Der Professor und ich (tragen die Kaper durch sieben Höllen) II

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Endlich fährt die Achterbahn nach oben, Meter um Meter auf die Spitze zu, hinter der es erst ein gutes Stück nach unten und dann durch den Riesenlooping geht.

„Ist das nicht unglaublich“, rufe ich dem Professor zu, „dass wir Plätze ganz vorne bekommen haben.“

„Ich mag Achterbahnen gar nicht so sehr“, ruft der Professor zurück und sieht dabei irgendwie unglücklich aus. „Ich wäre lieber mit dem Glücksdrachen geritten.“

„Du musst dich treiben lassen“, rufe ich,

„ist doch egal, ob wir heute oder an einem anderen Tag sterben.“

Höher und höher geht es hinauf, inzwischen haben wir fast die Spitze erreicht.

„Ich hab kein so gutes Gefühl dabei“, sagt der Professor leise und rauft sich dabei die Haare, was er sonst nur in Momenten größter Aufregung tut.

Seine Stimme klingt so ernst, dass ich lachen muss. Da unten ist doch ohnehin alles weich. Kann er denn die Zuckerwatte nicht riechen?

„Ich weiß gar nicht, wie wir hier hingekommen sind“, sagt der Professor.

„Eben waren wir ja noch in deiner Wohnung“, sagt er und dann:

„Und ich glaube mich auch zu erinnern, dass wir das Sofa auf den Balkon getragen haben.“

„Das ist doch alles Quatsch“, sage ich, „riechst du denn nicht die Zuckerwatte? Wo gibt es denn bitte sonst Zuckerwatte, wenn nicht auf den Jahrmarkt? Und wo stehen gemeinhin Achterbahnen?“, frage ich und antworte direkt selber: „Na, auf dem Jahrmarkt.“

Ganz nah sind wir jetzt an der Kante, doch irgendetwas stimmt nicht, der Wagen bleibt einfach stehen. Wir hängen fest.

„Du hast es kaputtgemacht“, sage ich zum Professor, „durch deine elenden Zweifel hast du es kaputtgemacht. Eben ist es noch ganz problemlos gefahren.“

„Ich hab gar nichts gemacht“, ruft der Professor.

Und dann habe ich eine Idee: Wenn ich jetzt aussteige und dann breitbeinig über die Schienen hinunterlaufe, müsste ich auch ohne Wagen schnell genug werden, um es durch den Looping zu schaffen.“

„Wir könnten auch laufen“, sage ich zum Professor und öffne den Sicherheitsbügel, um aus der Achterbahn zu steigen.

„Warte“, sagt der Professor und erzählt dann ganz unvermittelt:

„Es war einmal ein kleines Reh, das in der Nähe eines Abgrunds wohnte.“

„Wie hieß das Reh?“, frage ich den Professor und vergesse für einen Moment die Achterbahn.

„Das Reh hieß Simon“, sagt der Professor.

„Der Name gefällt mir nicht“, unterbreche ich ihn.

„Dann hieß das Reh eben Sokrates. Sokrates, der Kleinere.“

„Das ist ein guter Name für ein Reh“, antworte ich, „ein Reh braucht einen guten Beinamen.“

„Eine Morgens fraß also das Reh Sokrates, der Kleinere, auf einer Wiese aus Versehen ein paar Pilze, die über Nacht dort gewachsen waren. Da das Reh, Sokrates, der Kleinere“,

hier muss ich lachen, weil der Name so gut passt,

„hör zu“, sagt der Professor,

„da Rehe Pilze nicht vertragen, wurde ihm ganz übel und auf einmal sah es Dinge, die gar nicht da waren. Der Abgrund, vor dem es sich immer gehütet hatte, erschien ihm auf einmal wie ein See, in dem es gerne baden wollte.“

„Oh nein“, sage ich, „er wird in den Abgrund stürzen.“

Sokrates, der Kleine, war in großer Gefahr“, sagt der Professor und schweigt.

„Und“, frage ich nach einer Weile, weil ich die Spannung nicht aushalten kann.

