Von Stu zu Pete. Teil 1

Text zum Thema Musik

von  FRP

Vorwort

LIVERPOOL, TAG 5: SONNTAG, 20.10.2019: VON STU ZU PETE. TEIL 1

There is no original Beatles track on „The Best of the Beatles“. It’s all Pete. He’s Best.
 
Das Frühstück im Dolby Hotel ist recht gut, allerdings gibt es an den Wochenenden leider nicht die kleinen Croissants, welche wochentags in einem Brotkorb liegen. Nun gut, dann toaste ich mir das englische Weißbrot, und nehme zwei Eier und Käsescheiben. Dazu einen Cappuccino, welchen man extra an der Kasse zahlen muss, bevor man sich ihn selbst aus der Maschine ziehen darf. Der heutige Tag soll für mich im Zeichen von Stuart Sutcliffe-, jenem viel zu früh verstorbenem Bassisten der Beatles; und von Pete Best stehen, dem drummer, der vor Ringo kam. Huyton und West Derby heißen somit meine heutigen, vorstädischen Ziele. Mein, ich erwähnte es bereits,  äußerst unzulänglicher Stadtplan von Liverpool reicht nicht einmal bis Huyton, welches sich noch weiter draußen als Woolton befindet. Ich kann also nur anhand der Aushänge in der zentralen Bushaltestelle Liverpool One, welche sich nicht allzu weit von meinem Hotel befindet, herausfinden; welche Linie überhaupt nach Huyton fährt, und den Fahrer bitten, mich zentral rauszulassen, oder zu hoffen, dass er ein bisschen was über die Beatles weiß. Laufen kann man freilich auch; von der Penny Lane nach Wavertree, also in die typische George-Harrison-Gegend, in die ich sowieso noch will; und dann immer die irrsinnig lange Childwall Valley Road entlang, die noch lange nicht zu Ende-, oder auch nur in Huyton angelangt ist, wo mein Stadtplan aufhört. Aber ich entscheide, dass Everton, Woolton und Allerton eindeutig genug des guten Laufens sind; ich muss keine 40 Kilometer am Tag laufen, wenn möglich auch noch im Regen, nach welchem es heute zunächst nicht aussieht.
 

Ich begebe mich also nach dem Duschen, Ankleiden, Frühstücken und Planen zur zentralen Bushaltestelle Liverpool One, um mich zuerst nach Huyton zu begeben, wo Stu, wie er genannt wird, begraben liegt. Auf den Bus der Linie, derer ich mich bedienen will, muss ich nun noch über eine Stunde warten, da wir jetzt Wochenende haben, und der Busverkehr nicht mehr so stark floriert, wie an den Wochentagen. Das ist ziemlich belastend, alles sinnlos vertane Zeit, die man vorher freilich in Erfahrung hätte bringen-, und besser nutzen können; zum Beispiel mit einem Besuch des Liverpool Museum. Gar nicht so einfach, zu Liverpudeln mit ihrem Dialekt in Wörtern zu reden, die man noch nie ausgesprochen hat. Hä? Wohin willste? Ich erzähle ihm was von Stuart Sutcliffe und Julia Lennon. Schließlich begreift er, wohin ich will; und ich begreife, dass Huyton „Hutt’n“ ausgesprochen wird, so wie „hatten“ im Deutschen. Nach „Hatten“ zu fahren; das hatte ich vor.
Ich löhne den im Vergleich zu den Buspreisen in London sehr geringen Lohn. Je weiter man in Britannien nach Norden gelangt, desto billiger wird alles – hatte mir der Typ im Flieger vor ein paar Tagen gesagt; jener mit der deutschen Freundin „Gee-Sell“. Also: Gisela. Im Bus der betreffenden Linie, die ich vorher eruierte, bin ich für lange Zeit der einzige Fahrgast. Ich mache mit dem Fahrer aus, dass ich mich nach oben begebe, wo die Beatles immer so gerne saßen, und er mich im Vorfeld durch dreimaliges, kurzes Hupen verständigt, wenn ich aussteigen soll.
  

