Die Hüter
Tagebuch
von beneelim
Ich weiß nicht, ob irgendjemand dies hier jemals zu lesen bekommen wird und ich will es mir auch nicht wünschen, denn meine Worte sind Zeugnis eines Grauens, das unentdeckt bleiben sollte.
Doch habe ich nicht die Zeit, solche Gedanken zu wälzen. Wer sich in die Mühsal begibt, meine Geschichte zu entziffern, sei mir gnädig; die Furcht gibt meiner Hand eine schreckliche Schwere und treibt doch die Zeilen voran. Die Fenster sind schwarz von der Plage, die mir ans Leben will.
Ich will sie so nennen, wie sie mir erscheinen, stets eingedenk meiner Unfähigkeit, das Gräuel in ein tatsächliches Bild zu fassen.
Motten, größer als Tauben, belagern meine Hütte, und ich weiß keinen Weg sie zu befrieden, denn mit meinem Blut. Ihre Flügel sind die schwirrenden Blätter der Bäume und ihre Beine, tastend, rasend, sind der Schritt des Windes durch die Waldkronen. Nur leblose Kälte verbleibt unter den Sohlen.
Vor der scheußlichen Herrlichkeit der großen Alten schwöre ich: ich konnte mur weniges von alledem ahnen, und was ich jemals gewusst zu haben meinte, ist von keinem größeren Wert denn der schwindende Glanz des Mondes am Spiegel des Sees, dessenthalben ich in diese Einöde gekommen bin. Ich erzähle geschwind, denn das Licht wird schwächer und mein Ende behängt schon die Finger der Lebensuhr. Die Gier der Bezwinger treibt Sprünge in das verschleierte Glas, der Raum zieht sich bedrohlich zusammen um mich.
Und der See: namenlos soll er bleiben und mein Leib das letzte Mahl seiner Hüter. Ich entsinne mich keiner größeren Narretei, als mein Entschluss es war, ihn aufzusuchen.
Hört also zu.
Die Arbeit an meinem Roman stockte schon seit Monaten und der Verlag wollte meinen Argumenten kein Gehör mehr schenken; heute, wäre es mir nur etwas weniger einerlei, ich zögerte nicht, sie als Ausreden zu entschleiern. Von diesem unseligen Ort, den ich nicht mehr verlassen werde, hatte ich durch meine Recherchen erfahren, die ich bereits meinem letzten Werk „Der Fraß“ hatte angedeihen lassen. Über vielerlei Ecken erhielt ich Zugang zu einer Abschrift des verdammungswürdigen Buches Eibon, und ich will die Freunde und Bekannten mit in meine Gebete schließen, welche mich unter vorgehaltenen Händen und dringendstem Abraten an das noumenonische Antiquariat in Lübeck verwiesen haben. Möge die Dunkelheit aus ihren Augen weichen, wenn auch alle Hoffnung nicht mehr als ein Schimmern im Abgrund meines Herzens zu sein vermag.
Und das Geschehene ist schon dem Stein der Historie aufgeprägt und nun, mit dem Rücken zur Wand, buchstäblich, wird mein tückischer Irrtum offenbar.
Der Alte, der mir den falschen Samt, welcher die Teufelsschrift verbarg, übergab, fand wenig mehr Worte, als den Rat, mich an die Heiligen zu überantworten. Welch ein Tölpel! In seinem bis an die Dachschindeln vollgepackten Laden konnte er kaum ahnen, wie nah an sein Wort ich mich noch halten würde – denn diese Kreaturen, von deren Flügeln aus Schatten und Rauch mich nur mehr morsches Holz und brüchige Scheiben trennen, so widerwärtig ihr Schrillen auch an mein Ohr dringt und so betäubend der Gestank ihrer weichfleischigen Leiber auch meinen Geist durchtränkt, sie wollen mir mehr als die Höllengeburten erscheinen, welche sie letztlich sind. Etwas vorzeitlich Mächtiges begleitet ihren Flug, eine Legende, die uns düster und herrlich entgegenblickt aus den Mausoleen der Geschichte. Byzanz, die Große, Kampfumtoste, war kaum mehr als eine Fischersiedlung auf schlammigem Grund, da dieses Unsagbare schon sein Licht verhaucht hatte, und als sich das geheimnisvolle Tikal erhob, muss es bereits begonnen haben, sich in Vergessenheit zu hüllen.
