Damals in Leipzig
Text
von FRP
Teil 1
Seit Jahren proklamiere ich, dass ich den 09. Oktober gern jenen überliasse, die damals nicht dabei waren, nicht dabei sein wollten, auf der falschen Seite dabei waren, den Touristen und den zu jungen, um dabei gewesen zu sein. Gestern, am 9. Oktober 2014, war aber auch ich zum dritten Mal seit 1989 mit dabei beim sogenannten „Lichterfest“ - ich mag den Namen nicht. Das erste Mal – vor einigen Jahren - war recht gespenstisch, nicht zuletzt dadurch, dass man in Leipzig wieder die damaligen Ansprachen des Stadtfunks zu Gehör brachte, die Aufrufe von Funktionären zu „Besonnenheit“, zum Meiden der Innenstadt, und ähnlichem. Und da war es wieder, dieses Gefühl von damals, verbunden mit der Omnipräsenz der Staatsmacht, mit der Big-Brother-mäßigen Überwachung einer jeden Lebensaktivität eines jeden Individuums – die vermeintliche Ohnmacht gegenüber diesem System. Allein schon dieser schreckliche Stadtfunk, der uns mit den Slogans und Phrasen der SED Zwangs-beschallte – ein wenig hat mich der Anfang des (wunderbaren) Songs „In the time of our lives“ von Iron Butterfly bereits damals immer an die eine Atmosphäre von kalter Bedrohung herstellende Eingangs-Melodie des Stadtfunks erinnert. Eigentlich wollte ich schon in jenem Jahr – ich denke, es war 2011 – noch einmal eine Runde um den Leipziger Ring laufen, um die Ereignisse von damals zu rekapitulieren. Es war aber – immer Gegensatz zu den milden Temperaturen vom Oktober 2014 – sozusagen Schweine-kalt; und ich war unpassend begleitet; also ging ich schon bald wieder nach Hause. Mein zweites Mal einer rekapitulierenden Teilnahme fand dann 2012 in der Nikolaikirche statt, wozu mich Anke, jene Frau eingeladen hatte, die damals in der Jugendgruppe bei Pfarrer Führer aktiv war, und mir einfach Mut machte, mich anzuschließen. Noch dazu arbeiteten wir beide im Antiquariat in der Grimmaischen Straße, also direkt an der Nikolaikirche. Unsere rückwärtigen Fenster und unser Personaleingang gingen zur Nikolaikirche; die seitlichen Fenster gaben ebenfalls den Ausblick auf die Nikolaistraße mit ihrer ab dem frühen Nachmittag seit Anfang September aufgezogenen Polizei-Postenkette, aber auch einen Ausblick auf die merkwürdigen Aktivitäten von seltsam steif und korrekt gekleideten Menschen in den mittleren Etagen des Gebäudes gegenüber. Bereits zur Frühjahrsmesse beobachtete ich am Ende meiner Mittagspause, auf dem Rückweg vom Cafe Wilhelmshöhe, wie in der Grimmaischen Straße auf der Höhe Fürstenerker eine von der Nikolaikirche kommende Mini-Demo mit zirka 30 Leuten von der Polizei abgefangen und aufgelöst wurde – unter Wegnahme der Spruchbänder mit „Reisefreiheit“, „Untersucht den Wahlbetrug!“ und „Demokratie“ - und mit der unmittelbaren Verhaftung der Demonstranten nach zirka 100 gelaufenen Metern. Vom "Bibliophilen Antiquariat", an der Königshaus-Passage gelegen, aus sah ich im Februar, wie sich eine Gruppe von jungen Menschen auf dem Marktplatz versammelte. Ein Typ sprang auf eine Mauer, und las von einem Zettel ab. Was er sagte, verstand ich nicht. Aber ich sah, wer es war: mein Freund Fred. Der zwei Tage später verhaftet wurde, und schließlich die Ausreise bekam, die er so lange erstrebt hatte. Ich brachte es nicht übers Herz, mich vom Arbeitsplatz zu entfernen, und mich Fred und der Gruppe anzuschließen. Sie kamen nicht weit, bevor die Polizei sie auf der Höhe des Kinos Capitol auf LKWs verfrachtete.