Vorbei geht es an der Lime Street, der Hope University (wo ich noch gar nicht war, und auch nicht mehr hingelangen sollte), und wieder über die Penny Lane und die Menlove Avenue weit raus aus der Stadt nach Huyton. Ich finde es herrlich, hier oben im Bus zu sitzen, ganz vorn, und ganz allein zu sein. Leider sind die Scheiben reichlich verschmutzt, aber ich fotografiere trotzdem, wann immer der Bus hält, oder langsam dahin schleicht.
      

Irgendwann, nach einer guten Stunde Fahrzeit mit vielen kleinen Haltestellen, mit ungeraden, irrrationalen Wegen durch ganz Allerton und Woolton, hupt der Fahrer tatsächlich dreimal. Ich bin erleichtert, denn so richtig hatte ich, der ich bei solchen Dingen einfach kein Vertrauen aufbauen kann, schon damit gerechnet, dass ich bis zur Endstelle im Bus bleiben muss, und dem Fahrer erst, als er mich zum Nachzahlen verdonnern wird, wieder einfällt, dass ich raus aus dem Bus muss. Und darum kann ich solch eine Fahrt auch nie richtig genießen, niemals einmal Loslassen vom ständigen orientieren und herausfinden-müssen, weil ich mir endlos Gedanken mache, was alles passieren-, und schlimmer noch: unterbleiben! Könnte. Aber ganz im Gegenteil, die Busfahrer in Liverpool sind echte Einheimische, die ihr Handwerk lieben und verstehen, für die es eine Frage der Berufsehre ist, dass einmal Ausgemachte auch einzuhalten. Inzwischen ist der Bus richtig voll mit Bürgern, die zur Ortsveränderung bereit waren. Dass der Fahrer sich an mich erinnerte – eine echte Meisterleistung. Er erklärt mir sogar noch den kürzesten Weg zum Friedhof, welcher mich direkt durch die kleine Innenstadt des kleinen Vorstadt-Örtchens führt. Natürlich hole ich mir erst einmal eine kleine Milch und einen großen Cappuccino, also mein normales zweites Frühstück. Dann sehe ich am Ende des Ortszentrums schon die kleine Kirche, welche mir der Busfahrer zur Orientierung vorgab. Bis du an der Huyton Parish Church, bist Du praktisch auf dem Friedhof, meinte er.
 

Na ja, einen Friedhof gibt es hier, welcher sich rund um das Kirchengebäude erstreckt; aber es sieht nicht so aus, als ob hier in den letzten dreihundert Jahren jemand beerdigt worden wäre. Trotzdem laufe und suche ich alles ab – ich meine, dass wäre schon vorstellbar, dass man einen ehemaligen Beatle solcherart geehrt hat, dass man ihn hier zu tun Altvorderen-Verstorbenen bei tut. Als ich das Areal umrundet-, und Grab-mäßig gesichtet habe, muss ich aufgeben: Kein Stuart hier; jedenfalls kein Sutcliffe. Das Portal zur Kirche steht offen, also trete ich ein, in der Hoffnung, jemand befragen zu können. Verdammt, diese Liverpooler Vorstadt-Pudel werden doch wohl noch wissen, wo die bedeutendste aus ihren Reihen emporgeschossene Persönlichkeit dieses läppischen Vororts begraben liegt! Das Kirchenschiff ist angefüllt mit Bürgerinnen und Bürgern jener Semester, die noch mit Stuart zur Schule gegangen sein dürften, und sofort entspanne ich mich. An einer großen Tafel, die aus so etwas Ähnlichem wie Schulbänken aufgebaut-, und mit Tischdecken verziert ist, stehen mehrere Suppenterrinen, und man teilt gerade das Mittagessen für die Bedürftigen, oder eben für die Gemeindemitglieder aus. Ich grüße artig, und passe mich den kanonischen Vorgaben ungefähr, aber gutwillig an, indem ich so etwas murmle wie „praised be Jesus Christ!“. Keine Ahnung, wie die Anglikaner das halten. Aber man lächelt artig zurück, freut sich aufrichtig über den Gruß, und das ein fremdländisches, in vielerlei Hinsicht verirrtes Schaf den Weg in die Gemeinde gefunden hat. Man bietet mir von der Suppe an, und ich bereue es noch heute, dass ich mir den Leib nicht damit erwärmt habe; nur eine Tasse Tee akzeptiere ich, aus Höflichkeit. Ob sie je von Stuart gehört haben, wird mir nicht klar, aber sie lösen mein Dilemma, indem sie mir sagen, dass ein Stück schräg hinter der Kirche der moderne Friedhof der Neuzeit liegt, auf welchem ich bestimmt fündig werden würde. So scheide ich alsbald, unter gegenseitigem Bedauern, von der Gemeinde. Ich hätte mich ehrlichen Herzens gern wieder einmal mit Menschen unterhalten, aber die Zeit verrinnt so gnadenlos schnell.
 

