Die Sache mit meinem luxierten Ringfinger

Text

von  FRP

Auszug aus meiner Reiseerzählung "Reise nach Byzanz oder Istanbul 2024", Kapitel 8.



Der Innenhof der "Kleinen Hagia Sophia" verfügt neben einigen muslimischen Grabsteinen und antiken Säulensockeln über einen beschaulichen, kleinen Garten, einen überdachten Brunnen für die Waschungen, und einige kleine Geschäfte in den Arkaden, die ihn begrenzen. Im Norden des Gebäudes befinden sich ein kleiner muslimischer Friedhof und das ehemalige, achteckige Baptisterium. 2002 wurde das Gebäude wegen der starken Schäden, die durch Feuchtigkeit und Erdbeben verursacht wurden, auf die Liste der 100 meist gefährdeten Denkmäler des World Monuments Fund gesetzt. Ich war im September 2001 vor Ort, habe die Schäden jedoch nicht als so dramatisch empfunden. Nach umfangreichen Restaurierungen von 2002 bis September 2006 wurde die Moschee der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht. Bereits im Jahr 2004 konnte der Status „Gefährdung“ entfernt werden. Da es immer noch unangenehm regnet, bin ich sehr froh, mich unter die Überdachung im Teegarten zu setzen, wohin sich natürlich kein Kellner verirrt. Bedient wird wohl nur an den Tischen direkt unter den Arkaden, aber ich kann mich beim besten Rückbesinnen nicht erinnern, wie man es 2001 damit hielt. Doch das Nachdenken darüber beschwört alte Erinnerungen herauf:

 

 

Damals saß ich unmittelbar gegenüber dem Gebäudeeingang an einer Tafel mit mehreren Türken, wahrscheinlich waren es strenggläubige Muslime, die sich hier nach der Arbeit beim Tee auszutauschen pflegten. Eigentlich wollte ich allein sein, wie eigentlich immer und überall, aber es war mir nicht vergönnt. Ich wurde herangebeten, und eine Ablehnung wäre natürlich extrem unhöflich gewesen. Dann fragten sie mich aus; nach dem üblichen Woher und Wohin, nach dem Alter, Beruf und Verdienst. Ich war gerade zum Verkaufsleiter der Tonträgerabteilung eines Saturn-Marktes avanciert, und mein Verdienst, der so gut war wie nie zuvor und niemals wieder danach, machte sie sprachlos. Aber wenn du mal arbeitslos wirst, argumentierten sie, und bekamen wieder Oberwasser. Ist nicht schlimm, meinte ich, der Staat zahlt ein Jahr lang 70 Prozent vom letzten Brutto, und dann eben Arbeitslosengeld, damals etwas um die 1260 D-Mark, inklusive Miete. So waren meine Argumente, ob das so stimmt, weiß ich nicht mehr, aber ungefähr kommt das wohl hin. Sie schüttelten den Kopf, und einige stöhnten „Allah, Allah!“. Die Deutschen verdienen ihr Geld auch noch, wenn sie Siesta halten. Beim Barte des Propheten, das erscheint uns, den Rechtgläubigen, doch reichlich ungerecht. Einer von ihnen konnte Englisch, und er übersetzte den anderen, was mir stets etwas Ruhe und Bedenkzeit verschaffte. Sarkastisch meinte er, sie seien besser dran, denn sie wären jetzt alle Millionäre. Der Verfall der türkischen Währung hatte gerade wieder einmal in eine Inflation geführt. Später rettete ich spontan und beherzt eine Reisegruppe von Japanern vor dem Zorn der Muslime, denn sie schickten sich gerade an, die Moschee mit Straßenschuhen zu betreten. Hier kommt sie, die lang ersehnte Gelegenheit! Endlich, dachte ich sofort, kann ich einmal meine Kenntnis japanischer militärischer Samurai-Kommandos anwenden.


 

Ohne zu zögern schrie ich ihnen das japanische Wort „kinjiru!“ (verboten!) in die Ohren, was sie zu zitternden Salzsäulen machte; genau so, wie ich es mir erhoffte. Dann ging ich unter leichten Verbeugungen zu ihnen, entschuldigte mich gomen nasaiend und aisumasend, und klärte sie über das notwendige Schuhe-ausziehen in Moscheen auf. Da lachten wir alle, besonders ich, und waren wieder guter Dinge, besonders die Türken, welche sich für das verhinderte Sakrileg bedankten, indem sie mir viele weitere der kleinen Tassen mit Apfeltee spendierten. Ich hatte ihnen erzählt, dass ich 1990 schon einmal in Istanbul gewesen bin. Sie meinten, ich dürfe sie jederzeit wieder hier, in diesem wunderbaren Innenhof, zum Tee besuchen, solle mir aber nicht wieder 11 Jahre Zeit dafür lassen. Nein, nein – entgegne ich, und ich war mir sicher, dass ich gleich in den nächsten Jahren wiederkommen will. Das dann ganze 23 Jahre vergehen würden, ehe ich es wieder hierher schaffen sollte, hätte ich damals nicht geahnt, und falls ja, hätte ich mich wahrscheinlich gleich in das Marmara-Meer gestürzt, wäre es mir prophezeit wurden. Obwohl meine große Pleite ja schon hinter mir lag, hatte ich noch für rund 20 Jahre an der Insolvenz hart zu leiden. Und meinen Job bei Saturn verlor ich dann ein Jahr später auch. Wenn ich es recht bedenke, habe ich seither überhaupt nie wieder einen festen Job als Angestellter gehabt; nur ein eigenes, kärgliches Versandantiquariat, und nachfolgend mehr oder weniger sinnvolle Förderungen und Maßnahmen vom Jobcenter. Diesmal sehe ich die längliche Tafel, an der wir damals saßen, nicht mehr; und ich gelange auch nicht mehr mit Türken ins Gespräch.

