Auf dem Zenit

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Gegen Mittag erreicht der Protagonist den höchsten Punkt des Gebirges und beschließt dort einen Moment zu verweilen und zurück in das Tal zu blicken. Lange und dabei fast liebevoll lässt er seinen Blick dort verweilen, wo er war, wo er gewesen ist, bestaunt den Pfad, den Fluss, die Eichen, die nun Teil seiner eigenen Geschichte sind; er blickt zurück in das Tal und sucht etwas, das mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen ist.

*

Aus einem Haselnussstrauch hat er sich einen Wanderstab geschnitten, der ihn nun stützt, als der Körper schwerer wird, der Aufstieg war mühsam, hat ihm so manche Kraft geraubt. Er beschließt zu rasten und zieht seinen Mantel fester. Die Luft schmeckt so hoch oben nicht nur nach Freiheit, denkt er, und dann, dass er dem Sternenhimmel nie wieder so nahe sein wird.

*

Am nächsten Morgen ist ihm kalt. Schemenhaft erinnert er sich an düstere Träume, das Stolpern durch ein finsteres Labyrinth und die Suche nach etwas, von dem er wusste, dass er es dort nicht finden konnte. Eine sinnlose und dabei gefährliche Suche, von der er doch nicht ablassen konnte, da sie auf eine unverständliche Art wichtig war. Dann war er gestürzt und noch eine ganze Weile
mit gebrochenen Knochen
auf ein Licht zugekrochen,
das mit geradezu boshafter Zuverlässigkeit vor ihm zurückgewichen war.
Er erwacht mit einem Gefühl der Enttäuschung, ihm ist kalt.

*

Ohne dass er darüber nachdenkt, sucht sein Auge das Tal, doch der morgendliche Nebel verbirgt ihm Pfad und Eichen, nicht einmal der Fluss lässt sich in dem trüben Dunst ausmachen; er müsste nun aufbrechen, weiterziehen, Freunde erwarten ihn im nächsten Tal und der Abstieg wird einige Stunden dauern, doch er zögert und weiß dabei nicht warum, hadert, wo es nichts zu hadern gibt, ihm fehlt die Überzeugung für den ersten Schritt und fast muss er über sich selbst lachen, dass er immer noch auf diesem Felsplateau steht und auf den Stab gestützt in den Nebel blickt.

*

Er ist unsicher, wie er sich verhalten soll, der knapp berechnete Essvorrat ist fast gänzlich aufgebraucht, er müsste einfach weitergehen, um alles zu einem guten Ende zu bringen, doch etwas hält ihn zurück, etwas, das er nicht versteht, sein Blick sucht das vertraute Tal und entgleitet immer wieder im Nebel.

*

Er stützt sich auf den Stab und beschließt zu warten, nur noch einige Stunden, bis der Nebel sich ein Stück weit lichtet und er ein letztes Mal den Pfad sehen kann, der ihn auf diesen – höchsten – Punkt geführt hat. Ohne dass er sagen könnte warum, denkt er, dass er wichtig ist, dieser letzte Blick, dieser bewusste Abschied, wartet ab, stützt sich auf seinen Stab, wartet, während um ihn herum die Zeit verstreicht, die Sonne steigt und sinkt und schließlich – da der Nebel an diesem Tag nicht ein einziges Mal aufreißt – hinterm Horizont versinkt. Er verharrt, bis es Nacht und kalt wird, die Temperatur ist stark gefallen, selbst sein dicker Mantel vermag ihn in dieser Nacht nicht mehr zu wärmen.

*

Er träumt, dass er etwas verloren hat, dass er etwas sucht, doch diesmal hat der Zufall ihn im richtigen Labyrinth abgesetzt, er ist ganz nah, irgendwo hinter den Steinwänden verbirgt sich der Verlust und leuchtet derart stark, dass er selbst durch den massiven Fels hindurch ein schwaches Glimmen erkennen kann. In der Finsternis ertastet er die Wand, die sich nach links und rechts bis in die Unendlichkeit erstreckt und er weiß nicht, in welche Richtung er sich wenden soll. Er erwacht schreiend und mit leeren Händen.