Schräg hinter dem Areal der Kirche also liegt eine Verkehrsinsel, und die um sie herum gruppierten Straßen sind stark befahren. Drüben stehe ich an einem durch einen Metallzaun abgeteiltem Gelände mit einer kleinen Pforte, die geschlossen ist. War ja klar. In meinem Beatles-Führer stand ja auch, dass man sich vorher erkundigen soll, ob der Friedhof geöffnet ist, aber heute, zum Sonntag, sollte er es doch wohl um die Mittagszeit sein. Das Schild am Eingang weißt ihn doch aus als geöffnet aus! Eine Frau meines Alters oder etwas jünger, welche ihr Auto in der Nähe geparkt hat, bemerkt mein Dilemma, tritt hinzu, und fragt, was ich hier wolle. Ich spule also wieder mein Garn von der Friedlichen Revolution … nein, von den Beatles, ab; und siehe da, sie greift hinter die Gitterstäbe des kleinen Tores, zieht von innen einen Riegel auf, und meint, dass ich heute halt der erste sei, und der Küster das wohl am Morgen vergessen hatte. Natürlich zeige ich ihr, wie sehr ich mich freue. Sie wiederum wusste gar nichts von Stu, und dass er hier liegt. So profitieren wir beide.


Es gibt keine Hinweise darauf, dass einer der anderen Beatles jemals hier gewesen ist, um sich das Grab anzuschauen, Abschied von Stu zu nehmen. Na, Hauptsache, die verrückten Spinner wie ich pilgern hin. Stu verstarb am 10. April 1962 in Hamburg, wo er bei der schönen Astrid Kirchherr lebte, und sich erfolgreich um ein Kunststudium beworben hatte. Ebenso wie fast 20 Jahre später bei seinem Freund John Lennon sollte der Ort des Versterbens ein Krankenwagen sein.
Bereits im Februar war er mitten in einer Vorlesung zusammengebrochen. Die Deutschen Ärzte röntgen ihn, konnten aber die genaue Ursache nicht ausmachen, rieten ihm zur Ruhe, und zu weiteren Untersuchungen, am besten in England, was er aber ablehnte. Er hatte sich ein Blutgerinnsel im Gehirn zugezogen, nachdem er bei einem Streit in der Lathom Hall in Seaforth, nördlich von Liverpool, im Januar 1961 zusammengeschlagen wurden. Seaforth, wo sich die modernen Häfen von Liverpool befinden, liegt schräg gegenüber der äußersten Spitze der Wirral Halbinsel, welche ich in diesem Urlaub noch besuchen werde. Stu wurde entweder gegen den Kopf getreten, oder mit dem Kopf an die Wand geschlagen, bevor John Lennon und Pete Best die Angreifer vertreiben konnten. Zunehmend litt er danach an furchtbaren Kopfschmerzen, neigte zu gewalttätigen Ausbrüchen, und temporärer Blindheit. Einen Röntgen-Termin in Liverpool arrangierte er zwar, aber er verpasste ihn. Am 13. April 1962 kamen die Beatles in Hamburg an, um ihr letztes Engagement im Star Club anzutreten. Eigentlich waren sie dafür schon zu berühmt, aber der Vertrag stand. Sie freuten sich auf ein Wiedersehen mit Stu, aber es war Astrid, welche allein am Flughafen auftauchte – diesmal konnten sich die Beatles schon einen Flug leisten. Als sie vom Tod von Stu vernahmen, reagierten sie geschockt. John meinte, wie immer bei solchen Anlässen; wie auch schon, als er vom Tod seines Onkels und vom Tod seiner Mutter vernahm, erst: „Blödsinn!“, um dann in hysterisches Gelächter auszubrechen; bevor er den gewaltigen Schmerz zulassen konnte. Die Beatles mussten in Hamburg ihren Vertrag erfüllen, während Stu‘s Leiche nach Liverpool geflogen wurde. Astrid ging es zu schlecht, sie konnte nicht dabei sein, als Stu hier auf dem Friedhof der Gemeinde Huyton am 19. April 1962 beigesetzt wurde. Da war ich zwei Monate und acht Tage alt. Stu‘s Vater war ebenfalls nicht zugegen, er fuhr zur See, und vernahm erst vom Tod seines Sohnes, als sein Schiff in Buenos Aires anlegte.
 

