Die Farbe des Sandes
Das Messer lag rechts neben dem Teller, die Schneide nach innen. Vor Fiona standen vier gleich dicke, halbkreisförmig angeordnete Baguettescheiben. In der Mitte thronte eine Schale Orangenmarmelade. Sie zog den Teebeutel aus dem Becher, wickelte ihn zweimal um den Löffel und drückte ihn sorgfältig aus. 3:58, 3:59 – vier Minuten. Perfekt. Fiona war eine Frau der Präzision.
Ihr Tisch stand im hinteren Bereich der Terrasse, fernab der anderen Gäste. Die Meeresluft strich sanft über ihre Haut, salzig und frisch. Sie leckte sich über den Handrücken – eine kleine Gewohnheit aus Kindheitstagen. Ein Geschmackstest. Alles fühlte sich richtig an, aber nicht genug.
Viertel nach Neun. Fiona schweifte systematisch ihren Blick von links nach rechts über die Gäste. Männer. Immer wieder verglich sie ihre Gesichter mit dem Bild in ihrem Kopf. Haare, Statur, Größe – ein Puzzle, dessen fehlendes Teil sie unbedingt finden wollte.
Am Ausgang saß ein attraktiver Mann mit dunkelblondem Haar und einem lässigen Haarschnitt. Er war breitschultrig und entsprach genau dem Bild, das Fiona im Kopf hatte. Sein Name war Ben. Fiona richtete ihre Strandtasche, stand auf und ging mit anmutigen Schritten in seine Richtung. Ihr schokoladig braunes Kleid mit einem Hauch von Glanz schwang leicht im Rhythmus ihrer Schritte. Sie hatte Stunden investiert, um genau das Kleid zu finden, das zu dem Bild passte.
„Ist das der Weg zum Strand?“ fragte sie, ihre Augen fixierten ihn.
„Ja, ein schmaler Trampelpfad,“ antwortete Ben und deutete auf die Büsche vor ihnen. „Wollen wir zusammen hingehen?“
„Gerne.“
Der Pfad war eng, Ben ging voraus. Ab und zu drehte er sich um und lächelte. Sie lächelte nicht zurück.
Als sie die Bucht erreichten, breitete Ben die Arme aus. „Hier ist es!“, rief er. Fiona starrte auf den Sand. Schwarz. Tiefschwarz. Sie presste die Lippen zusammen.
„Was ist los?“, fragte Ben.
„Er ist schwarz“, sagte sie tonlos.
„Ja. Vulkanischen Ursprungs. Er speichert Wärme.“
Fiona schüttelte den Kopf. „Ich will weißen Sand.“
Ben deutete auf eine andere Bucht in der Ferne. „Dort gibt es weißen Sand. Aber der wurde künstlich aufgeschüttet.“
Der nächste Strand war fast menschenleer, der Sand so hell, dass er im Sonnenlicht blendete. Ein Strandjunge bot Fiona eine Liege an. Die Snacks an der kleinen Bar sahen unscheinbar aus, aber sie hatte Hunger und bestellte einen Salat.
Der Mann hinter der Bar arbeitete präzise: Jede Tomate und Olive fand ihren Platz in konzentrischen Kreisen. „Damit Sie sehen, was Sie essen,“ sagte er, als er den Teller vor sie stellte.
Fiona war fasziniert. „So sorgfältig wie Sie arbeiten, könnte ich Ihnen mein Leben anvertrauen.“
Der Strandjunge lächelte und ließ seine Hände den feinen Sand durch die Finger rieseln. „Sand kann man nicht kontrollieren,“ sagte er nachdenklich und sah auf seine Hände hinab.
Später am Abend saß Fiona in ihrem Zimmer. Eine kleine Flasche mit weißem Sand stand auf ihrem Nachttisch. Der Strandjunge hatte sie ihr geschenkt, halbvoll. „Damit Sie ihn fühlen und sehen können,“ hatte er gesagt.
Fiona schloss die Augen und ließ sich in den Schlaf sinken.
Plötzlich fand sie sich an einem endlosen Strand wieder, das sanfte Rauschen der Wellen umgab sie. Der Sand unter ihren Füßen war makellos weiß, glatt und warm. Die Sonne stand hoch am Himmel und spiegelte sich auf dem glitzernden Wasser wider. Mit jedem Schritt fühlte sie sich leichter, als ob Sorgen und Zweifel von ihr abfielen.
Doch je weiter sie ins Meer hinausschwamm, desto mehr veränderte sich die Umgebung. Der sandige Boden unter ihren Füßen wurde dunkler, die Farbe wechselte von strahlendem Weiß zu tiefem Grau und schließlich zu pechschwarzem Sand. Die Wellen wurden kräftiger, das Wasser kälter und die Dunkelheit um sie herum dichter. Fiona spürte eine wachsende Kälte, die ihre Glieder umfing, und ein Gefühl der Beklemmung breitete sich in ihr aus. Der einst einladende Strand verwandelte sich in eine unheimliche, fremde Landschaft.
Sie versuchte, zurück ans Ufer zu schwimmen, doch das Wasser zog sie weiter hinaus, immer tiefer in die Dunkelheit. Panik stieg in ihr auf, als sie das Leuchten des Strandes verblassen sah. Die Kälte durchdrang sie, und die Finsternis schien sie zu verschlingen. Mit einem Mal riss sie aus dem Traum, ihr Herz pochte rasend, und kalter Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Fiona schüttelte den Kopf, um die bedrückenden Bilder abzuschütteln, und atmete tief durch.
Am nächsten Morgen ging sie wieder zum Strandjungen. „Warum hast du mir diese Flasche gegeben?“
„Sand ist Sand“, sagte er nur. „Die Leute sagen, er sei weiß oder schwarz, aber wenn man die Augen schließt, fühlt er sich immer gleich an.“
Fiona schwieg. Sie dachte an ihr Buch, an die Seiten voller Fotos, die sie ausgeschnitten hatte. Weiße Strände, perfekte Kleider, das Leben, das sie sich immer gewünscht hatte. Aber es war nie ihr Leben gewesen, nur eine Collage aus fremden Träumen.
Mit einem Lächeln drehte sie die Flasche in ihrer Hand. „Vielleicht ist es an der Zeit, eigene Farben zu sehen.“
Der Wind trug den Geruch des Meeres herüber. Fiona atmete tief durch und machte sich auf den Weg zurück zum schwarzen Strand. Der Sand fühlte sich kalt an, als sie ihn berührte, aber diesmal ließ sie ihn durch ihre Finger rieseln. Weiß, schwarz – er war einfach Sand. Und das war genug.