November-Geburtstage

Kurzprosa zum Thema Erinnerung

von  Citronella

Diese beiden Geburtstage hatte Lotte nie so recht gemocht: Mutter und Großmutter innerhalb einer Woche, Mitte November, wenn das feuchtkalte, nebelige Wetter aufs Gemüt drückte. Gefeiert wurde zwar nie groß - die Verwandtschaft war überschaubar - aber man saß zum Kaffee zusammen, ein Blumenstrauß mit dem damals im November verfügbaren Angebot gehörte dazu. Zum 80. Geburtstag der Großmutter reiste Lotte von weither an, eine Selbstverständlichkeit.

Als die Großmutter mit Anfang 90 starb, verblieb nur noch ein November-Geburtstag und der Gang auf den Friedhof. Den 70. der Mutter feierte man etwas größer, sie war gerade umgezogen und konnte zum ersten Mal in ihrem Leben stolz auf eine schöne Neubauwohnung sein. Über den etwas vorwurfsvollen Empfang „Sind schon alle da!“ - um kurz nach 10 Uhr morgens – sah Lotte ausnahmsweise hinweg. „Alle“ wohnten mehr oder weniger um die Ecke, während Lotte und Werner im Berufsverkehr fast zwei Stunden unterwegs gewesen waren. Lotte war nicht mehr bewusst gewesen, dass man hier im Dorf um diese frühe Zeit mit einer Feier begann. Sie hatte schon zu lange in der Großstadt gelebt. Es gab Torte und Likörchen, und ausnahmsweise schien an diesem Tag sogar die Sonne. Die kernigen alten Damen, von denen Lotte kaum noch eine kannte, erwiesen sich als überraschend lustig, und um kurz nach 12.00 Uhr mittags löste sich die Gesellschaft allmählich auf. Zu Hause wartete wohl das Mittagessen.

Die nächsten Geburtstage verliefen wieder eintöniger. Manchmal luden Lotte und Werner die Mutter zum Essen ein, oder sie saßen einfach nur bei Kaffee und Kuchen zusammen. Beim 82. Geburtstag – schon im Pflegeheim – war für Lotte ersichtlich, dass dies wahrscheinlich der letzte sein würde. Und sie sollte Recht behalten.

Seitdem gibt es im weiteren Umfeld keine November-Geburtstage mehr. Lotte, nunmehr selbst über 70, vermisst diese kargen Feiern an trüben Novembertagen neuerdings ein wenig und hofft jedes Jahr, dass sie ihren eigenen Geburtstag im Frühling noch erleben wird. Besucher aus der Verwandtschaft wird es allerdings nicht mehr geben.



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Kommentare zu diesem Text


 niemand (17.11.24, 19:20)
@ Citronella
Man kann in späteren Jahren durchaus etwas vermissen, das man in jüngeren
nicht besonders aufregend fand ;)  Ob das ein Hang zur Verklärung des Vergangenen ist, weiß ich nicht zu sagen, aber ich, sagen wir mal, "verkläre" auch so manches, das mir früher eher lästig war. So vermisse ich neuerdings
die selbsgebackenen Pfefferkuchen meiner Schwiegermutter, welche wir in Karton-Menge erhielten und die ich damals nicht so mochte. Allerdings gemessen an den gekauften und drögen Brocken, scheinen sie mir doch köstlich gewesen zu sein. So ist der Mensch :P LG irene

 Citronella meinte dazu am 17.11.24 um 23:04:
Ja, Irene, das ist richtig. Der Mensch ändert mit zunehmendem Alter seine Einstellungen und Vorlieben. Manches ändert sich durchaus zum Vorteil, manches verhärtet sich aber auch zum Nachteil. Altersmilde und Altersstarsinn liegen oft nah beieinander. Damit müssen wir wohl leben. Aber alles Andere wäre doch auch langweilig, oder? ;)

LG Citronella
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