Das nächste, was man bei uns im Antiquariat mitbekam, war der ungeheure Zulauf von Teilnahme-Willigen für die montaglichen Friedensgebete um 17.00 Uhr. Jene Menschen vertrieben sich manchmal auch die Zeit bis zum Beginn der Gebete bei uns im Antiquariat, und es blieb nicht aus, dass man mit ihnen ins Gespräch kam. Aber bald schon fanden bei weitem nicht mehr alle Platz in der Kirche, kamen darum immer frühzeitiger, und große Teile von ihnen blieben dennoch draußen. Und da beobachteten wir nun wieder, dass in den Morgenstunden, wenn wir zur Arbeit kamen, Kameras an der Grimmaischen-Straße-seitigen Front der Universität, die der Nikolaistraße gegenüber lag, montiert wurden – natürlich im Auftrag der Staatssicherheit. Zwei meiner Kolleginnen sind auch am Nikolaikirch-seitigem Fenster unseres Antiquariates in einer Filmdoku, die ich einmal auf „Phoenix“ sah, deutlich zu sehen – es sind die beiden blonden Mädchen Angela und Annett, welche sich in den Deko-Raum (so nannten wir ihn) geschlichen hatten, und fassungslos herunter schauten, wie ein anderer, mit ihnen befreundeter Kollege von uns, der gerade zur kasernierten Volkspolizei zur Ableistung seines Grundwehrdienstes in die Kasernen nach Gohlis eingezogen worden war, tatsächlich unten in der Polizeikette – vor seinem eigenen Arbeitsplatz - stehen musste – mit knirschenden Zähnen, nehme ich an.
Im August war ich dann in Ungarn im Urlaub, und all meine Kollegen wunderten sich, dass ich im September brav wieder zur Arbeit erschien. Einige ärgerten sich auch, denn sie hatte Wetten verloren – Wetten darüber, dass ich nicht wiederkommen würde. Ich kam aber wieder, denn teils hatte ich gerade mit allem abgeschlossen, also – auf Bitten und Flehen meiner im sogenannten Staatsapparat (allerdings ohne Partei-Zugehörigkeit oder ähnlichem) arbeitenden Mutter – auch abgenickt, dass mein Ausreiseantrag im Papierkorb (ohne Vermerk und Aktenkundigmachung) landete; und für die Annahme des Angebots eines skandinavischen Fernfahrers, mich über die bulgarisch-griechische Grenze durch Einbettung in einen Fischcontainer zu schmuggeln, hatte ich mich einige Jahre zuvor als zu feige erwiesen, - und teils war ich wirklich unglaublich naiv und blind. Ich hinterfragte einfach nichts – soviel hatte die dumpfe und bedrohliche Atmosphäre in der DDR bereits in mir angerichtet. In Budapest war ich Gast in einer Kirchgemeinde, durfte für die Zeit meines Urlaubs für Jahre in der Bibliothek der Kirche wohnen, hatte Unterhaltungen mit dem Pfarrer István Rösze, aber begriff nichts. Das erste, was ich 1989 nach meiner Ankunft in Budapest in den ersten Tagen des August unternahm, war ein Besuch beim Pfarrer (ohne Termin, sozusagen auf gut Glück und Versuch, ob er überhaupt zu Hause war) zur Abholung der Kirchen- und Bibliotheks-Schlüssel. Mein Kommen irgendwann im Sommer hatte ich natürlich brieflich angekündigt. Der Pfarrer lud mich also zum Essen ein (da es gerade Mittagszeit war), und erzählte mir, dass kein DDR-Bürger mehr in die DDR zurück müsse; und es für selbige ein Zeltlager in den Budaer Bergen gäbe. Natürlich schaute er mich prüfend zu seinen Worten an, abschätzend, wieviel er mir darüber noch erzählen könne, und solle. Aber in mir blieb alles ohne äußere Emotionen. Ein Zusammenhang zwischen Ausreise/Westen/Grenze, oder ähnlichem erschloss sich mir nicht. Hier, in den Budaer Bergen, hatte mein Freund Sven vor einigen Jahren eine Arbeitsstelle in einem Kinderheim gefunden hatte, für die er unerlaubt länger in Ungarn blieb, einfach für zwei Monate, trotz Ablaufen seines Visum, nicht in die DDR einreiste. Seine Arbeitsstelle als Wirtschaftskaufmann in einer Papierspedition hatte er dafür gekündigt, und als dann schließlich wieder in Leipzig war, arbeitete er als Altenpfleger, und konnte sich erfolgreich für eine Umschulung bewerben. Seine spätere