„Was ist mit ihm passiert? Hat er rechtzeitig erkannt, dass der See ein Abgrund ist?“

Wieder schweigt der Professor und sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht verstehe.

„Wir sind das Reh“, sagt der Professor, „wir schreiben diese Geschichte.“

Und plötzlich begreife ich, dass es nur unser Gewicht ist, welches das Sofa in diesem Moment davon abhält, gemeinsam mit uns über die Balustrade zu rutschen und vier Stockwerke tiefer dort unten zumindest zwei oder drei Passanten zu erschlagen. Wir sind in großer Gefahr.

Vorsichtig klettere ich von der Brüstung zurück, vor der ich auf einmal Angst habe. Manche Abgründe haben einen so starken Sog, dass sie einen immer noch überwältigen können,

selbst wenn man sie erkannt hat.

Dann sitze ich eine Weile regungslos dort und warte bis der Schreck verschwunden ist.

„Sollen wir das Sofa wieder reintragen?“, frage ich den Professor, als es mir besser geht, doch er ist eingeschlafen, hat sich ganz am Ende des Sofas eingerollt und liegt dort wie in einer kleinen Höhle. Mit seinem bloßen Gewicht und mit seiner Geschichte hat er unser Leben gerettet, denke ich, und bin voller Dankbarkeit, als ich mit Riesenkräften das Sofa wieder in die Wohnung zerre.

Dann hole ich eine Decke, damit dem Professor nicht kalt wird.

„Jetzt ist es eine richtige Höhle“, sage ich voller Zärtlichkeit zu ihm, als ich die Decke über ihm ausbreite. Dann zieht es mich auf einmal in die Küche, weil ich eine Idee habe, wie man aus einfachem Zucker Zuckerwatte machen kann.


Als der Professor erwacht, ist es bereits dunkel.

Ich habe mich auf den Boden des Balkons gelegt und betrachte die Sterne, die immer wieder für ein paar Momente zwischen all den Wolken sichtbar sind. Irgendwie ist es traurig, dass sie so weit weg sind, dass ihr Licht länger als ein Menschenleben braucht, um uns zu erreichen.

Das kann einen richtig melancholisch machen.

„Das war mein Kreislauf“, sagt der Professor und setzt sich zu mir auf den Balkonboden.

„Siehst du das Riesenrad?“, frage ich und weise auf die bunten Lichter, die in der Ferne leuchten,

„Ich war mir so sicher, dass das ein Looping ist“, sage ich und reiche ihm eines meiner Essstäbchen, die mit Zuckerwatte umwickelt sind.

„Möchtest du etwas Zuckerwatte?“

„Wo hast du die denn her?“

„Ach“, antworte ich, „ich habe eine Anleitung im Internet gefunden. Die nennen so was Lifehack.“

„Erstaunlich“, sagt der Professor und betrachtet die Zuckerwatte eine ganze Weile lang, bevor er sie probiert.

„Es war letztendlich komplizierter als gedacht“, sage ich, „ich brauchte eine ganze Menge an Bauteilen und es hat auch eine Weile lang gedauert.“

„Wie lang habe ich geschlafen?“, fragt der Professor und probiert die Zuckerwatte.

„Sechs oder sieben Stunden, denke ich“, sage ich, „Ich habe sehr konzentriert gearbeitet. Alleine das Auseinanderbauen der Bohrmaschine hat bestimmt eine gute Stunde gedauert.“

„Lecker“, sagt der Professor, „schmeckt wie Zuckerwatte.“

„Meinst du die Pille wirkt noch?“, frage ich, als ich auf einmal wieder die kleinen Glöckchen höre, unzählige kleine Glöckchen.

„Hörst du das?“, frage ich den Professor,

der langsam nickt: „Ja“, sagt er: „Irgendwo spielt jemand wohl eine Oboe.“

Und dann: „Wenn wir Frösche wären, könnten wir in diesem Takt von Seerosenblatt zu Seerosenblatt springen.“

„Das meine ich nicht“, sage ich, „ich meine diese vielen kleinen Glöckchen.“

„Der Professor hat recht“, sagt in diesem Moment Atreju,

„das Nichts breitet sich noch immer aus.“

„Aber das hat er gar nicht gesagt“, sage ich zu Atreju,

„er meinte doch, dass er gerne von Seerosenblatt zu Seerosenblatt springen möchte.“

„Das war doch eine Metapher“, sagt der Professor nun sehr ernst.

