Die Oma mit der Zuckerschnecke

Geschichte zum Thema Erinnerung

von  Citronella

 

In meinem Leben spielte sie eigentlich keine große Rolle; ich war knapp elf, als sie starb. Trotzdem gibt es einige Episoden aus ihrem Leben zu erzählen.

Sie war meine Großmutter väterlicherseits, eine hagere, herbe Frau, zu der ich  – anders als zu meiner geliebten kuscheligen Omi mütterlicherseits – nie ein richtiges Verhältnis aufbauen konnte. Mein Vater hing an ihr, und so fuhren wir sonntags oft mit dem Fahrrad die 10 km zu ihr in die Kreisstadt. An ihrer kleinen Dachgeschosswohnung imponierte mir vor allem die große Obstschale auf dem Tisch der Wohnküche: Nicht mit Obst, sondern mit täuschend echten künstlichen Früchten gefüllt. So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen.

Eines der wenigen Fotos von ihr wurde anlässlich der Konfirmation eines Cousins aufgenommen. Hier waren fast alle Mitglieder der großen Sippe dabei, aber die Großmutter wirkt nicht etwa wie die stolze Matrone dieses Familienclans, sondern sie steht mit fast versteinertem Gesicht wie eine Fremde dabei. Als sei ihr dies alles zu viel geworden.

Zwei Weltkriege und ein Auskommen in Armut mit sieben Kindern, geboren innerhalb von elf Jahren – kein Leben zum Ausruhen. Ein ungewöhnliches Foto aus einem Fotostudio aus den Tagen des 1. Weltkriegs zeigt sie mit den ersten vier Kindern, darunter mein etwa dreijähriger Vater als Kronprinz neben drei Schwestern. Hat sie dieses Foto für den Opa an der Front aufnehmen lassen? Ich weiß es nicht. War er damals überhaupt im Krieg? Am 2. Weltkrieg nahm er jedenfalls aufgrund seines Alters nicht mehr teil. Er erhängte sich Anfang der 40er-Jahre – als Kommunist und Gewerkschaftler „hätten sie ihn sonst abgeholt" – so erklärte man mir seinen Tod. Bei den sonst sehr gesprächigen Familienmitgliedern wurde dieses Thema eher tabuisiert, was mich immer vermuten ließ, dass noch mehr hinter dieser Geschichte steckte.

Ein Sohn fiel mit 27 Jahren in Russland. Der Intelligenteste von allen, wie die Geschwister immer einstimmig berichteten. Das einzige Foto von ihm zeigt einen sehr gut aussehenden jungen Mann mit hellwachem Blick. Es sind immer die Besten gefallen, hörte man in vielen Familien.

Mein Vater verstand sich gut mit seiner Mutter. Nur eines erzählte er auch nach Jahrzehnten noch oft mit einer leichten Empörung: In seiner Kindheit war sie einmal, wie des Öfteren, zu Besorgungen in die Stadt gegangen. Mein Vater wusste, wann sie ungefähr zurückkommen würde und lief ihr entgegen. Was er dann sah, muss ihn tief getroffen haben. Die Oma hatte sich eine Zuckerschnecke gegönnt und verspeiste diese nun genüsslich unterwegs, damit die Kinder es nicht mitbekommen sollten. Zu mehr hatte das karge Geld nicht gereicht.

Als ich etwa acht Jahre alt war, verbrachte ich einige Ferientage bei einer der Tanten. Meine Cousine Elke, zwei Jahre älter und sehr viel gerissener als ich, schlug vor, dass wir die gemeinsame Oma besuchen gehen sollten, sie wohnte nur etwa 3 km entfernt. Die Oma freute sich, zum Abschied schenkte sie jeder von uns 1 DM – damals viel Geld für ein Kind – mit der Bemerkung „Keiner soll hungern und frieren!" Wir liefern kichernd zum Kiosk an der Ecke und investierten sofort in Süßigkeiten.