Gleich, wenn man den Friedhof betritt, und nach rechts schaut, könnte man einer weiß gestrichenen Bank gewahr werden, welche Stu im Jahre 2015 von der Familie und von Fans gestiftet-, und dort zu seinem Gedenken aufgestellt wurde. Ich begebe mich erst einmal auf das Areal, checke das Areal, lasse mich auf das Areal ein, um das Grab 552 in der Sektion 1939 zu finden. Entweder ist das Zufall, oder hier liegen wirklich ab 1939 geborene Menschen, was auf Stu, der am 23. Juni 1940 geboren wurde, zutrifft. Das Grab befindet sich ziemlich weit hinten, fast am Ende des Friedhofs, etwas mittig oder sich der linken Seite zuneigend. Am 18. März 1966, als mein Schulfreund Olaf seinen dritten Geburtstag feierte, starb Stu‘s Vater Charles, welcher ebenfalls mit in der Grabstelle liegt, und auf dem schwarzen Grabstein, welcher mit goldener Schrift versehen wurde, verewigt ist.

Natürlich fotografiere ich ausgiebig, und schaue mir auch den nicht allzu großen Friedhof genau an, der, wie fast alle britischen Friedhöfe, sehr malerisch-, und mit interessanten, alten Grabsteinen- und Platten versehen ist. Beim Zurücklaufen in das Ortszentrum von Huyton werde ich nun gewahr eines großen Graffitis, und hier handelt es sich um echte Kunst: Auf roten Backsteinen hat man riesiges Porträt eines Menschen gesprüht, welcher kein anderer als Stuart Sutcliffe sein kann. Das freut mich sehr. Hier, in der autofreien Hauptgasse des verschlafenen Ortes, stehen auch Bänke, also hole ich mir einen Cappuccino, und verweile dort ein wenig, das Konterfei Stu‘s betrachtend. Dann breche ich auf, zum nächsten meiner Ziele. Dort, wo ich vorhin ausstieg, fährt auch eine S-Bahn-Linie, und neben der Bushaltestelle befindet sich eine kleine Aufenthaltsmöglichkeit für Buspersonal. Dort klopfe ich an, und frage nach der besten Möglichkeit, rüber nach West Derby zu gelangen, worüber man mir bereitwillig Auskunft erteilt. Zum Glück ist das Haus von Pete Best, dem ersten Schlagzeuger der Beatles, auf meinem Stadtplan mit der Zahl „112“ markiert, auch wenn man alle Straßenzüge außer den Fernverkehrsstraßen weggelassen hat; desgleichen auch alle Blocks und Karrees. Auf jeden Fall wird klar, dass ich gar nicht erst nach West Derby muss, sondern gleich eine Buslinie in das benachbarte West Derby Village von hier nehmen kann. Auch nun dauert es wieder sehr lange, bis der betreffende Bus auftaucht. Zum Glück kann man hier überall noch mit Bargeld zahlen, was einen gleich die Chance bringt, den Fahrer zu bitten, mich möglichst am nähesten zum angesteuerten Ziel heraus zu lassen; in meinem Fall handelt es sich diesmal um die Straße namens „Hayman’s Green“.
 

Der Fahrer weiß Bescheid, und meint, ich solle am besten unten, und in seinem Sichtfeld, bleiben. Die Fahrt selbst dauert, wie von mir befürchtet, auch wieder sehr lange, weil der Bus aller gefühlten hundert Meter anhält, um Bürger aufzupicken. Auch diese Fahrt hat ein Ende für mich, und ich werde tatsächlich wieder vom Fahrer angerufen, dass ich nun aussteigen soll. Das wird vermutlich bald nicht mehr möglich sein, in London wäre so ein Service schon völlig undenkbar.


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