Der Professor und ich (tragen die Kaper durch sieben Höllen) III

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Kurz nachdem wir die zweite Tablette genommen haben, bekomme ich Bauchschmerzen, wie ich sie noch nie verspürt habe. Fast wirkt es so, als ob sich etwas in mir bewegt. Heimlich taste ich mit der Hand über meinen Bauch, doch ich kann nichts Ungewöhnliches fühlen.

„Spürst du irgendwas?“, fragt der Professor.

„Ich weiß nicht“, sage ich, „beim ersten Mal hat es ja auch länger gedauert. Mein Bauch tut ein wenig weh“, sage ich.

„Mein Bauch tut auch weh“, sagt der Professor.

„Ich habe auch Hunger“, sage ich nach einer Weile und erst jetzt wird mir bewusst, dass ich seit vielen Stunden nichts als Zuckerwatte gegessen habe.

Dann schweigen wir eine Weile und jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach.

„Ob der Polizist wohl einen kleinen Kamm hat, mit dem er seinen Bart kämmt?“, frage ich den Professor.

„Hunger ist ein so gemeines Gefühl“, antwortet dieser.

„Wir könnten was bestellen“, schlage ich vor, „vielleicht irgendwas Gesundes.“

„Ich hätte gerne etwas Vegetarisches“, sagt der Professor, denkt eine Weile nach und ergänzt: „Mit Fisch. Und wenn es geht noch sieben Flaschen Mineralwasser.“

„Ich notiere alle Wünsche und entscheide mich selbst für zwei kleine Gemüselasagne mit Extrakäse.“

„Warum nimmst du nicht eine große?“, fragt der Professor.

„Das ist doch viel ökologischer.“

„Ich möchte eine jetzt gleich und eine später essen“, sage ich und greife zum Telefonhörer.

„Ich hätte gerne drei kleine Gemüselasagne“, erkläre ich dem Mann am anderen Ende der Leitung. Zwei davon mit Extrakäse und eine mit Fisch.“

„Und Kapern“, ruft der Professor aus dem Hintergrund.

„Und Kapern“, wiederhole ich und ergänze, weil ich den Professor kenne:

„In einem separaten Schälchen.“

„Also drei kleine Gemüselasagne, eine mit Fisch und zwei mit Extrakäse. Dazu ein Schälchen mit Kapern“, sagt der Mann am anderen Ende der Leitung.

„Und sieben Flaschen Mineralwasser“, ergänze ich,

„sieben Flaschen Mineralwasser“, wiederholt die Stimme.

„Das wär's?“

Ich bin ganz überrascht, dass dies so einfach funktioniert hat und blicke noch einmal zum Professor.

„Und einen Junioreisbecher für Atreju“, ruft der Professor.

„Und einen Junioreisbecher“ wiederhole ich.

„Wir haben nur normale Eisbecher.“

„Sie haben nur normale“, sage ich zum Professor.

„Dann lieber nicht“, sagt dieser und klingt dabei enttäuscht:

„Das war's. Vielen Dank.“

„Das dauert etwa 40 Minuten“, sagt der Mann noch, dann legt er auf.


„Manchmal fühle ich mich wie ein manieristischer Briefeschreiber aus dem 18. Jahrhundert“, sagt der Professor, „fast, dünkt es mich, kann ich nicht mehr sprechen, ohne Metaphern“,

ergänzt er und dann:

„Ich wünscht, ich wär ein Kalb!“

„Kälber werden auch irgendwann geschlachtet“, antworte ich und bin selbst für einen Moment erschrocken, wie brutal das klingt, dabei sind Kälber doch eigentlich total niedlich mit diesen riesigen traurigen Augen und manchmal haben sie sogar einen Pony.

„Das ist diese brutale Seite in dir, die da manchmal durchkommt“, sagt der Professor,

„so wie als du mich geschlagen hast, mit der Hand in das Gesicht, was ja vielleicht die gemeinste und rücksichtsloseste Art ist, jemanden zu schlagen.“

„Du hast dich ja auch gerächt“, sage ich, „indem du die Polizei gerufen hast.“

„Siehst du“, sagt der Professor, „das meine ich. Kaum sagt man einmal etwas Kritisches, schaltest du sofort auf Gegenangriff, dabei heißt es sogar schon in der Bibel, dass ein Unrecht kein anderes legitimiert. Da gibt es doch auch diesen Psalm.“

In der Bibel steht auch, dass man die andere Wange hinhalten soll, wenn man geschlagen wird“, sage ich und muss lachen, weil ich bislang noch nie mit der Bibel argumentiert habe und weil es so einfach ist.

Nun gut“, sagt der Professor, schließt die Augen und hält mir seine andere Wange hin.

