„Mama, Mama!“ Tanja kniet sich neben ihre am Boden liegende Mutter und berührt mit ihrem Handrücken deren bleiches Gesicht. Der Gestank nach Alkohol und Erbrochenem ist ekelerregend, aber für Tanja nicht neu. Jetzt muss sie feststellen, ob ihre Mutter noch lebt.
„Mama, Mama!“ Von weit her dringt die Stimme meiner Tochter an mein Ohr. Mir ist elend und ich würde diese Stimme gerne abstellen. Sie klingt besorgt – aber auch vorwurfsvoll.
Die Tochter erhebt sich und geht ins Bad, um einen Eimer mit Wasser und Putzmittel zu holen. Der beißende Geruch ist nur schwer von Möbeln und Boden zu entfernen; es braucht Tage intensiver Lüftung, bis nichts mehr daran erinnert, wenn man den Raum betritt.
Ich kann mich aufrichten und langsam erheben. Am liebsten ginge ich sofort ins Bett, um mich auszuschlafen. Aber Tanja schimpft mit mir, wenn ich mich so stinkend ins Bett lege, und so gehe ich ins Badezimmer, um mich zu duschen. Ich schäme mich!
Im Wohnzimmer schimpft Tanja laut vor sich hin: „Das war jetzt das letzte Mal! Jedes Mal erschrecke ich zu Tode, und hinterher versprichst du mir hoch und heilig, dass du endlich mit dem Trinken aufhörst. Aber kaum passiert irgendwas in deinem Leben, was dir nicht passt, schon meinst du, es runterspülen zu müssen.“ Sie spricht zu sich, wohl wissend, dass ihre Mutter sie nicht hört.
Ich will das nicht hören, was meine Tochter da vor sich hinschimpft. Was weiß sie denn schon? Sie hat ein schönes Leben, einen guten Job und Freunde für die Freizeit. Ich hab gerade meinen Job verloren ... und Freunde hab ich schon lange nicht mehr. Der letzte Freund, der es verdient, so bezeichnet zu werden, ist gestorben. Rückfall. Nach beinahe neun Jahren, die er trocken geblieben war.
Als ich damals in mein erstes Meeting zu den „Anonymen Alkoholikern“ ging, bot er mir an, mich zu „sponsern“, wie die das nennen. Eher widerwillig hatte ich den Zettel mit seiner Telefonnummer angenommen – ihn dann aber immer in meiner Brieftasche verwahrt. Er muss mir wohl wie ein Rettungsanker erschienen sein, ein Notruf, eine ausgestreckte Hand, bevor ich im Sumpf meines verpfuschten Lebens zu versinken drohte. Und nun, als dieser Augenblick gekommen war, man mich im Geschäft vor die Tür gesetzt hatte, war Günther weg. Aus dem Lokal, in das ich nach meiner fristlosen Entlassung geflüchtet war, rief ich seine Nummer an. Seine Frau Helga, die ich flüchtig kannte, war am Apparat. Und die erzählte mir, dass Günther vor einer Woche beerdigt worden war.
Nach dem Telefonat hatte ich doppelten Grund, mich in der Kneipe zu betäuben. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich gar nicht mehr. Ich weiß auch nicht, wie es weitergehen soll. Muss es überhaupt weitergehen? Ich will doch gar nicht mehr. Zudröhnen und nicht mehr aufwachen. Ob ich zum Abkratzen auch vier Promille brauche, so wie Amy Winehouse?
Tanja weiß, dass ihre Mutter sterben wird, wenn sie nicht aufhört, zu trinken. Manchmal erschrickt sie beim Gedanken, dass sie es sich wünscht. Dann fühlt sie sich schuldig und schlecht. Sie würde es nie zugeben, dass sie den Tod der Mutter als Erleichterung empfände, dass sie ohne ihre trinkende Mutter endlich das normale Leben einer jungen Frau von zweiundzwanzig Jahren führen könnte, und zwar mit allem, was dazugehört: Mit Freunden, die man auch mal zu sich nach Hause einladen kann; mit Urlaub ohne die ständige Sorge darüber, was inzwischen daheim gerade passiert.
„Mein Name ist Bärbel – ich bin Alkoholikerin.“ Niemand, der nicht selbst einmal in dieser Situation war, kann ahnen, welche Überwindung es mich damals gekostet hatte, bei meinem ersten Meeting diesen kurzen Satz zu sagen. Ich musste es sagen, es wurde von mir erwartet. Dieses Schuldeingeständnis war quasi die Eintrittskarte in die Selbsthilfegruppe.