Anwesenheit bei der Demo am 13. Oktober ist auch dadurch dokumentiert, dass er einer derjenigen fotografierten ist, die dadurch auffielen, dass sie Rollstühle vor sich her schoben – verbunden mit der Aufforderung zur Aufhebung der Importsperre selbiger. Einfach in Ungarn bleiben und dort leben und arbeiten, dass war sowieso eine Idee, mit der wir durchaus in all den Jahren zwischen 1982 und 1989 gespielt hatten. Nun war es also möglich – gut. Aber wollte ich das? Auf mehr kam ich nicht. Wie gesagt, weiterführende Zusammenhänge sah ich einfach nicht. Was sonst? Vorsichtig erzählte mir der Pfarrer von der nun porös gewordenen Grenze nach Österreich und von jenem großen, Paneuropäischem Tag am 19. August – also ungefähr in einer Woche. Aber – so ich – das war doch etwas ganz einmaliges, oder? Käme darauf an, welcher Abschnitt, wie die Einstellung des jeweilig Diensthabenden war, so der Pfarrer. Na gut, dachte ich, aber bei uns weiß doch jedes Kind, dass die DDR und Österreich ein Abkommen geschlossen hatten, welches besagt, das Österreich etwaige Republik-Flüchtlinge gnadenlos an die DDR ausliefen würde. Jedenfalls war es das, was uns schon in der Schulzeit erfolgreich eingeredet wurde. In der Kirche selbst lernte ich eine dort ebenfalls gastierende evangelische Jung-Pastorin kennen, die mit Jugendgruppe ebenfalls dort gerade Anfang August zu Gast war. Und obwohl wir uns durchaus nah kamen, erzählte sie mir nur in vagen Andeutungen, dass in den nächsten Tagen die eine Hälfte der Gruppe nach Hause reisen würde, und die andere Hälfte mit ihr sich in Richtung auf die österreichische Grenze bei Sopron bewegen würde, und ob ich nicht mitkommen wolle? Aber irgendwie verschloss ich meine Augen, wollte meine Entscheidung, „mit allem abgeschlossen“ zu haben nicht revidieren, traute der Sache nicht, hatte keinen Mut. Nicht einmal das Zeltlager in den Budaer Bergen bei Zugliget schaute ich mir an. Aber je länger ich in Budapest war, und je näher das Ende meines Urlaubs auf mich zu kam, desto mehr bekam man über die Medien, und mehr noch, über Mundpropaganda mit anderen ostdeutschen Touristen und den ungarischen Bekannten mit, dass sich da große Dinge ereignet hatten. Das ich möglicherweise eine einmalige Chance ignoriert hatte, diese von mir so leidenschaftlich gehasste DDR endlich hinter mir zu lassen. Nun war es wieder unklar, ob die Grenze zu Österreich nun noch offen war; die einen sagten so, die anderen so. Es kamen wohl widersprüchliche Signale aus dem Budaer Parlament, wie die dortigen „Organe“ mit Fluchtwilligen zu verfahren hätte. Später, wieder in Leipzig, hörte man sogar von Menschen, die dort noch an der Grenze erschossen wurden.
Der junge Kraftfahrer Mario aus dem Stammsitz des Zentralantiquariats in der Talstraße erzählte mir sogar, er sei mit seinem Wagen über die Grenze gefahren – problemlos wäre er durchgewunken worden – Ende August. Und: er hätte (natürlich, sonst wäre er jetzt nicht hier) auch problemlos wieder zurückkehren dürfen. Er wollte nur einmal an der Freiheit schnuppern, nicht bleiben (Ob all dies der Wahrheit entsprach, vermag ich nicht zu beurteilen; aber verrückt genug, um wirklich Leben hinter dieser Geschichte zu haben, war er schon. Andererseits gehörte es auch zu seinen Pflichten, die gesamte Ausgangspost der Firma ein jedes Mal nicht zur Post, sondern eben zur Prüfstelle der Staatssicherheit zu bringen (die hatten einen Decknamen dafür, sagten so was wie: „Ich fahre zur „Neunzehn“, oder so), und die wussten, was gemeint ist (Ich reimte es mir hinterher zusammen, als wir erstmals erfuhren, dass sie Staatssicherheit wirklich eine jede Postkarte, einen jeden Brief, ein jedes Paket oder Päckchen, was in die BRD abging, öffnete und kontrollierte (das war etwas, was wir in der gesamten DDR-Zeit selbst bei denen nicht für möglich gehalten hätten).