„Es ist doch offensichtlich, dass zwischen den Seerosenblättern das Nichts ist.“

„Der Professor hat recht“, sagt Atreju noch einmal und dann weist er mit der Hand in Richtung des Horizontes, „was siehst du?“, fragt mich Atreju und da ich genau dort, wohin er zeigt, nichts Besonderes erkennen kann, antworte ich „nichts“ und begreife in diesem Moment:

Das Nichts ist bereits bis an die Stadtränder vorgerückt und droht die gesamte Stadt zu verschlingen.

„Warum hast du nicht vorher schon etwas gesagt?“, frage ich den Professor, weil es mir nicht gefällt, dass er und Atreju Geheimnisse haben.


„Wir könnten ein Orakel bauen“, sage ich zum Professor, „so könnten wir uns erst einmal einen Überblick über die Situation verschaffen.“

Und dann, zu Atreju: „Und musst du nicht längst im Bett sein?“

„Lass doch den Atreju in Ruhe“, sagt der Professor, doch man merkt seinem Blick an, dass er gedanklich mit etwas ganz anderem beschäftigt ist:

„Diese Pillen, die wir genommen haben, du meintest ganz am Anfang, dass man nicht zu viel davon nehmen darf, weil sie stark seien.“

Ich nicke langsam, weil ich ahne, worauf er hinaus will.

„Wir haben bislang aber nur eine davon genommen“, ergänzt er und klingt dabei ein wenig so, als würde er einen Vortrag halten.

„Wenn dir der junge Mann geraten hat, nicht zu viel zu nehmen, hast du wohl mehr als zwei gekauft?“

Ich nicke langsam.

„Ja“, sage ich, „ich habe zehn gekauft, weil ich ja nicht wusste, ob sie wirklich stark sind. Alle sagen ja immer, dass etwas besonders stark sei, du kennst das.“

„Dann haben wir ja noch acht“, sagt der Professor und lächelt dabei erfreut, „und da ich ja meinte, dass ich klar bleibe, rate ich uns, dass wir auf keinen Fall alle acht auf einmal nehmen sollten.“

„Ich weiß nicht“, sage ich, „ich habe das Gefühl, dass du das alles nur sagst, um jetzt noch eine von den Pillen zu nehmen.“

„Da kennt mich aber jemand gut“, sagt der Professor und lacht.

„Ich mag dich nicht“, sagt Atreju zu mir, „aber du bist lustig.“

„Dieser Atreju geht mir ziemlich auf die Nerven“, sage ich zum Professor.

„Ich traue ihm nicht, weil er diese Gesichtsfalte hat, an der man in den Filmen immer die Bösen erkennt.“

„Gib ihm doch einfach etwas von deiner Zuckerwatte“, sagt der Professor.

Ich zögere, weil ich nur noch vier Stäbchen habe, doch dann reiche ich Atreju eine Zuckerwatte.

„Und?“, frage ich, nachdem er vorsichtig probiert hat.

„Es ist sehr süß“, sagt Atreju, „aber ich glaube, dass ich es mag.“

„Du darfst nicht zu viel davon essen“, sage ich zu ihm, „sonst bekommst du Bauchschmerzen.“

„Und?“, fragt der Professor, der noch immer auf eine Antwort wartet:

„Nehmen wir noch eine?“

„Ich weiß nicht“, sage ich, „ich meine, wir haben ja schon einiges erlebt und jetzt grade fühle ich mich ein wenig klarer, selbst mit Atreju komme ich jetzt irgendwie zurecht.

