Verführung

Innerer Monolog zum Thema Lernen

von  Soshura

Ich kann lesen. Gelernt habe ich es, indem ich immer und immer wieder die einzelnen Buchstaben und Buchstabenketten in dem Buch, dessen Märchen ich unbedingt verfolgen wollte, verglichen habe mit denen in einem Kinderbuch, dessen Text ich irgendwann auswendig konnte, und meine Mutter mir vorher dort die Worte gezeigt hatte, wenn ich sie sprach.

Ich glaube, es hat eine Stunde gedauert für eine Seite. So schnell kann ein Nachmittag vergehen. Ich kann ja nichts dafür, dass die Geschichte länger als eine Seite lang war und ich schließlich das Ende wissen wollte.

Irgendwann war Grimms Märchen, trotz silberner Buchrückenbreite von mindestens 6 cm und Hartcovereinband, wie damals so üblich, einfach ausgelesen. Skizzen an den Seitenrändern inklusive. Seiten, die ich zwischenzeitlich aus dem Gebinde händisch und temporär extrahiert hatte, da das unhandliche Buch in seiner durchaus wuchtigen Gesamterscheinung und auch Mutters Verbot beachtend bei innerstädtischen Reisen meinerseits mir zumindest die aktuellste Lesereise so auf leicht mehrfältige Weise ermöglichte, waren sorgfältig wieder an ihrem angestammten Platz.

Mit der Zeit waren die Straßenbahnfahrten zu kurz für die ganze Zettelei. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob das erste Taschenbuch, was mir meine Mutter schenkte, nicht genau deshalb seinen Weg zu mir fand. In den kleinen Trompeterbüchern begegnete ich erstmals fliegenden Teppichen, noch bevor ich zum ersten Mal ein Klassenzimmer betrat. Bis ich lernte, dass auch das fliegen konnte, entführte mich ein gewisser Karl May in altdeutscher Schrift zuerst nach China, dann nach Kurdistan. Irgendwann auf dieser Reise konnte ich es fließend lesen. Genützt hat es mir nur in meiner Phantasie.

Später, als seine Werke in den 80ern teilweise neu aufgelegt wurden, habe ich vergeblich in der Bibliothek nach der Fortsetzung der Geschichte am Kiang-Lu gesucht. Heute wären es ein paar Klicks, gefühlsbefreites elektronisches Bezahlen, das Wissen um den in moderner Zeit interpretierten Rassismus und meine eigene, überholte Erwartung an ein unmögliches Anknüpfen an die durch die eigene Erinnerung schillernd vermalte Gefühlswelt meinerseits beim damaligen Verschlingen seiner Abenteuer, was mich davon abhält.

Ich frage mich gerade, warum ich Lesen gelernt habe. Nein, es war nicht dieser nostalgisch sepiasierte, rückblicksverwaschene, unendliche Reigen aus selbsterschaffenen Phantasien außerhalb unbewusster Träume mittels Symbolen, die jeder individuell zusammensetzt. Der kam erst viel später. Zwischendrin gabs da Regeln und sprachliche Auswärtigkeiten, wie eben der Deartagnadn, welcher, phonetisch gesehen, die Hauptfigur des Films "Die drei Musketiere" im Buch mal eben einfach so ersetzte. Das war nicht Dartanjang. Ich habe das mit völliger Überzeugung gegenüber dem milden Lächeln meiner Mutter verteidigt. Und es bedurfte sowohl der Hinzuziehung diverser Autoritäten im engen Familienkreis, als auch mathematischer Beweisführung, um mich zu überzeugen, dass der Name im Film einfach anders ausgesprochen wird. Ich mochte beide sehr gern. Und ich habe mir gemerkt, dass sich Hauptfiguren und Handlung in Filmen von denen im Buch durchaus deutlich unterscheiden können. Nicht nur in Frankreich.

Zurück zur Ursache. Ja, auch hier war meine Mutter nicht ganz unschuldig. Sie hat mir viel vorgelesen. Ich bin oft eingeschlafen und habe vielleicht vom Ende der Geschichte geträumt? Keine Ahnung. Also weder vom möglicherweise real erzählten Schluss einer erdachten Geschichte, noch irgendwelchen Träumereien meinerseits. Ich? Lesen lernen? wozu? ... hier hatte ich den Luxus pur. Nur dass sie, die mir den Mund erst hat wässrig werden lassen, sich dann einfach zurückzog. Neue Schwester! Alles nur Ausreden! Andererseits hatte ich keine Wahl. Von Notwendigkeiten verstand ich damals noch nichts. Außerdem meinte meine Mutter, dass die Bilderbücher mit den kurzen Geschichten gar nichts gegen die tollen Geschichten in den großen Büchern, wie denen im Regal, seien. Sie würde mir sogar zeigen, wie das geht, das Lesen. Und dann könnte ich träumen, wann immer ich will. Zugegeben, da hatte sie mich.



Anmerkung von Soshura:

Das obige bezieht sich auf geschriebenes / gedrucktes Deutsch.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (24.08.24, 07:49)
Tja,
die erste Liebe vergisst man nie. <3
Zuweilen nimmt diese Tatsache tragisch-neurotische Züge an - und der Proband wird am Ende bibliophil oder gar biblioman,

weiß auch der grüßende8.

 Soshura meinte dazu am 24.08.24 um 15:08:
Die Reinkarnation im Sinne der Perfektionierung wird wohl ein Bücherwurm sein. Hoffentlich geschieht das noch rechtzeitig. Der Borkenkäfer scheidet leider aufgrund Desinteresse aus. Ich hab auch nicht weiter nachgebohrt.

Danke!
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