Nächte über Nächte verbrachte ich also über dem kryptischen Eibon, drang in den Text vor wie Humboldt einst in seine Höhlen, und wo sich die eine Blasphemie zu verschweigen begann, da tat sich schon die nächste auf, um ihre kakophonen Silben über meinen erschütterten Blick zu speien; ich las von den beseelten Pilzen des Yuggoth und ihrem Krieg hier auf Erden, las von Dagon und seinen ekligen Kindern und dem Kult ihm zu ehren, der vom verfluchten Innsmouth aus in die moderne Welt getragen worden war, ich erschauerte über die valusischen Gesänge aus Lemuria und versank tief in den Fluten, die das zyklopische R’yleh verbergen, wo das tentakelnde Grauen schläft bis zu seinem Tag.
Auf diesen Ort, mein Grab, stieß ich mehr durch Zufall, wobei mir nunmehr kein Wort unserer machtlosen Sprache wohl kindlicher erscheinen mag als jene Ansprache des Unvorhergesehens; denn wie will ich weiterhin leugnen, dass jedes Ereignis mit einem unbegreiflichen Plan unterlegt sei? Lasst mich euch sagen: hier soll weiter kein Satz geschrieben stehen, der das Ziel meiner Reise in den Norden genauer verriete, denn nur, wenn sicher gestellt wurde, dass keine Karte um die Koordinaten des einsamen Sees weiß, kann die Welt in Frieden weiter bestehen – in Frieden und blind, wohlgemerkt, doch ein trübes Auge erinnert nicht und lebt. Mehr soll nicht sein.
Es war denn nicht so, dass dieser Entschluss mir behagt hätte, und doch versprach ich mir viel von meinem Unterfangen und dem Vorantreiben meiner Arbeit. Das Thema des Manuskriptes, welches mir nun kaum gleichgültiger sein könnte, drohte bereits, mir zu entgleiten, und ich war überzeugt, dass ich es bald unwiederbringlich verloren hätte. So hatte ich das untrügliche und nicht zu verleugnende Gefühl, meine „Nekromantischen Studien“ – so der vorläufige und wohl etwas hochtrabende Arbeitstitel – dürften unter dem Einfluss dieser verderbten Umgebung einen entscheidenden Durchbruch erfahren.
In der kommentarhaften Erwähnung im „Eibon“ war keine direkte Wegbeschreibung enthalten – wer hätte derartiges auch erwarten wollen? - und doch vermochte ich, aus der sicherlich nicht beliebigen Verschränkung mit dem Text über die zweite Erscheinung Hyperboreas, meine Schlüsse zu ziehen. Der „alte See“, das Ziegenbett und Lager der hautlosen Herren, der blutende Wald. Vieles an Prüfung, an Rücksprache und Nachlese bedurfte es, doch letztendlich entließen die Chiffren ihr ghoulisches Geheimnis. Und nur zwei Tage später war ich am Weg.
Sie werden ungeduldig. Ich weiß, ich weiß. Brut des Lloigor, Zornige der gestürzten Hoheit, sie drängen, sie wühlen, zerschneiden einander die gallerten Bäuche im tobenden Sturm auf mein Fleisch. Der Runenkreis bricht, die Flut zäumt sich. Weh mir! Kein okkulter Spruch, den ich gestern getan, wird die vaterlosen Kreaturen jetzt noch halten. In die schwindende Zeit, die vor mir in den Schatten bricht, drängen so viele Worte und so viel versiegt ungefärbt in meiner Feder.
Weiterer drei Tage bedurfte es, bis ich fündig wurde, man verwies mich an unverzeichnete Dörfer und Siedlungen, schickte mich durch straßenlose Wälder und durch Schluchten, von denen niemand ahnen würde, dass sie unser Kontinent noch in seinem ausgemessenen Leib trägt. Ominöse Gestalten antworteten nur zögerlich auf meine Fragen, nachdem ich sie in finsteren Gassen aufgespürt hatte, über denen sich die Häusergiebel einander entgegenlehnten, verwittert, bedrohlich.
Doch dennoch, letztendlich. Die Nacht meiner Ankunft war sternenklar und mild, und doch schob sich, kurz bevor ich den Wald durchbrochen hatte, ein Schleier, nebelhaft und von Übelstem flüsternd, vor meine Sinne. Ich kehrte nicht um.