*

In der Nacht hat es geschneit und er braucht erst einige Momente, um seine zitternden Beine aus dem Schnee zu befreien, er steht auf und noch bevor er ein Feuer entzündet, sucht sein Blick das Tal, das nicht mehr zu erkennen ist. Der Schnee hat die Konturen verwischt, Pfad und Fluss aus der Landschaft getilgt und die unförmig verklumpt weißen Bäume mit Fremdheit aufgeladen. Alles beugt sich dort unten unter den Schneemassen.

*

Er muss die Augen schließen, weil er den Anblick nicht erträgt, weil er Angst hat, dass das neue Bild das alte überlagern könnte, damit der Pfad, der ihn führte und den die Natur so unbarmherzig ausgelöscht hat, zumindest in seinem Kopf weiterbestehen kann. Jeder braucht doch eine Vergangenheit. Auf einmal packt ihn eine wilde Traurigkeit und weil ihn dort oben, auf dem höchsten Punkt, niemand sehen kann, beweint er für einige Minuten sein Schicksal. Dann entzündet er das Feuer.

*

Er blickt in die Flammen und denkt, dass Menschen wie Flammen sind. Er weiß, dass er sofort aufbrechen müsste, dass der plötzliche Wintereinbruch den Weg erschweren, die Strapazen erhöhen wird. Er hat Hunger und nichts mehr zu essen und das Holz für das Feuer wird nur noch für einige wenige Stunden reichen, die Freunde im Tal werden bereits in heller Aufregung sein und überhaupt gibt es nichts mehr zu sehen, das Tal ist verschwunden und im nächsten Frühling wird es ein anderes sein. Er wird erfrieren, wenn er jetzt nicht aufbricht, und vielleicht ist es bereits zu spät. Er bleibt am Feuer sitzen, er schaut in die Flammen. Menschen sind wie Flammen, denkt er.

*

Irgendwann ist das Holz aufgebraucht und als es dunkel wird, weiß er, dass er die Nacht nicht überleben wird, doch trotz der Schwäche blickt er erstaunlich klar. Noch nie haben die Sterne vorher so schön geglänzt und als er schließlich einschläft, träumt er wieder vom Labyrinth und wieder ist er seinem Ziel ganz nah, diesmal bereits auf der anderen Seite der Felsen, direkt vor ihm liegt sie, die strahlende Erkenntnis, doch als er sie ergreifen will, kann er sich nicht bewegen, seine Arme sind am Körper festgefroren, nicht einmal ein kleines Stückchen lassen sich die Finger krümmen, er will schreien, doch er hat keine Stimme mehr.

*

Er erwacht in vollständiger Dunkelheit und dieses Mal erwartet ihn keine Kälte, es ist weder warm noch kalt, der ganze Körper ist vollständig gefühllos, bewegungslos und als er mit der letzten verbliebenen Kraft die Augen einen kleinen Spalt breit öffnet, glaubt er in der Ferne, unten im dunklen Tal, eine einzelne verlorene Laterne zu sehen, die dort irgendwo in der Finsternis nur für ihn leuchtet.

*

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (19.01.18)
Völlig verkorkster Solo-Trekkingurlaub eines naiv-unerfahrernen Wanderers mit Marihuana-Flashback. Mir persönlich zu gedrechselt formuliert.

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 19.01.18:
Der Verfasser dankt amüsiert für diese konstruktive Kritik.

Antwort geändert am 19.01.2018 um 15:20 Uhr

Antwort geändert am 19.01.2018 um 15:20 Uhr

 Sanchina (20.01.18)
Ich bin von diesem Text begeistert! Hier werden Räume (Außen- wie auch Innenräume), trotz der Schwäche des Prot., kraftvoll durchmessen. Glaubwürdig wird die Lethargie geschildert, in die der Prot. auf dem Gipfel gerät, obwohl darin zunächst noch sehr viel Lebendiges spürbar ist: was soeben noch war und gelebt worden ist.
Dann entgleitet der Blick immer wieder in den Nebel und auch das Erleben schwindet, während der Prot. langsam erfriert. Die innere Leere gleicht den Schneemassen, die jetzt das Gelebte, das Leben, zugedeckthaben. Doch da ist noch das Eine, das Wesentliche: die Erkenntnis, das Licht.
Der Text ist sauber gearbeitet und elegant formuliert. Ich hatte große Freude beim Lesen. Danke!
Gruß, Barbara
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