„Das ist aber erst der Anfang“, sagt Atreju, „wenn ihr euer Abenteuer jetzt beendet, wird das Nichts alles verschlingen. Das Schicksal der gesamten Welt liegt in euren Händen.“

„Siehst du?“, sagt der Professor,

„ich weiß nicht“, sage ich,

„vielleicht sollten wir noch ein wenig warten?“

„Warum warten“, fragt Atreju, „die Zeit ist doch relativ. Eigentlich kann man ja gar nichts über sie sagen, außer eben, dass sie fortlaufend ist.“

„Ich denke, dass wir hier transzendentalen Beistand brauchen“, sagt der Professor zu mir, „du hattest von Anfang an recht: Wir müssen ein Orakel bauen.“


Während wir das Orakel bauen, verstreicht die Nacht. Obwohl wir uns einig waren, das Orakel möglichst einfach und zweckdienlich zu gestalten, kommen wir nur sehr langsam voran, da der Professor immer wieder neue und für sich genommen auch außerordentlich gute Einfälle hat, um das Orakel noch weiter zu optimieren, bevor wir es befragen.

„Vielleicht könnte man die Sakralität noch mit einem Hirschgeweih erhöhen“, sagt der Professor und betrachtet dabei den Schürhaken neben meinem kleinen Kamin.

„Vielleicht bin ich gerade stark genug, um das Metall zu verbiegen“, sage ich, weil es wie eine Herausforderung scheint und tatsächlich lässt sich der Schürhaken unter größter Kraftanstrengung verbiegen.

„Du muss aufpassen, dass du dich nicht zu sehr anstrengst“, sagt der Professor.

„Im schlimmsten Fall platzt dir sonst eine Ader in der Stirn. Wer zu stark presst“, sagt der Professor, „bekommt auch schnell Hämorriden.“

Erschrocken lasse ich den Schürhaken fallen und erschrecke dann noch einmal, als er dabei eine der Wohnzimmerfliesen auf dem Fußboden zertrümmert.

„Vielleicht brauchen wir gar nicht noch mehr Sakralität“, sagt der Professor, um mich von der zersprungenen Fliese abzulenken, die kurzzeitig ein großes Potential hatte, um mich sehr traurig zu machen, weil sie nun kaputt ist, unwiederbringlich kaputt.

„Ich glaube, wir können stolz sein“, sagt der Professor,

„dies ist wohl wirklich das schönste mir bekannte Orakel“, sagt er

und jetzt, wo er darauf hinweist, muss ich zustimmen: Es ist wirklich schön geworden.

Wir haben Gewaltiges geleistet.

Bis knapp unter die Decke stapeln sich die Gegenstände, die wir miteinander verbunden haben, weil jeder einzelne für sich eine symbolische Dimension der Ewigkeit repräsentiert. Darum rankt sich wie eine schimmernde Schlange die alte Christbaumbeleuchtung meiner Eltern, wobei ihr Licht genau so ausgerichtet ist, dass es die große Schale in der Mitte mit einem schwarzen Schatten umringt. Es ist genau so, wie wir es uns vorgestellt haben.

„Ich überlasse dir die feierliche Ehre, einen Zettel zu ziehen“, sagt der Professor und ich fühle mich geehrt, streiche mit der Hand durch die Hunderten von kleinen Zetteln, die allesamt so säuberlich, so perfekt gefaltet sind, dann greife ich einen heraus und halte ihn ins Licht, um besser lesen zu können.

„Der Professor hat recht“, lese ich.

„Das ist wohl eindeutig“, sagt der Professor.

„Es funktioniert“, rufe ich, „unser Orakel funktioniert“, weil ich so froh bin, dass sich die ganze Arbeit gelohnt hat.

„Kraft der Bestätigung durch das Orakel entscheide ich, dass wir eine weitere von diesen beigen Pillen nehmen“, sagt der Professor feierlich. „Die zweite wird eh nicht so stark sein, wie die erste, weil sich das Gehirn ja bereits an den Wirkstoff gewöhnt hat.“

Dies klingt alles so plausibel, dass mir nichts einfällt, was ich dagegen einwenden könnte. Schließlich hat ja auch das Orakel gesprochen.

Und wer stellt sich schon gegen ein Orakel?



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