Und so ist es nun eine Woche her, dass mein Fuß diesen heillosen Boden betreten hat, und auch, wenn es dem, der sich durch diese Zeilen zwingt, keinen Anhauch von Begreifen zuteil werden lassen kann, will, ja muss ich noch bezeugen, hier und am Grat meines Entschwindens wankend, was ich sehen und erleben musste. Anfangs hielt ich mein Unbehagen noch im Zaum; mit nichts anderem hatte ich ja gerechnet, denn mit dieser fahrigen Beklommenheit. Der See, den ich von meiner Hütte aus – wer nur hatte sie erbaut? Ich fand keine Hinterlassenschaft, kein Zeichen früherer Bewohner – über einen faulenden Steg erreichen konnte, stank wie hundert verschwiegene Zeitalter. Ein wabernder Dunst hing allezeit über ihm, als wollte ihm die kaum erreichbare Abgeschiedenheit nimmer genügen. Der besagte Steg erwies sich denn auch als einziger Zugang zum Wasser, doch da er bereits trügerisch tief sich dorthin neigte, wovon er sich eigentlich fern halten sollte, wagte ich erst nicht, ihn zu betreten. Im Laufe der wohl unzählbaren Jahre seines Bestehens mussten die Pfeiler, die ihn trugen, unter der sabbernden Umarmung aufgeweicht sein. Und doch ging mir vom ersten Schritt, den ich in diesem zauberhaften Jammertal gesetzt hatte, ein merkwürdiger Ruf ans Herz, ein wehmütiger, klagender Befehl, unter dem meine Haut sich kräuselte und mein Haar sich wohlig sträubte. Das, was wohl einst ein Ufer gewesen war, breitete sich vor mir aus als sumpfige, verseuchte Gestade, die gewiss nichts, was ihr einmal in die schleimige Tücke geraten war, je wieder freigeben würde. Im Dämmerlicht und später, nachts, wateten plump und platschend, unförmige, krötenartige Geschöpfe darin umher und schleuderten ihre Zungen nach handtellergroßen Insekten, welche mir, ohne nach Überprüfung getrachtet zu haben, als abstoßend artzwittrige Libellen oder Heuschrecken erschienen. Jeweils knapp um die Mitternacht hoben die monströsen Unken einen Choral von absonderlichem Gequake an, und wie die Tage vergingen und die furchtbaren, himmlischen Nächte mich umhüllten, wollte ich bald die Einbildung nicht mehr abschütteln, ich entnähme diesen vorweltlichen Klängen eine sinngeleitete Unterhaltung.
So kam die Nacht, aus der ich zerrüttet und verloren entstiegen bin, die Nacht und der Tag, dieser Tag, der ihr ein würdiges Kind wurde, und der nun mein Ende sehen wird. Iä. Yndrai kal durshi Lloigor. Der Verfluchte, der Verbannte, den die Äußeren aus dem Zahyr und ihren Geschwistern verwiesen haben, er hat sein Haupt der acht Sonnen geschüttelt und er ließ seine Kinder zurück und er war dahin. Niemals und nirgends ein Mensch, der es zu sehen begehrt.
Ich hatte meinem Manuskript, diesem albernen Vorwand für meine Reise, nicht einen vernünftigen Satz hinzu gefügt, als ich endlich entschied, meiner furchtsamen Neugier nachzugeben, und den holprigen Sprossen des Steges zu folgen, einerlei, ob sie mir standhalten würden oder nicht.
Denn wieder sangen die Kröten ihr wunderliches Lied, und wieder war es mir, als würden sie sich zu irgendeiner fremdartigen Beschwörung versammeln. Im fernen Wald auf der unerreichbaren anderen Seite des Sees vernahm ich, schwach, zaghaft zu Beginn, eine Antwort von Zirpen und Rauschen. So stolperte ich im kraftlosen Schein meiner Taschenlampe den abschüssigen Steg entlang. Hoch und scharf stand die geneigte Mondsichel über den Baumkronen, und erst, als das verdorbene Wasser meine Schuhe bereits beleckte, hielt ich inne und folgte atemlos dem begonnenen Schauspiel. Vom jenseitigen Wald löste sich ein Schatten, ein schwarzer Fleck in der Schwärze, der sich an seinen Rändern ausfranste und wieder zusammenfügte und stets dabei nach vorne schob, in Richtung Südwesten, an das schlammige Ufer. Dort kroakten die Kröten nun fordernder und lauter. Es war, als würde ein schlecht aufgeblasener Ball unter einer pechfarbenen Decke dahingeschoben und mit einem Mal brach der Klumpen von Nacht in das seidene Mondlicht von Sonne und Sterne und ich erkannte, dass es sich hier nicht um ein ganzes, geschlossenes Ding handelte, sondern um einen Schwarm von Vögeln. So glaubte ich zumindest, denn jedes einzelne dieser unfassbaren Individuen hatte eine Größe, die andere Schlüsse nicht zulassen wollte.