Ich zögere, widerstehe der Versuchung einige Momente, dann gebe ich ihm kurzentschlossen erneut eine schallende Ohrfeige und obwohl er doch eigentlich hätte wissen müssen, was passiert, ist er genauso erschrocken, wie beim ersten Mal.

Du hast es schon wieder getan“, sagt der Professor vorwurfsvoll,

dabei habe ich dir doch gerade gesagt, wie furchtbar das für mich war“.

Das tut mir leid“, sage ich und es tut mir wirklich leid, dass er nun so bestürzt ist, ängstlich betrachtet er mich aus den Augenwinkeln, so als könnte ich mich jeden Moment erneut auf ihn stürzen.

Du hast das aber auch irgendwie provoziert“, sage ich, als du mir die Wange so hingehalten hast.

Ich habe dir als Freund vertraut“, sagt der Professor, „so wie bei diesem Spiel, wo man sich nach hinten fallen lässt und von den anderen aufgefangen wird. Du aber“, sagt er, „du hast mich nicht nur fallen lassen, du hast mir sogar mit der Hand ins Gesicht geschlagen.“

Lass uns nicht streiten“, sage ich, „ich verspreche, dass ich es nie wieder tue.“

Versprechen kann man vieles“, antwortet der Professor, „aber dir werde ich wohl nicht so schnell wieder meine andere Wange hinhalten.“

Immerhin redest du nicht mehr wie ein manieristischer Briefeschreiber“, sage ich.

In diesem Moment klingelt es an der Tür und noch bevor ich verstanden habe, was überhaupt passiert ist, ist der Professor bereits aufgesprungen, zur Tür gerannt und hat den Türöffner betätigt.


Der Lieferbote braucht ewig für die vier Stockwerke hinauf und weil mein Hunger immer größer geworden ist, breitet sich in mir eine surreale Angst aus, dass er einfach aufgeben und umkehren könnte, so wie in dieser Parabel, wo der Mann vom Lande nicht bis zum Gesetz durchdringen kann. Was sollten wir dann essen? Wie sollten wir dann diesen Hunger ertragen?

Stufe für Stufe hört man, wie die vielen Flaschen gegeneinander klirren und ab dem zweiten Stockwerk dann auch ein lautes Schnaufen.

„Hallo“, sagt der Lieferbote, als er schließlich um die Ecke biegt.

„Hallo“, antworte ich und da er lächelt, lächle ich zurück.

„Sie scheinen ja ganz schön Durst zu haben“, sagt der Bote, während er mir Flasche um Flasche reicht, die er – durchaus geschickt – auf der Lieferbox gestapelt hat.

„Ich verstehe nicht“, sage ich, „warum Durst? Wir haben ja schließlich etwas zum Essen bestellt.“

„Wir hatten leider nur sechs Flaschen.“

„Das ist kein Problem“, sage ich.

„Das ist doch ein Problem“, sagt der Professor, der bislang geschwiegen hat.

„Sieben ist ja schließlich nicht das gleiche wie sechs.“

„Es ist kein Problem“, sage ich und nehme die erste Lasagne entgegen, die viel heißer ist, als ich es erwartet habe. Einen kurzen Moment denke ich, dass ich es aushalten kann, wenn ich mich nur stark genug darauf konzentriere, dann ist der Schmerz doch zu groß, so dass ich die Lasagne kurzentschlossen fallen lasse.

Wie in Zeitlupe sinkt sie durch die Luft nach unten und schlägt dann doch überraschend heftig auf.

„Ist sehr heiß“, sagt der Bote.

„Das geht schon“, sage ich, weil ich es dieses Mal besser machen will, weil die Hand ja nichts ist als ein Instrument des Willens und weil mein Wille stark ist.

„Sicher?“, fragt der Bote.

„Sicher“, sage ich und nehme die zweite Schale entgegen. Wieder spüre ich diese übergroße Hitze, wieder ist da der Impuls einfach loszulassen, doch ich halte durch, besiege die Angst und erreiche den Punkt, an dem ich den Schmerz fast gar nicht mehr spüre.

„Hier“, sage ich zum Professor und reiche ihm die Schale weiter.

„Ist sehr heiß“, sagt der Bote.

„Das geht schon“, sagt der Professor und lässt sich nichts anmerken.

„Und die dritte“, sagt der Bote und reicht mir die dritte Lasagne, genau in dem Moment, in dem der Professor die zweite mit einem kleinen Schrei fallen lässt.

Wieder schwebt sie fast in der Luft, gleitet so langsam nach unten wie ein fallendes Blatt, bis sie – erst kurz bevor sie den Boden erreicht – auf einmal beschleunigt und dann umso härter aufschlägt.

