht Gottes und damit die Abwesenheit eines freien Willens: Dir fällt kein Haar vom Kopf, ohne daß Gott es will, und der Muslim sagt "Inschallah - so Gott will".
Das wäre dann ein Gegensatz zwischen Orient und Okzident.
Allerdings verzichtet auch der Islam nicht auf die Idee einer Bestrafung von Menschen durch Gott mit der Hölle (Gehenna). Wie das zusammenpaßt, habe ich nie begriffen. Sind wir nun schuldig vor Gott, oder ist Gott allmächtig und macht alles so, wie er es will?

Unstrittig ist aber wohl, daß es in islamischen Ländern viel mehr auf das Ansehen innerhalb der Gemeinschaft, auf die Ehre ankommt. Diese Tendenz zur Schamkultur sehe ich deutlich.
Geist von etwas (99)
(16.07.24, 07:27)
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 Regina meinte dazu am 16.07.24 um 10:01:
Keinerlei positive Errungenschaften der einen oder anderen Kultur?

 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 17:22:
"Schuldkultur führt zur Ausbeutung", das müßtest Du erläutern.

Das Positive? Beide Mechanismen regulieren das menschliche Zusammenleben. Ob sie es fair, erfolgreich, gut tun, steht auf einem anderen Blatt. Im Prinzip jedenfalls hält beides die Individuen davon ab, die Sau rauszulassen.

 LotharAtzert (16.07.24, 09:41)
Wie kommt man denn rauf aufs Ross ... und woher nehmen, wenn nicht stehlen?

 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 17:24:
Das erscheint mir ganz einfach: Du brauchst nur irgendetwas Abträgliches über einen anderen Menschen zu behaupten. Das muß nicht wahr oder begründet sein, einfach behaupten! Und im Internet kannst Du es sogar anonym tun, also aus der Deckung heraus einen anderen Menschen richtig fertigmachen.

(Daß Du immer als der auftrittst, der Du bist, mit vollem Namen, ist ein guter Zug von Dir.)
Geist von etwas (99)
(16.07.24, 09:49)
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 Regina meinte dazu am 16.07.24 um 10:02:
Zauber und Gegenzauber führen zu einer langen Kette gegenseitiger Verstrickungen.

 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 17:28:
An Geist von etwas: Wo hat das Lothar oder sonstwer so gesagt?

An Regina: Kennst Du einen Gegenzauber gegen Beschämen und Schuldzuweisung?
Ich kenne lediglich das dicke Fell ... oder, etwas feiner, was Themistokles einem Mann sagte, der ihn geschlagen hatte: "Schlag mich, aber hör mir zu!"

 Regina meinte dazu am 16.07.24 um 18:31:
"An Regina: Kennst Du einen Gegenzauber gegen Beschämen und Schuldzuweisung?"
Das ist doch ganz einfach: seinerseits den Gegner beschämen und ihm Schuld zuweisen.

 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 18:44:
Ach so. Darauf hätte ich kommen können. Also nicht gegen das Prinzip (woran ich dachte), sondern dessen Umwendung gegen den anderen.
Geist von etwas (99)
(16.07.24, 10:45)
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 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 17:35:
Es gibt extrem wenig, was allgemein anerkannt ist, auch in der Wissenschaft. Ich habe das als heuristisches Prinzip angesehen, das mir hilft, eine Kultur und die Menschen in ihr zu verstehen.
In der Schamkultur ist die Aufdeckung eines mir ungünstigen Sachverhaltes das Schlimmste. Wie stehe ich jetzt, da meine Schandtat offenbar geworden ist, vor den anderen da?
In einer Schuldkultur ist das Aufdecken (peinlich genug, aber) nicht das Entscheidende: denn Gott sieht ohnehin alles, schaut in die Herzen hinein usw. (Oh, wie ich das als Kind gehaßt habe!)

Es wird aber wohl stimmen, daß die beiden Typen selten in Reinkultur vorkommen, d.h. auch Schuldkulturen bedienen sich gerne zusätzlich der sozialen Scham. Es gibt allerdings Schamkulturen, die gar keinen allwissenden Gott kennen (die Welt Homers).

 Augustus (16.07.24, 12:23)
Es fehlt noch die wissenschaftliche Erforschung der Schandkultur. 
Ein Staat der siegreich ist, in der Welt kriegerisch unter dem Deckmantel der Freiheit agiert und weder Scham noch Schuld kennt. 
Hervorzuheben könnte Amerika. Die destabiliseroung Iraks, Syriens, Afghanistan usw.; die Amerikaner fühlen sich weder schuldig noch empfinden sie Scham. Andere Nationen sprechen höchstens unter verschlossenen Räumen über Schande; sowie der verlorene Krieg in Vietnam; eine Scham- oder Schundliteratur scheinen die Amerikaner nicht zu haben. Eher eine sigermemtalität, die mit einer Art Schande einhergeht. 