Nun war ich also wieder im alten Trott, und todtraurig über die verpasste Chance. Dazu kam der Spott zweier Kollegen, die ihren Ungarn-Urlaub noch vor sich hatten, und - richtig: dann beide auch nicht wieder zurückkehrten. Dazu kam die sich zunehmend verschärfende Atmosphäre auf dem Nikolaikirchhof an den Montagen – immer öfter mit Mühen verbunden, als daselbst Arbeitender durch die Polizeiketten zu gelangen. Natürlich ging ich nicht mehr nach Hause – ich verließ entweder nach 18-, oder nach 20 Uhr das Geschäft durch die Hintertür, und stand vor Sankt Nikolai. Unser Hinterausgang führte direkt an die Südseite der Nikolaikirche – man ging hinaus, und war mitten Im Geschehen: Demonstranten, Spruchbänder, Zuführungen. Eine Menge Menschen standen einfach nur beobachtend am Rand – noch immer konnte man sein Augen nicht trauen, dass so etwas endlich auch in der DDR zur Realität wurde: Ein Aufbegehren, ein Volkswille, ein Einfordern von Freiheit und Grundrechten. Die ganze Situation war auch etwas gespenstisch, weil man ahnte, dass viele der Zuschauenden auch Einsatzkräfte in Zivil waren, Staatssicherheit und dergleichen. Mittlerweile war mir dies vollkommen egal – ich begann, zu akzeptieren, dass das hie die eine Sache in meinem Leben wurde, die alles damit verbundene Leiden und jedes Opfer wert sein würde. Sollten sie mich doch „zuführen“ - dann frage ich gleich, wo man hier den Ausreiseantrag stellen könne. Was weniger angenehm war, war die Tatsache, dass keiner wusste, ob der Nebenmann nicht einer von der Stasi war. Merkwürdig, dass ich nicht einen einzigen Menschen jemals da, im Nikolaikirchhof; oder bei der Demo selbst traf, der mir bekannt war.
Als ich am 2. Oktober das Antiquariat zusammen mit meiner Kollegin Kathleen verließ, herrschte draußen bereits ein ohrenbetäubender Lärm. Pfiffe, Johlen, Polizeiansagen durch Megaphone. Wir sahen, wie die Polizei Menschen auf Transportfahrzeuge zerrte. Sah sie prügeln, Spruchbänder einkassieren, in ihre Innentaschen und Einkaufsbeutel reden. Sah die Beamten in Zivil, die an den Rändern lauerten (in einen von ihnen glaubte ich später, beim Anschauen der Filmaufnahmen, meinen ehemaligen Mitschüler Jens-Uwe B. Zu erkennen, von dem bekannt war, dass er diesen Weg eingeschlagen hatte. Was komisch war: Zunächst, und den ganzen September lang, gehörten auch wir nur zu jenen, die da irgendwo am Rand herum standen. Meine Kleidung war ebenfalls korrekt, oder zumindest nicht allzu fern der vom Staate gern gesehenen Ordnung, da ich immerhin in einem staatlichen Antiquariat öffentlich wirksam war, und ein Mindestmaß an Kleiderordnung halten musste. Außerdem trug ich auch gern Trenchcoats oder meinen uralten Ledermantel, genau wie gewisse der Beamten dort. So bekam auch ich manchmal komische, mindestens skeptische Blicke ab von denen in zerrissenen Jeans mit ihren Afghanen-Tüchern. Verdammt, dass mir. Das tat weh. Also nahm ich mir vor, ab dem nächsten Tag zumindest alte Jeans und meine normale Jeansjacke zu tragen. Aber schon an den Gesichtern konnte man eigentlich erkennen – das meine, und die der anderen, die hier passive, sympathisierende Beobachter waren, war geprägt von Angst und Fassungslosigkeit ob der Gewalt und Härte der Beamten einerseits, und sprachlos vor Staunen über den Mut derer, die da Montag für Montag mit Spruchbändern, Losungen und skandierten Sprüchen aus der Kirche kamen. Den Versuch, um 17 Uhr mit meiner Kollegin Anke an den Friedensgebeten teilzunehmen, unternahm ich nicht. Im Gegenteil, ich hielt ihr den Rücken für ihre Teilnahme am Friedensgebet frei, übernahm die langen Dienste. Wir hatten bis mindestens 18 Uhr Dienst, und nur wenige von uns bekamen vorher frei. Ich fand es hingegen atemberaubend, vod Fenstern aus zu beobachten, was sich dann außerhalb der Kirche in der Nikolaistraße tat. Am 02. Oktober waren es so viele Menschen, dass sich zum ersten Mal eine Bewegung in Richtung zum Augustusplatz manifestierte, welche die Polizeikette auch durchbrechen konnte. Da sammelte sich eine riesige Menschenmenge, die lauter und lauter Sprüche wie „Schließt euch an“ und „Gorbi!