„Das tut mir leid“, sagt der Bote, ignoriert meine ausgestreckte Hand und stellt die letzte Schale selbst auf den Boden, wo sie unversehrt neben den beiden deformierten Schalen steht.

„+ Fisch“ steht auf der Packung.

„Tut mir alles sehr leid“, sage ich zu dem Boten, während ich betrachte, wie sich auf dem Parkett ein weißer Fleck um die Lasagne herum bildet.

„Das ist ein sehr empfindliches Parkett“, sage ich zum Professor.

„Man muss es schonend behandeln.“

„Und hier“, sagt der Bote und reicht mir ein kleines Schälchen, das mich überrascht.

„Das“, sage ich, „das haben wir gar nicht bestellt.“

„Die Kapern“, sagt der Bote und stellt das Schälchen neben die Lasagnepackung auf dem Boden.

„Das macht 39,70 Euro.“

Die Zahl überrascht mich, zumal ich mir vorgenommen hatte, ein Trinkgeld von etwa 10 Prozent zu geben, doch was sind zehn Prozent von 39,70 Euro? In meinem Kopf tanzen alle Zahlen durcheinander, dann frage ich mich, was zehn Prozent von 39 sind und wieder ist da diese Leere, die mich an das Nichts erinnert, von dem Atreju gesprochen hat. Ich habe das zuvor nicht so ernst genommen, aber was wäre, wenn sich das Nichts nicht nur um die Stadt herum, sondern auch in unseren Köpfen ausbreitet?

„Ich hasse die Mathematik“, denke ich dann, „habe sie immer gehasst.“

„Machen Sie 39,80 Euro“, sagt der Professor und hält zwei Zwanzig-Euro-Scheine in der Hand.

„Nein“, sage ich, weil man die Enttäuschung und auch etwas Wut im Gesicht des Boten sehen kann.

„Machen Sie 63,70 Euro“, rufe ich und finde einen Hundert-Euro-Schein in meinem Portemonnaie.

„Danke“, sagt der Bote zu mir, während er nach dem Wechselgeld sucht.

Den Professor würdigt er keines Blickes.

Als er geht, hält er den Kopf merkwürdig gesenkt.

„Viel Spaß noch“, sagt er und lässt dabei im Unklaren, was er meint.


Als wir am Tisch sitzen, bin ich ganz erstaunt, wie liebevoll der Professor gedeckt hat, wie akkurat das Besteck neben den Tellern liegt. Er hat sogar meinen kleinen Blumentopf mit Petersilie aus der Küche geholt und zwischen uns auf den Tisch gestellt.

Lediglich die zwei verbeulten und tropfenden Aluschalen auf meinem Teller ruinieren das Bild.

„Jetzt hast du so schön gedeckt“, sage ich und öffne die erste Packung.

„Guten Appetit“, sagt der Professor und öffnet seine Schale, hebt sie vorsichtig nach oben und hält seine Nase in den heißen Dampf, der ihm entgegen steigt.

„Das riecht ein wenig nach gedünstetem Seebarsch“, sagt er, „und ich rieche Petersilie.“

„Du riechst die Petersilie, die du auf den Tisch gestellt hast“, sage ich und muss lachen.

„Das könnte sein“, antwortet er, doch er klingt nicht überzeugt.

„Und du hast die Kapern vergessen“, sage ich und stelle das kleine Schälchen neben die Petersilie.

Plötzlich leuchten seine Augen auf und ich merke, dass er mich gar nicht mehr ansieht, sondern durch mich hindurch etwas beobachtet, das entweder wunderschön oder aber furchteinflößend ist.

„Kapern“, sagt er und dann noch einmal: „Kapern“.

„Ja?“, frage ich und betrachte ihn, wie er dort sitzt, die Augen weit aufgerissen,

die Finger in das Tischtuch gekrallt.

„Kapern“, sagt er noch einmal und in diesem Moment spüre ich es auch, ein Gefühl, das ich so noch nie gespürt habe, aber mir dennoch selbst unglaublich präzise erklären kann, denn es fühlt sich genau so an wie ein Sprung von einem Fünfmeterturm, genauer: wie mein Sprung vom Fünfmeterturm, genauer: wie der Moment des Aufpralls auf dem Wasser, genauer: wie der Moment kurz nach dem Aufprall auf dem Wasser, wenn der Oberkörper etwa zur Hälfte in das kalte Wasser eingetaucht ist und wenn der erschrockene Körper von ganz vielen Stellen aus gleichzeitig Signale an das Gehirn sendet, weil das vegetative Nervensystem in diesem Moment des physischen Schocks nicht alles verarbeiten kann, was da aufgeworfen und - gewirbelt wird und dieser Moment, dieser Moment der Überlastung von allem, wird dann von dem überforderten Gehirn für einen ganz kurzen Moment als Tod, genauer: als Freiheit interpretiert und diese Freiheit dehnt sich in meinem Körper. Ich kann das genau spüren.