 

 

Im Gegenteil, der Kellner (ich glaube, man gibt hier im Rahmen eines karitativen Projekts lobenswerter Weise geistig leicht eingeschränkten Menschen eine Chance auf Beschäftigung) gibt mir deutlich zu verstehen, dass er mich nicht mag. Er ist wie die Furie hinterher, meinen Tisch dauernd abzuwischen und meine Teetasse abräumen zu wollen, auch wenn sie noch gar nicht leer ist; aber meine Bestellung, Nachschub betreffend, ignoriert er. Was zur Folge hat, dass er später am Verlust meiner nicht billigen Sonnenbrille Schuld trägt, da ich stets Umhängetasche und Kamera mitnehme, wenn ich zur Toilette oder an die Bestell-Theke gehe; nicht aber die Brille. Und die ist dann auf einmal weg, aber was kann ich schon beweisen. Meinem Nachfragen weicht er aus, schüttelt den Kopf wie ein bejahender Bulgare, und versteckt sich hinter Beflissenheit im Dienst. Ich hole mir einen weiteren, tröstenden Tee und lese in meinem alten, roten Baedeker aus dem Jahr 1914, welcher einem Wiederbeschaffungswert von zirka 120,- Euro hätte, von längst vergangenen Zeiten vor 110 Jahren.


 

Beim Halten des Buches muss ich meinen linken Ringfinger schonen, welchen ich mir gestern Abend in den engen Gassen meines heimatlichen Viertels „Balat“ luxiert habe, wie es in der Fachsprache heißt. Möglich wurde das, - so meine Analyse, - durch nachlassende Konzentration infolge der gestrigen Überanstrengung im alten Sultanspalast und der unheilschwangeren Entspannung beim auswärtigen Abendessen im „Golden Balat“, meinem Lieblingsrestaurant. Man isst, ist nach-mahlig zufrieden, und lässt in der Aufmerksamkeit mal nach, wo man sich für die letzten Meter des Heimwegs doch gerade letztmalig besonders konzentrieren müsste. Ich bleibe somit an einer schwarzen Eisenstange, welche die Fußwege nach außen begrenzen, hängen; und falle, ohne mich abstützen zu können, voll auf die rechte Gesichtshälfte, welche danach stark blutet, was mich für den Rest meines Hierseins aussehen lässt, als hätte ich irgendwo meine Meinung zur türkischen Eroberung von 1453 öffentlich kundgetan. Außerdem steht mein linker Ringfinger, wie im Rechteck abgeknickt, seitlich nach innen ab. Warte; trägt man den Ehering eigentlich links? Egal, ich werde sowieso nie einen brauchen. Noch unter Schock ziehe ich den Finger nach vorn vom Wirbel ab und richte ihn binnen Sekunden wieder grade. Ich spüre keinen zusätzlichen Schmerz dabei.

 

 

Mir das Blut aus dem Gesicht wischend wanke ich zu meiner Unterkunft. Zum Glück ist meinen beiden Kameras nichts Beschädigendes geschehen. Und nun zieht der Schmerz doch noch, und mit Vehemenz, in meinen Finger. Die Wunde unter dem Auge müsste bestimmt genäht werden. Eigentlich müsste ich sofort ins Hospital, aber wer soll das hier, in Istanbul, bezahlen? Ich nicht, selbst wenn ich wirklich, wie daheim von der Kasse angesagt, 50 Prozent wiederbekommen würde. Heute finde ich mir irgendwo her einen starken Gummi, mit dem ich mir Ring- und Mittelfinger für die restliche Zeit meines Hierseins und bis zum Arzttermin in Leipzig zu einer unzertrennlichen Einheit verbinde. Alles richtig gemacht, wird man mir später sagen. Und sich darauf ausruhen, dass ich ja nun de jure kein Notfall mehr bin. Finger gebrochen? Termine haben wir erst wieder im September … Wären sie doch in Istanbul zum Arzt gegangen! Wie jetzt, sie haben den luxierten Finger selbst wieder gerade gerichtet?! Es ist unglaublich, was mir da seitens der deutschen medizinischen Institutionen noch für eine Unfähigkeit und Arroganz widerfahren wird. Der Schmerz ist natürlich trotzdem da. Und mein Gesicht? Na ja, ähnlich lädiert gleich mir laufen hier viele herum, denn nirgendwo sind kosmetische Operationen und Haartransplantationen gerade so günstig wie in Istanbul. Alle möglichen Gestalten mit Verbänden mustern mich in der Folgezeit anerkennend. Aha, werden sie sich denken, eine Augen-OP, und den Verband schon wohl tags darauf abgenommen? Krass, dieser Typ!



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