“ skandierte. An der Hauptpost hatte sich eine Polizeieinheit hinter aufgestellten roten Geländern und hinter ihren Schilden verschanzt, aber auch die musste nach zirka einer halben Stunde weichen. In den Westmedien am späten Abend war von 10.000 Demonstranten die Rede. Ich weiß es nicht, woher die Losung kam, dass wir alle eine volle Runde um den Ring laufen sollten – es erschien mir sofort als logisch. Bereits auf der Höhe des Hauptbahnhofes konnte man deutlich die Polizeizüge wohl ganzer Hundertschaften wahrnehmen. Mehrmals geriet unsere Demo ins Stocken, mehrmals standen die Vordersten der Polizei gegenüber, die mit ihren Schlagstöcken gegen die Schilde schlugen. Besonders war dies an der heute nicht mehr existierenden Fußgängerbrücke mit dem Spitznamen „Blaues Wunder“ der Fall. Eine riesige Menge an Polizisten stand auf- und unter der Brücke; hinter ihnen, und seitlich am Brühl und am gegenüber liegenden Hotel waren Wasserwerfer-Fahrzeuge aufgefahren, welche schließlich auch zum Einsatz kamen. Zeitgleich griffen nun die Polizeieinheiten am Hauptbahnhof ein. Wir wurden eingekesselt, und in Richtung Innenstadt getrieben; in Richtung auf die Thomaskirche und den Clara-Zetkin-Park, und diese Richtung war ja auch die, in welche ich den späteren Heimweg antreten musste. Alle begannen zu rennen – die Polizei schlug gnadenlos mit Gummiknüppeln zu. Ich will es nicht verschweigen: Genau auf der Höhe des Alten Rathauses hörte ich auf zu rennen, drückte mich unter die Arkaden desselben, und kam nach einer Weile daraus langsam und gemächlich wieder hervor, als ob mich das Ganze nichts anginge. Meine Kleidung war einigermaßen ordentlich, und abbekommen hatte ich auch nichts. Mein Atem war wieder halbwegs kontrolliert. Natürlich hatte ich Angst, und bin im Nachhinein darauf alles andere als stolz. „Bürger, verlassen sie die Innenstadt“ riefen mir und anderen Passanten die ihre Menschen-Beute jagenden Polizisten zu. Ich lief, so ruhig ich konnte, durch die Petersstraße über die Südvorstadt in Richtung Rennbahn und der Linie des A-Bus', mit welchem ich dann auch wieder nach Hause gelangte.
Von den Aktivitäten am 7. Oktober, dem sogenannten „Tag der Republik“, bekam ich nur wenig mit, irgendwie gingen die an mir vorbei. Der Versuch einer spontanen Demonstration wurde jedenfalls von der Polizei wieder gewaltsam erstickt – was sicher der Hauptgrund dafür war, dass am 9. Oktober dann um die 70.000 Demonstranten zusammen kamen, obwohl die Polizei ihr Bestes gab, um die Zufahrten mit der Reichsbahn-, aber auch die Straßen, die zur Innenstadt führten, abzuriegeln. Über diesem ganzen Tag lag eine bedrohende Atmosphäre, das spürte man gleich. Man konnte es geradezu atmosphärisch spüren, dass heute – so oder so – etwas Entscheidendes geschehen würde. Ich war fest entschlossen, bei der Demonstration wieder mit dabei zu sein. Aus was für einem Grund auch immer arbeitete ich an jenem Tag nicht im Antiquariat in der Grimmaischen Straße, sondern im Stammsitz der Firma am Bayerischen Bahnhof. Gegen 16.30 Uhr machte ich mich zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt, wo ich mir noch einige Zeit zu vertreiben gedachte. Wieder kam ich an den Arkaden des Alten Rathauses vorbei, wo ich sah, wie der Mann einer Kollegin vergeblich auf seine Frau wartete. Er tat mir leid – ich kannte den Grund: Sie hatte eine Affäre mit einem, der wohl beim Neuen Forum engagiert war – jedenfalls hatte sie, die noch Wochen davor bitterlich geweint hatte, weil er sie verlassen wollte, nunmehr offenbar beschlossen, mit ihrer Affäre, der ebenfalls bei uns im Antiquariat arbeitete, zur Demonstration zu gehen.
Da hatte ich nun so viele Freunde, aber Gott allein mochte wissen, wo sie sich nun hier, im Viereck zwischen Oper, Gewandhaus, Hauptpost und Nikolaikirche befanden. Anke war bestimmt noch beim Pfarrer Führer, die Kollegen aus dem Antiquariat hatten sich schon irgendwo eingereiht, und ob, und wo, Freunde wie Uwe, Olaf und Sven heute waren, ohne Handy (und so etwas gab es damals noch lange nicht) gab es keine Chance auf ein Zusammensein. Kathleen, mit der ich noch am 02. Oktober unterwegs war, hatte das Land in Richtung Ungarn verlassen.
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