Dorfschule Seefeld- - Surfende Kühe
Peter war so etwas wie der inoffizielle Ratgeber für das alltägliche Leben in St. Georg. Ob es um die besten Kneipen, die günstigsten Friseure oder den ultimativen Waschsalon ging - Peter wusste Bescheid. „Wenn du Wäsche waschen musst, geh ins Express Center am Hansaplatz“, hatte er Anders geraten. „Die Maschinen dort können wahrscheinlich sogar dein Leben wieder in Ordnung bringen, wenn du lange genug drin bleibst.“
Und so machte sich Anders an einem verregneten Dienstag auf den Weg dorthin, in der Hand seine Surftasche, die ihn irgendwie immer wieder in die Vergangenheit katapultierte. Die Tasche war schwarz, etwa 80 cm lang, hatte zwei Griffe und erinnerte in ihrer Form auffallend an eine überdimensionale Zigarre. Sie war ein treuer Begleiter, obwohl das, was sie einst beherbergte, längst nicht mehr Teil seines Lebens war. Sie war ein Relikt aus einer Zeit, die weit zurückzuliegen schien, und doch war sie immer noch da - wie die Geister der Vergangenheit, die man nie ganz abschütteln kann.
Anders dachte an die Anfänge zurück, als alles mit Ulf begonnen hatte. Ulf, dieser etwas schräge Typ, der in der ehemaligen Dorfschule Seefeld in Hamburg-Kirchwerder wohnte, nur weil das Verhältnis zu seiner Mutter, der Landärztin, kompliziert war. Sie kannte jeden im Dorf und jeder kannte sie. Aber das bedeutete, dass sie kaum Zeit für ihren Sohn hatte. Statt Zuneigung gab es Geld und Vitamin B. Und so lebte Ulf in dieser Dorfschule - einer seltsamen, skurrilen Zeitkapsel. Die Tische und Bänke waren fest zusammengeschraubt, als hätte sich seit dem Zweiten Weltkrieg niemand mehr um die Einrichtung gekümmert. Wenn Anders diese Klassenräume betrat, fühlte er sich wie ein Museumsbesucher.
„Hier spürt man die Geister der Vergangenheit“, hatte Ulf einmal gesagt, während er mit einer alten Kreidetafel hantierte, als wäre sie ein Kunstwerk. Aber Ulf hatte mehr als Geister und Kreidetafeln - er hatte auch das erste Windsurfbrett weit und breit. Das Brett befand sich in einem Kuhstall am Ortkartensee, nur wenige Meter von der Elbe entfernt. Dort lernten sie das Windsurfen, ließen sich von den Böen über das Wasser treiben und fühlten sich so frei, als könnte die Welt nicht größer sein. Und die Kuhscheune? Nun, sie hatte eine besondere Note: Alles, aber auch wirklich alles, roch nach Kuh. Die Surfausrüstung, der Neoprenanzug - der Geruch haftete ihnen an.
Das einzige, was Ulf noch fehlte, war ein Moped. Die alte Dorfschule lag ein gutes Stück vom See entfernt, und der Wind, der in der Gegend herrschte, schien beim Radfahren immer von vorne zu kommen. „Verdammt, dieser Wind hasst mich“, schimpfte Ulf oft.
Während Ulf davon träumte, eines Tages ein Moped zu besitzen, hatte Anders das Glück, sich eines zusammensparen zu können - mit allen möglichen Jobs, die er finden konnte. Vom Zeitungsjungen bis zum Tellerwäscher hatte er alles gemacht, nur um sich diesen Traum zu erfüllen. Und so fuhren sie gemeinsam, Ulf auf dem Sozius, durch die flache Landschaft in Richtung Ortkartensee. Das Moped brüllte tapfer gegen den Wind an, der in dieser Gegend immer besonders stark blies, als hätte er es persönlich auf sie abgesehen.
Mit der Surftasche in der Hand musste Anders schmunzeln, als er an ihren einzigen Neoprenanzug dachte. Es war ein dünner Anzug, der aus einer Jacke und einer Hose bestand, die sie sich teilten. Wenn einer ins Wasser ging, musste der andere warten - manchmal mit klappernden Zähnen vor Kälte. Sie hatten keinen Lehrer, keine Anleitung, nur ihren Mut und grenzenlosen Optimismus. Ihre ersten Versuche auf dem Brett waren chaotisch, nasse und kalte Stürze ins Wasser waren die Regel. Immer wieder kämpften sie sich zurück, bis sie schließlich den Wind erwischten und wie von Zauberhand über das Wasser glitten.
„Kannst du das glauben?“ hatte Ulf einmal gerufen, als er über den See fuhr, das Wasser unter seinem Brett schäumend, den Wind in den Haaren. „Wir haben es geschafft!“
Es war dieser Moment, der Anders geblieben war - das Gefühl, den Wind gebändigt zu haben, die Freiheit auf dem Wasser, der Triumph über die Elemente. Und jetzt, viele Jahre später, führte ihn sein Weg nur noch zum Waschsalon, aber irgendwie spürte er immer noch den Wind im Rücken, den Geruch des Kuhstalls in der Nase, die Wärme des geteilten Neoprenanzugs auf der Haut.
Als Anders schließlich am Hansaplatz ankam, lächelte er bei der Erinnerung an diese Tage. Es war seltsam, wie die kleinsten Dinge - wie eine Surftasche auf dem Weg zur Wäscherei - einen in die Vergangenheit zurückversetzen konnten. Er stieß die Tür des Express Centers auf, das Geräusch der Waschmaschinen erfüllte den Raum, und für einen Moment glaubte Anders, wieder das Rauschen des Windes auf dem See zu hören
„Vielleicht“, dachte er, „ist das Leben eben doch nur ein Kreis. Ein verdammt wilder, windiger Kreis.“