„Aber was ist das alles gegen meine alte Lieblingsgeschichte von ihm“, schreibt Tucholsky: Durch das Schlüsselloch eines Lebens – hat er sie genannt. Ich wusste jahrelang ganze Absätze daraus fast auswendig. Seine Geschichte ist so: Ein Mann geht, um sich seinen Burgunderkopf auszulüften, morgens durch die Vorstadt aufs Land – geht spazieren und sieht sich jene vermiekerte Gegend an, wie sie so um die Großstädte zu sein pflegt: nicht mehr Stadt und noch nicht Land, aber von beiden die schlechten Eigenschaften. Und findet da im Schnee ein kleines Damen-Notizbuch. Die Adresse steht drin. Auch Bleistiftnotizen: »Graf Naschauer – Perlgürtel – Puderdose – Bahnhof – vier Uhr Kaiserplatz kleiner Schwarzer – Rezept Hirschpastete – ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie – Baron von Biegemann, Frankfurt am Main, Taunusstraße 7« und, na ja,
was so in einem Damen–Notizbuch steht. Und weil der Mann müde ist und etwas sucht, was ihn aufrütteln könnte, geht er in die Wohnung dieser Dame. Sie ist ausgegangen. Und der Mann sieht sich nun einen dämmerigen Winternachmittag lang alle Sachen in dieser Stube an, die Bilder und den Kanarienvogel und die Bücher und Fotografien und rätselt so herum … einmal taucht er auch das Gesicht rasch in einen Stoß weicher Spitzenhosen, die da auf dem Bett liegen – »trat aber doch darauf schnell und verlegen zurück«, heißt es im Text. Und blättert in Büchern, die ihm fremd sind, und blättert in einem Leben, das ihm so nahe ist, und sieht, wie dieses Damenleben abwärts gegangen ist, und überblickt, wie es weiter abwärts gehen wird … und weil man aufhören soll, wenns am besten schmeckt, geht er leise aus dem Zimmer und zieht die Tür hinter sich zu.
Wer hat so viel Achtung und Liebe vor fremdem Leben wie dieser Ringelnatz, vor der fremden Fülle, der Wichtigkeit der andern, den Mikrokosmen der andern?“ fragt Tucholsky.
Joachim Ringelnatz, der kleine Mann mit der großen Nase und den zahllosen Berufen, dem bei aller Herzenseinfalt nichts in dieser Welt heilig war – er war aus tiefster kindlicher Seele ein Vagabund. Ein Streuner. Ein Schlüssellochgucker, den es herumtrieb in der Gewissheit, er müsse die ganze Welt nur umarmen, um sie besser zu machen.
Trunkener Abschied von Paris
Herz, ich schreibe dies
In der letzten Stunde in Paris,
Aus der letzten Flasche echt Champagner
In dem Negre de Toulouse,
Nicht so froh, wie ich zuvor aus mancher
Unsentimentalen Stunde sandte manchen Gruß.
Dass ich hier nicht länger durfte bleiben,
Lässt glückstraurig jetzt mich selber quälen.
Morgen aber werd ich frech erzählen
Und deutschabenteuerlich viel übertreiben,
Wie von einer sternenweiten Ferne,
Wie Paris mir ist – ach nein, dann war –.
Denk dir nur: Jede siebente Laterne
Hier ist ein naives Pissoir.
Unsympathisch, unergründlich
Comme chez nous ist die Bourgeoisie,
Doch die simplen Leute von Pari
Und die Künstler und die bunten Fremden,
Pascin, Eiffelturm und der und das und die –
Morgen, Liebste, schildre ich das mündlich.
Und die Strümpfe und koketten Hemden.
Zwar nach einundzwanzig Bummeltagen
Ist noch nichts Erschöpfendes zu sagen
Über dies
Dies Paris.
Auch was ich dir morgen angter nus
Glühend loben werde, prüfe dus.
Prost!
Und bums! Ein Glas zerschlug im Nègre de Toulouse.
Es ist der reine Unsinn.
In Paris war er, in Dresden war er auch:
Die Stadt macht einen ganz barock. (schreibt er an Muschelkalk)
Bemerkenswertes kennst du ja aus Bildern
Und Büchern. Warum das noch schildern –
Ich habe Angst, hier zu verwildern.
Fort! Tausend Dank den Dresdener Verehrern!
Doch fort von Dresden! Meine Sehnsucht weht
Nach einer Stadt, die nur aus Oberlehrern
Und aus Gemütlichkeit besteht.
Auch in Bielefeld war er.
Marter in Bielefeld
Es war in Bielefeld so bitter kalt.
Ich sah ein Weib, das nichts als eine knappe
Hemdhose trug. Dass ich erschauerte
Und ihren kalten Zustand heiß bedauerte.
Denn sie war nur Attrappe – Fleisch aus Pappe.
Ich wäre gar zu gern zu zweit gewesen.
Nun stand ich vor der reizenden Gestalt,
Musste herabgesetzte Preise lesen,
Und ach, die Ladenscheibe war so kalt.
Der Frost entlockte meiner Nase Tränen.
Die Dame schwieg. Die Sonne hat gelacht.
In mir war qualvoll irgendwas entfacht.
Es kann kein Mann vor Damenwäsche gähnen.
„Die Sentimentalität ist so hübsch in bunten Teig eingebacken“, urteilt Tucholsky, „dass man sie nur ganz leise im Nachgeschmack hat – und was geradezu erstaunlich ist, das ist das Auge und das Ohr des Autors. Er hört noch die Schwingungen, die in den Pausen zwischen den Worten sind – es entgeht ihm nichts.“
Fortsetzung folgt