„Das ist ein unbeschreibliches Gefühl“, sage ich zum Professor,

„das ist so, als würde man verglühend in die Milchstraße eintauchen.“

„Kapern“, sagt der Professor und ist dabei ganz bleich und plötzlich begreife ich, dass da etwas nicht stimmt, dass es ihm nicht gut geht.

Was ist, denke ich, wenn all seine Synapsen einfach verglüht sind, was ist, wenn er jetzt nie wieder gehen kann. Traue ich es mir zu, ihn ein Leben lang vor mir herzuschieben?

„Alles klar?“, frage ich den Professor.

„Kapern“, antwortet er.

„Ich meine, kannst du dich bewegen?“

„Kapern“, sagt der Professor.

Auf einmal erschrecke ich erneut. Was ist, wenn ich mich nicht mehr bewegen kann?

Vorsichtig stehe ich auf und bin erstaunt wie groß ich bin, wie nah mein Kopf doch unter der Decke ist und wie groß die Gefahr sich zu stoßen. Nicht auszudenken, denke ich, was im Kopf alles passiert, wenn man ihn gegen die Decke stößt.

Ich renne in die Küche und weil mir nichts anderes einfällt, öffne ich den Kühlschrank, betrachte die verschiedenen Produkte, wundere mich, was da alles ist, sogar Quittenmarmelade, dann fällt mir der Professor wieder ein und dass durchaus einige Rockstars bereits an ihrem Erbrochenen erstickt sind.

Ich renne zurück ins Wohnzimmer und bringe den Professor in eine stabile Seitenlage.

Am Anfang habe ich den Eindruck, dass er sich wehrt, doch dann scheint er einzusehen, dass es zu seinem Besten ist.

„Das Beste in einer solchen Situation ist immer Kühlen“, hat meine Mutter einmal gesagt, doch mir fällt in diesem Moment nicht mehr ein, welche Situation sie damit gemeint hatte, kühlen...

Im Eisfach finde ich eine Packung mit gefrorenen Erbsen, die ich ins Wohnzimmer trage und dem Professor auf den Kopf lege, damit seine Synapsen nicht verglühen.

Dann bin ich ganz erschöpft von all dem Aktionismus und setze mich auf die Couch neben das Orakel. Es lässt sich gar nicht beschreiben, wie viel Kraft all dies gekostet hat und ich bin für einige Momente sehr stolz, wie besonnen und umsichtig ich reagiert habe. Nicht auszudenken, was da alles hätte passieren können.

Aber was soll ich jetzt tun?

„Kapern“, flüstert der Professor.

Was willst du nur von mir, frage ich mich und auf einmal kommt mir eine schreckliche Idee. Was ist, wenn es gar nicht der Professor ist, der ständig „Kapern“ sagt, sondern wenn ich es bin, der nur noch das Wort „Kapern“ verstehen kann? Vielleicht sagt er die ganze Zeit verschiedene Dinge, vielleicht ruft er um Hilfe und weil mir in diesem Moment nichts mehr einfällt, weil ich verängstigt und unsicher bin, beschließe ich, das Orakel um Rat zu fragen.

Mit zitternder Hand ziehe ich einen Zettel hervor.

„Der Professor hat recht“, steht auf dem Zettel.

Was könnte damit gemeint sein?

Suchend blicke ich mich um.

„Kapern“, flüstert der Professor und erst in diesem Moment begreife ich. Das Universum zieht sich in einer einzigen Erkenntnis zusammen, ich bin mir so sicher, wie ich mir lange nicht mehr sicher gewesen bin, alles macht auf einmal Sinn, ich stehe auf, gehe hinüber zum Tisch und öffne das Schälchen mit Kapern.

„Kapern“, flüstert der Professor und es klingt flehend und erlöst zugleich.

Ich fische einer der Kapern aus der Flüssigkeit, in der sie schwimmen, und bin erstaunt wie leicht sie ist, so eine kleine Kaper, trage sie wie eine Feder hinüber zum Professor und stecke sie ihm dann kurzentschlossen in den Mund.

Zunächst passiert gar nichts, doch dann scheint es so, als würde ein Licht vom Orakel in den Professor und dann wieder vom Professor zurück in das Orakel gleiten.

„Danke“, sagt der Professor und befreit sich mühsam aus der stabilen Seitenlage.

Dann geht er hinüber zur Tür und trinkt mit entschlossenen Zügen eine Mineralwasserflasche leer.




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