Das Wort „Schuld“ wird bei den Gruppengesprächen jedoch nie benutzt. Überhaupt wird dort vieles ganz anders verstanden und bezeichnet, als im normalen Umfeld. Wenn ich beim Treffen sage, dass ich mich nicht wirklich als Alkoholikerin sehe, weil ich ja jederzeit entscheiden kann, nichts zu trinken, werde ich nicht ernst genommen. Ich schlucke dann weitere Worte lieber runter, denn ich möchte nicht ausgeschlossen werden aus ihrem Kreis ... mir tut diese Gesellschaft gut.
„Mein Name ist Tanja – ich bin Co-Abhängige.“ Als Tanja im Meeting von „Al-Anon“, der Selbsthilfegruppe der Angehörigen von Alkoholikern, das zum ersten Mal sagt, empfindet sie die Worte als Entlastung. Wer hier anwesend ist, weiß, was sie meint. co-abhängig darf man sein, denn das beweist doch, dass man ein guter Mensch ist, der sich um das Suchtproblem in seiner Familie kümmert, um dem Alkoholkranken zu helfen. Durch die wöchentlichen Gespräche erkennt Tanja jedoch im Laufe der Zeit, dass sie sich um sich selbst kümmern, sich selbst helfen muss. Sie lernt, dass sie durch ihre Hilfe in der bisherigen Form niemandem hilft – weder ihrer Mutter, noch sich selbst. Und sie hat erkannt, dass sie handeln muss.
Als ich am nächsten Tag aufwache, erschrecke ich zuerst, weil es schon Mittag ist. Sofort fällt mir aber das Kündigungsgespräch im Geschäft ein und die damit verbundene neue Freiheit: Ich kann aufstehen, wann ich will.
Mein Hals ist so trocken, dass er schmerzt. Ich muss dringend etwas trinken. Auf dem Weg zum Flaschenversteck in der Abstellkammer falle ich beinahe über eine Wodkaflasche. Wie kommt die in den Flur? Ich setze mich auf den Boden. Nach zwei Schlucken stehe ich auf, um ins Bad zu gehen. Vor der Badezimmertür stehen zwei Flachmänner, die ich in einer Kosmetiktücherbox und dem Klopapiernachschub versteckt hatte – das weiß ich genau. In der Küche stehen Weinflaschen und eine Sektflasche auf dem Tisch, und im Wohnzimmer der Whisky und noch ein Flachmann auf dem Glastisch. Unter der Whiskyflasche liegt ein Zettel mit einer Nachricht von Tanja: ,Damit du nicht zu lange suchen musst, wenn du dich endgültig zu Tode säufst. Ich bin dann mal weg. Zwei Leben sind zuviel für mich, tut mir leid!’
Erst jetzt fällt mir die Leere in der Wohnung auf. Tanja ist wirklich ausgezogen. Ich setze mich aufs Sofa und öffne die Whiskyflasche.
Wann hat Tanja sich jemals so schlecht gefühlt? Weinend hatte sie am frühen Morgen ihre wichtigsten Kleidungsstücke und Papiere in zwei Koffer gepackt und war in eine Pension gezogen. Sie hatte zum letzten Mittel gegriffen und getan, was sie tun musste, sie hatte „ losgelassen“. Dieses Wort hatte sie bei „Al-Anon“ in dem Sinne kennengelernt, wie es für den Umgang mit nahestehenden Alkoholikern verwendet wird, nämlich dass man als Co-Abhängiger „in Liebe loslassen“ muss, um dem Betroffenen zu helfen. Nur mit dem Auszug Tanjas hatte die Mutter die Folgen ihrer Sucht täglich vor Augen und war gezwungen, darüber nachzudenken.
Es ist nichts mehr zu trinken im Haus. Meine Tochter hatte gründliche Arbeit geleistet und tatsächlich jede der von mir versteckten Flaschen aus ihrem Versteck geholt und in der Mitte des entsprechenden Zimmers platziert oder vor dessen Tür gestellt. Jetzt sind alle Flaschen leer. Ich brauche Nachschub.