Auch der Abwurf der Atombomben auf Japan, erzeugte keine Schuldkultur bei den Amerikanern; im Gegenteil, die Japaner leben heute in einer Schuldkultur, obwohl ihnen die Atombomben 200.000 Menschen aus der lebenbevölkerung damals genommen haben.

 LotharAtzert meinte dazu am 16.07.24 um 13:58:
Und was ist mit der Subkultur?

 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 17:39:
Ich habe das nicht auf Staaten und ihre internationale Politik bezogen, sondern auf die innerstaatliche, innergesellschaftliche Regulierung menschlichen Verhaltens. Kontrolliert die Gesellschaft das Verhalten eines "abnormen" Individuums durch Scham (vor den anderen) oder durch Schuld (auch vor Gott)? Im letzteren Fall "argumentiert" sie eher mit Vorwürfen à la "Du hättest dich anderes verhalten können, es war deine freie Entscheidung, für die du verantwortlich bist!" (Vor Gott oder vor wem auch immer.)

 TrekanBelluvitsh (16.07.24, 14:44)
Ob das eine oder das andere qualitativ im Vergleich zu einem Früher heute überwiegt, vermag ich nicht zu sagen. Als bloße Spekulation würde ich eher zu einem "Nein" tendieren. So denke ich z.B. an die Shoa. Nach 1945 war es ein gängiges Narrativ in beiden Deutschlands, dass dies allein von Hitler, der SS und "der Partei" zu verantworten sei. Oder die Schuld für die Niederlage Frankreichs im Krieg 1870/71 wurde bei unseren westlichen Nachbarn allein bei Napoléon III. gesucht.

Beide Beispiele verweisen doch eher auf die Schuldkultur, auch schon in vergangenen Zeiten gerne herangezogen wurde, wenn es darum ging, das eigene Verhalten aus dem Fokus der Betrachtung zu rücken.

Vielleicht ist die Schuldkultur einfach für viele Menschen das leichter zu verstehende Deutungsmuster. Denn das ist es. Man zieht eine Linie von Ursache und Wirkung und bewertet die Ursache. Ob diese Linie überhaupt gezogen werden kann und wenn ja, was die Voraussetzungen für die Ursache sind, kann man so herrlich ausblenden.

Das größere Problem sehe ich eher bei unserer - in meinen Augen nicht vorhandenen - Fehlerkultur. Wir sind nicht in der Lage UND Willens, Betrachtung und Bewertung seriös von einander zu trennen. So bereitet die Unterscheidung von "Erklärung" und "Entschuldigung" Vielen große Schwierigkeiten. Und darum ist es aus meinen Augen schon fast gleich, ob Scham- oder Schuldkultur vorherrschen. Letztlich sind beides Schemata, Folien, die mit ihrer starren Struktur dazu einladen, den Anwendern Erkenntnis vorzugaukeln, ohne eine evidenzbasierte Analyse vornehmen zu müssen.
Terminator (41) meinte dazu am 16.07.24 um 15:20:
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 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 17:49:
Ja, es gibt - heute - die beiden Typen nicht in Reinkultur; im Sinne der Verhaltenssteuerung ist es günstig, zur Schuld auch noch die Scham aufzuladen.
Das setzt allerdings voraus, daß man beide Prinzipien kennt. Zu Homers Zeit gab es anscheinend diese Vorstellung einer Wahlfreiheit, die zu individueller Schuld führt, noch gar nicht. Und das mag in manchen anderen (alten?) Gesellschaften ebenso sein.
Wenn die Götter den Wahn über uns verhängen, die Hybris oder was auch immer, wenn wir einem Schicksal unterliegen, dann sind wir nicht schuldig.

Ob es Schuld gibt, hängt traditionell auch von einer Vorstellung des Verhältnisses der Götter zu uns ab.

Im modernen Weltbild, soweit es deterministisch ist, treten an die Stelle der Götter die Genetik, die kulturelle Prägung oder die Struktur des Gehirns.
Insofern hatte ich den Eindruck, daß wir uns eigentlich mehr in Richtung Schamkultur bewegen müßten - was jedoch nach meiner Beobachtung nicht der Fall ist. Anscheinend verzichten Menschen ungern darauf, andere verantwortlich zu machen.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 17.07.24 um 14:50:
@terminator:

Haha.
Ich wollte zuerst noch auf die Dolchstoßlegende in diesem Fall zu sprechen kommen, als Beispiel für uneinheitliches Denken. Denn natürlich glaubten auch Militärs an diese. Auf der anderen Seite hat die Reichswehr spätestens ab 1920 begonnen zu analysieren, warum Deutschland im WW1 militärisch unterlag. Und da ging es nicht um den vorgeblichen Dolchstoß, sondern um nüchterne militärische Fakten und Analysen und die Schlüsse die daraus zu ziehen sind.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 17.07.24 um 14:55:
@ Graeculus:

Ein Teilaspekt:

Ich habe immer Probleme mir vorzustellen, dass ALLE Menschen, die in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden lebten und Gott/Götter in ihre Aussagen mit einbezogen, tatsächlich an jene Götter glaubten. Aber ohne die Anerkennung von Gott/Göttern war man damals ja ein Paria. Es empfahl sich also Gott/Götter irgendwie zu erwähnen. Kultisten waren uns sind nicht sehr vergebungsvoll.

 Graeculus meinte dazu am 17.07.24 um 23:06:
Wir müssen von dem ausgehen, was wir kennen, d.h. was überliefert ist. Etwa aber der Zeit von Sokrates und Euripides sind religionskritische Überzeugungen faßbar. Daß die Götter nicht das sind, was der Volksglaube von ihnen annimmt, sogar früher.
Inwieweit Homer (8. Jhdt. v.u.Z.), bei dem Religionsskepsis nicht vorkommt, den tatsächlichen Glauben seiner Zeit abgebildet oder nur das erzählt hat, was seine adligen Zuhörer hören wollten, ist die Frage.

Ich glaube, ein Problem besteht darin, daß religiöse Kultobjekte auch archäologisch faßbar sind, religionsskeptische Ansichten hingegen nicht; sie müssen schriftlich überliefert werden.

Wenn ich das zusammenfasse in der Weise, daß wir über die Vergangenheit nur wissen, was aus ihr überliefert ist, ist das natürlich eine Binse.
Terminator (41)
(16.07.24, 15:25)
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 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 18:42:
Das ist aber eine interessante Karte. Danke!
Die Angstkultur muß man eine Weile suchen.

Aufgrund welcher Recherchen mag der Autor zu seinem Ergebnis gekommen sein?
Geist von etwas (99)
(16.07.24, 15:39)
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 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 17:56:
Geist von etwas, woher beziehst Du Deine Zitate? Ich habe Schwierigkeiten, sie zuzuordnen. In diesem Falle halte ich das Zitat für plausibel.
Zu Deinem Gedanken meine ich, daß die Ursache keineswegs in einer Person oder in mehreren festgemacht werden muß. Da ja auch die Ursache ihrerseits die Wirkung einer noch früheren Ursache ist, erhalten wir eine Kette, die wir aber, wie das Zitat sagt, gerne ausblenden, sobald wir bei einem günstigen Sündenbock angelangt sind.
Das ist oft zu sehen bei Schuldzuweisungen an die Eltern, wobei ausgeblendet wird, daß ja auch die Eltern das Resultat noch weiter zurückreichender Ursachen sind.

Ja, und wenn es allzu kompliziert wird, dann kann man noch die Kollektivschuld zu Hilfe nehmen.

Schuldzuweisungen und -abweisungen haben immer eine Funktion innerhalb des gesellschaftlichen Spiels.

 Graeculus meinte dazu am 16.07.24 um 18:06:
Wenn die deutschen Zeitgenossen des Dritten Reiches anschließend sagten: "Daß die Juden verfolgt wurden, das haben wir nicht gewußt!", dann ist das - abgesehen von der Frage der Schuld oder Scham - zunächst eine Lüge.

 S4SCH4 (17.07.24, 08:35)
Ich wunderte mich beim Einsteigen in den Text über die zwei  Kulturformen. Führt das Eine, nicht zum Anderen -und umgekehrt?

 Regina meinte dazu am 17.07.24 um 09:09:
Zunächst einmal stehen sie als gesellschaftlich relevante Wertvorstellungen einander polar gegenüber, in Bezug auf Geschlecht, Alter, Finanzen, Ehre, Ansehen usw. Vereinbar sind sie nur, wenn ein Part von seinen Verhaltensforderungen zumindest teilweise abgeht.

 S4SCH4 meinte dazu am 17.07.24 um 09:13:
Hä? Ich gesteh: steh´ auf dem Schlauch... ist die Scham weiblich und die Schuld männlich, oder wie?

 Graeculus meinte dazu am 17.07.24 um 23:11:
Führt das Eine, nicht zum Anderen - und umgekehrt?

Warum sollte das so sein? Es gibt Schamkulturen, die Begriffe wie Schuld, Verantwortung, Sünde usw. nicht kennen. Bei Homer etwa ist immer wieder davon die Rede, daß irgendetwas Schlimmes ein von Göttern verhängtes Schicksal ist (wofür es bei ihm verschiedene Begriffe gibt: Ate, Moira, Nemesis usw.).
Stell Dir eine Welt vor, in der höhere Mächte den Ablauf der Ereignisse bestimmen, dann hast Du eine Schamkultur ohne Schuldbegriff.