Ich bin sicher, Elke hatte diese Tour nicht zum ersten Mal gemacht. Es hieß, dass die Oma allmählich tüdelig, sprich dement wurde. Bald darauf kam sie in ein Pflegeheim auf dem Land. Als zwei der Tanten sie eines Tages besuchten, saß die Oma im Bett und wollte gerade in ein Stück Seife beißen, weil sie es für einen Keks hielt, erzählten sie später. Ein Kind kann darüber lachen.

Aber es kam noch schlimmer. Eines kalten Februar-Abends klingelte der Dorfpolizist an unserer Wohnungstür. Man war auf der Suche nach der Oma, die seit dem Nachmittag im Heim vermisst wurde. Am nächsten Tag fand man sie – leicht unterkühlt, ansonsten wohlauf – in einem Graben. Sie habe „nach Hause" wollen, sagte sie später, und war wohl querfeldein dem Lichtschein der Stadt gefolgt.

Ein Jahr später starb sie. Bei der Aufteilung des mehr als bescheidenen Nachlasses (hauptsächlich ging es um eine alte Nähmaschine) verkrachte sich mein Vater mit seinen Schwestern auf Jahre. Erst die Hochzeiten mehrerer Cousinen in den 70er-Jahren brachte die Verwandtschaft wieder zusammen. Da war ich längst über alle Berge und an Verwandtschaft nicht mehr interessiert.



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Kommentare zu diesem Text


 Saudade (10.03.25, 17:48)
Kicher! Wie die Oma, so die Enkel. :D Du kannst schön erzählen, bin der Erzählung gerne gefolgt.

 Citronella meinte dazu am 10.03.25 um 17:51:
Wie die Oma, so die Enkel.

Ich hab doch gar keine 7 Kinder! :P

 Saudade antwortete darauf am 10.03.25 um 18:30:
Aber warst ein Zuckermäulchen.

 Citronella schrieb daraufhin am 10.03.25 um 18:45:
Na ja, nun mal ehrlich: Was hättest du in dem Alter für 1 DM (= 7 öS) gekauft??

 Saudade äußerte darauf am 10.03.25 um 19:41:
Eis!

 Teo (10.03.25, 17:51)
Moin,
Schöne Geschichte. Meine Mutter kam aus einer recht großen Familie. Mehrere Onkel und Tanten. Ich kann mich nicht erinnern, das jemand von der Familie im fortgeschrittenen Alter Dement oder ansonsten geistig oder psychisch beeinträchtigt waren. Durchweg knorrige und robuste Typen. Leider sind einige nach der Verrentung oder Pensionierung früh verstorben.
Ich muss oft an meine große Familie denken. Und wenn alle zusammenkamen...das war einfach schön...
LG
Teo

 Citronella ergänzte dazu am 10.03.25 um 17:59:
Ja, Teo, den einen trifft es, den anderen nicht. Die Onkel und Tanten sind auch alle recht alt geworden - und von Demenz ist mir da nichts bekannt. Und sie gehörten noch zu der Generation, die mit 14 gleich nach der Konfirmation aus dem Haus musste, Mädchen wie Jungen. Bauernhöfe mit Personalbedarf gab es rundherum genug ...

Vielleicht war dieses harte Leben einfach zu viel für die Oma.

LG Citronella

 Moppel (10.03.25, 20:34)
Ich habe deine Geschichte gerne gelesen, Citro. So we ich auch die Geschichten meiner Oma immer gerne gehört habe. Es ist ein Stück alte Zeit.. ;) .lG von M.

 Citronella meinte dazu am 10.03.25 um 21:53:
Danke, Moppel!

LG Citronella

 Lorolex meinte dazu am 11.03.25 um 05:44:
Hallo Citro,

eine sehr schöne, unterhaltsame Geschichte! Ich bin ja nicht verheiratet oder sonstwie  liiert und immer noch auf der Suche. Mein größter Wunsch: Irgendwann mit einer lieben, alten, grauen Omi an einem Frühstückstisch, im Sommer draußen auf der Terrasse zu sitzen und das Leben zu genießen!

Viele Grüße,
Kai

 Citronella meinte dazu am 11.03.25 um 10:39:
Gib die Hoffnung nicht auf, Kai! Aber ich fürchte, die heutigen Omas haben wenig Zeit für die Familie, die sind anderweitig engagiert … 8-)

LG Citronella
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