Ich stehe so lange unter der Dusche, bis meine Haut krebsrot ist. Sorgfältig kleide ich mich an und schminke mich, bevor ich die Wohnung verlasse. Im Supermarkt treffe ich auf eine Frau aus der Nachbarschaft, mit der ich absolut nicht reden will – aber ich kann nicht ausweichen. Trotz der Schminke erkennt sie wohl meinen schlechten Zustand und fragt besorgt, wie es mir geht. Mein „Danke, gut!“ nimmt sie mir nicht ab. Sie zieht mich in eine Ecke, wo wir relativ ungestört reden können. „Ich mache mir ernsthafte Sorgen um sie, Frau Kramer. Als ich heute früh ihre Tochter mit zwei Koffern und verweinten Augen traf, wollte die mir nicht sagen, was los ist – nur, dass sie ausgezogen ist. Und nun sehe ich sie in diesem schlimmen Zustand ... was ist denn passiert?“
Je mehr ich versuche, unbeeindruckt zu bleiben, desto stärker beginnt es, in mir zu rumoren. Und dann, bevor ich etwas sagen kann, bricht es aus mir heraus. Die Tränen stürzen förmlich aus meinen Augen und ein Schluchzen, das ich nicht kontrollieren kann, erfasst mich.
Frau Schilling hat mich wie ein kleines Kind an der Kasse vorbei bis in ihre Wohnung geführt. Sie drückt mich in einen Sessel und holt mir Papiertücher und ein Glas Wasser. Kurz danach stellt sie eine Tasse Kaffee vor mich hin und setzt sich zu mir. Mit der Frage: „Wie konnte es nur so weit kommen?“ öffnet sie die Schleusen endgültig. Ich rede und rede und rede ... Frau Schilling hört zu.
Pünktlich um 19:30 Uhr erscheint Tanja im Al-Anon-Meeting in einem kleinen Nebenraum der Kirchengemeinde. Sie war lange nicht mehr dort gewesen und ist jetzt ein wenig aufgeregt; so als käme sie zum ersten Mal. Aber sie sieht bekannte Gesichter, und das Lampenfieber ist wie weggeblasen. „Schön, dass du wiederkommst.“ wird sie von Helene begrüßt. Auch die anderen Frauen, die sie bei den Treffen der Selbsthilfegruppe kennengelernt hatte, erinnern sich an sie und begrüßen sie herzlich. An diesem Abend berichtet Tanja von den aktuellen Geschehnissen, dem „Absturz“ ihrer Mutter – und von ihren eigenen Zweifeln darüber, ob es nötig war, auszuziehen. Als sie sich alles von der Seele geredet hat, weiß Tanja bereits selbst, dass ihr Handeln richtig war, und sie sich nicht schuldig fühlen muss.
Ich bin viel zu früh im großen Nebenraum unserer Kirchengemeinde, um nach längerer Zeit wieder am Treffen der Anonymen Alkoholiker teilzunehmen. Nach und nach füllt sich der Raum und ich entdecke mir bekannte Gesichter.
Hinter all diesen Gesichtern stecken Säuferkarrieren: So individuell, wie die Gesichter verschieden sind.
Sie werden es gleich erkennen, dass ich zittere und mich elend fühle, weil ich einen Tag lang nichts getrunken habe und auf Entzug bin. Aber das macht mir nichts aus, dass diese Menschen mich so sehen. Jeder hier in diesem Raum kennt das aus eigener Erfahrung.
„Hallo Bärbel!“ begrüßt mich Benno freundlich – „schön, dass du wieder zu uns gefunden hast.“
Nach den Meetings treffen im Gang Tanja und Bärbel aufeinander. Nach sekundenlangem Erstaunen liegen sich Mutter und Tochter weinend in den Armen. Bärbel erzählt von dem Gespräch mit Frau Schiller. Das hatte dazu geführt, dass sie sich in einer Klinik zum Entzug anmeldete und heute zum Treffen der Anonymen Alkoholiker gekommen war.
Der Lebensgefährte von Frau Schiller hatte es nicht geschafft, von diesem Zug mit Namen „Sucht“ rechtzeitig abzuspringen; er war mit 48 Jahren als Säufer qualvoll gestorben. Dieser Bericht hatte Bärbel endgültig die Augen geöffnet: Wenn sie weiterleben wollte, musste sie einen Schlussstrich ziehen, und zwar sofort. Das hatte sie nun getan.
Aufmerksam hört Tanja ihrer Mutter zu. „Erwartest du nun, dass ich wieder zu dir ziehe?“ fragt sie. „Nein“, antwortet Bärbel „dein Auszug war das einzig Richtige, um mir zu zeigen, wie weit es schon mit mir gekommen ist. Du lebst jetzt dein eigenes Leben und ich meins. Ich hatte die Wahl zwischen Leben und Tod und habe mich ab sofort für das Leben entschieden.“