Mit schwirrenden, tanzenden Flügeln erreichte die widerwärtige Brut ihr Ziel, und als sie bei dem Ufer innehielt, schwebte sie eine Weile unbewegt über den intonierenden Kröten. Dann erfasste die gräulichen Akteure ein Zittern, und sie schlugen mit ihren Flügeln einen eigenen Klang an; eine Antwort und einen Kontrapunkt zur Melodie derer, die sie anscheinend gerufen hatten.
Und das Absonderlichste geschah nun: dies war auch der Moment, da sich mir enthüllte, dass ich es hier niemals mit Vögeln zu tun haben konnte. Aus dem wimmelnden Treiben am Ufer löste sich eines der Wesen, die ich als eine Sperlingsart identifiziert hatte, und hielt Kurs auf mich. Ich löschte mit einem entschlossenen Griff meine Taschenlampe und hätte mir auch das Atmen verboten, wenn dies meinem Willen unterlegen wäre, und von einer grotesken Mischung aus Lähmung und Faszination übermannt, blieb ich dort am Ende des Steges stehen, als kannte ich keinen anderen Ort auf der Welt. Eine Armlänge von meinem Gesicht entfernt machte die geflügelte Teufelei halt und ich schwöre beim letzten Funken heilen Verstandes, der noch unter meiner Schädeldecke mit dem Verlöschen ringt: Ich sah da vor mir in diesem unirdischen Licht, in das der Mondschein zerfiel, da er auf den quellenden Nebel des Sees traf, eine Kreatur, die sich aus eigener, dämonischer Kraft Einlass in die Schöpfung verschafft haben musste. Ich nannte sie Motten, als ich meinen Bericht begann, und ich will nun, da es vorbei sein soll mit mir, nicht um Namen feilschen; es hatte ledrige, glänzende Flügel, länglich und zweifach an jeder Seite aus dem Rücken gewachsen, die brausten und flatterten und trugen einen grotesken, gurkenförmigen Leib, von dem gliederlose Beine wie belebte Schläuche windend und zuckend herabhingen. War der Rücken wohl aus etwas gestaltet, das sich mit dem insektoiden Chitin vergleichen ließe, so war das Ding bauchwärts transparent und blaudunkel schimmernd; etwas wie Gedärme zeichnete sich in wilder Peristaltik gegen die membranartige Haut. Aber mein Elend wuchs erst ins Unermessliche, als ich meinen Blick auf den Kopf lenkte; denn unter drei dornenbewehrten Fühlern reckte sich mir ein Gesicht entgegen. Wohl hatte es keine Augen oder anderen Sinnesorgane dort exponiert, doch etwas war ihm in die schauderhafte Fratze gezeichnet, was ich nicht mehr vergessen kann. Diese „Motte“, dieses ursprungslose Geschöpf aus der Zeit, da andere Mächte als Feuer und Wind den Felsen formten, auf dem wir uns blind von einer Nacht in die nächste drehen, schenkte mir mit fein geschwungenen Lippen ein Lächeln. Ein Lächeln, dem nichts Boshaftes anhaften konnte, da es so endgültig war. Und als das Geflügelte zurückkehrte zu seiner Sippe, die noch immer tanzte und schwirrte und den Kröten immer neue Strophen und Weisen auftrug, war mir klar, so klar, als wäre es bereits in meine Wiege eingraviert gewesen, dass ich des Todes bin. Hier lag vor meinen schon nassen Füßen der alte See, den Lloigor seinen Kindern gegraben hatte, bald, nachdem das erste Land und das erste Wasser voneinander geschieden waren, und hier war kein Ort, den ein Mensch begehen durfte. Das hatte ich gelesen, damals, vor wenigen Tagen, und das hatte ich lächelnd zwischen den Buchseiten zurückgelassen; nun kehrte es wieder als mein Schicksal.
Ich sprach noch einen Schutzbann aus dem Eibon, doch die Mächte, die Lloigor widerstehen, sind ferner als die Quellen der Nacht und nicht weniger tückisch als er. Der Morgen graute, der mich in dieser verriegelten Hütte wiederfand; alles, was ich nur finden konnte an Mobiliar stemmt sein hölzernes Gewicht gegen Türen und Fenster und der Kamin ist versiegelt. Die Scheiben im Schlafzimmer sind am wenigsten gesichert, und dort höre ich schon, wie das Glas knirscht und die Rahmen ächzen. Noch führe ich diesen Stift, noch bricht das Rauschen ich sehe sie
lächeln