 Graeculus meinte dazu am 17.07.24 um 23:13:
Regina geht anscheinend von einer Situation aus, in der mehrere Weltanschauungen nebeneinander bestehen; auch das gibt es.

 Graeculus meinte dazu am 17.07.24 um 23:18:
Übrigens möchte ich nochmal erwähnen, daß die fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vor allem über die neurologischen Vorgänge die Freiheit des menschlichen Willens und damit den Schuldbegriff m.E. stark in Frage stellen.
Ich erinnere nur an das berühmte Experiment von Benjamin Libet, bei dem sich ergeben hat, daß das Gehirn den Handlungsvorgang bereits einleitet (meßbar!), bevor die Versuchspersonen bewußt sagen: "Jetzt entscheide ich mich!"

 S4SCH4 meinte dazu am 17.07.24 um 23:22:
Es braucht mindestens zwei für Scham oder Schuld, oder? Und beides scheint mir urmenschlich; wie sie es auch nennen...whatever: vielleicht sind es theoretische Betrachtungen und ich passe mit meiner Intention in beide (nicht). Ähm, ja. Danke jedenfalls für die Erklärung. Sollte mir noch ein Beispiel einfallen, schreibe ich es.

 Graeculus meinte dazu am 17.07.24 um 23:27:
Sowohl für Scham als auch für Schuld braucht es mehrere: Man schämt sich vor anderen Menschen, man wird schuldig vor Gott, weil man seine Gebote gebrochen hat. Man kann sich auch gegenüber anderen Menschen schuldig fühlen.
Der Unterschied liegt im Inneren: Man schämt sich, weil man erwischt worden ist, während die Schuld einen auch dann belasten kann, wenn das nicht der Fall ist.

Beispiel: Ich schäme mich vor Dir, weil Du mich betrunken erwischt hast. Ich fühle mich schuldig, weil ich auch anders hätte handeln können (weil ich nämlich einen freien Willen habe). Die letztere Annahme ist der Scham nicht eigen.

 S4SCH4 meinte dazu am 17.07.24 um 23:32:
Das es einen Unterschied gibt verstehe ich. Mir ging es nur um den Gedanken, das beides nahezu Hand-in-Hand geht, dein Beispiel hat es aber gut erklärt.

 Graeculus meinte dazu am 18.07.24 um 14:00:
Heutzutage gibt es die beiden Typen vermutlich nicht mehr in Reinkultur; aber zur Zeit Homers war das wohl noch so.

Hast Du die von Terminator verlinkte Karte gesehen?

 S4SCH4 meinte dazu am 18.07.24 um 14:55:
Ja, ich frage mich ebenso, wie man zu solchen Daten kommt.

Der Zusatz mit der Angstkultur liegt nahe, aber so es ist mir mit Vorsicht zu genießen. Die Angst ist ja bereits in Scham und Schuld inkludiert, wenn man bei deiner Einteilung bleibt, oder ein "moderneres Auffangbecken" für etwaige Mischkulturen aus Scham und Schuld oder ähnliches (man könnte leicht einiges anführen wie Gier, Neid, Wollust etc.). Ich kenne mich zu wenig mit Anthropologie aus, um etwas konkreteres dazu zu sagen.  

Dein Beitrag ist mir hinsichtlich der dargelegten Ambivalenz einer "Schuldkultur" interessant.

 Graeculus meinte dazu am 18.07.24 um 15:33:
Das meine auch ich, daß die Angst in Scham und Schuld inkludiert ist.
Und der Karte entnehme ich nicht mehr, als daß sich da schon jemand intensiv mit auseinandergesetzt hat.
Geist von etwas (99)
(17.07.24, 15:14)
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 Graeculus meinte dazu am 17.07.24 um 23:07:
Dann habe ich wohl nicht genau genug hingeschaut.
Sekrotas (68)
(03.08.24, 17:51)
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 Graeculus meinte dazu am 04.08.24 um 23:26:
Die Psychoanalyse läßt hierbei einen Aspekt außer Betracht, der für die allermeisten Kulturen wesentlich ist: das Verhältnis zu Gott bzw. Göttern. Das auszuklammern, mag im Sinne der Wissenschaftlichkeit sein (auch wenn die Psychoanalyse m.W. gerade in ihrer Wissenschaftlichkeit umstritten ist); ich schlage daher vor, daß wir von (mindestens) zwei verschiedenen Deutungsmöglichkeiten ausgehen: einer pschoanalytischen und einer, die dem Selbstverständnis z.B. der antiken Kultur entspricht. Ob die eine oder die andere Version besser ist, das weiß ich nicht.
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