Reisesprache
Text zum Thema Urlaub/ Ferien
von Zora
Ja, Pommes Frites war ein französisches Wort und so sprachen wir es in der Familie auch aus. Pommes oder Fritten, das waren deutsche Spitznamen, die ich erst viel später durch andere Kinder kennenlernte, und ich weiß noch, wie fremd sie in meinen Ohren klangen, wie ein ganz anderes Gericht und fast möchte ich sagen, dass diese dünnen, hellgelben Stäbchen deutscher Machart, so trocken, dass ich fürchtete, sie würden mir im Hals steckenbleiben und sich querstellen wie Gräten, tatsächlich ein anderes Gericht waren als die dicken, saftigen, knusprigen, dunkelgelben Pommes Frites, die in Frankreich zusammen mit Steak Haché zum Menu Enfant gehörten und zu Moules Frites. Das fremde Wort, das in Deutschland für die Speise benutzt wurde, war überraschend und ungewohnt für mich, so wie es mich erstaunt hatte, dass ich im Flugzeug nicht kotzen musste und in ein noch größeres Erstaunen hatte es mich versetzt, dass mein kleiner Bruder auf unserer ersten Urlaubsreise nach seiner Geburt kein einziges Mal kotzen musste, ganz friedlich saß der Kerl angetan mit Windel und einem hellblauen Body neben mir in seinem tragbaren Kindersitz und verschlief die Fahrt, ohne ein einziges Mal zu kotzen, wachte auf und quäkte und lachte und litt nicht das winzigste Bisschen, darauf war ich nicht vorbereitet. Ich war davon ausgegangen, dass alle Kinder beim Autofahren kotzen, gar nicht anders denken hatte ich es mir können, und konnte es kaum fassen, dass er sich einfach darüber hinwegsetzte und dass dieses Kotzen also keine Selbstverständlichkeit war, die alle Kinder betraf, sondern eine Besonderheit, mit der ich geschlagen war. Ich hatte ihn trösten wollen und mit dem Kotzeimer helfen und ihm diese unvermeidliche Unwegsamkeit erleichtern, meine geballte fünfjährige Lebenserfahrung wollte ich ihm schützend und stützend angedeihen lassen, und dann das. Aber ganz ähnlich ging es mir mit der Erkenntnis, dass andere Kinder nicht Pommes Frites sagen, sondern Pommes oder Fritten, und diese Pommes oder Fritten sogar lecker finden, und viel später mit der Erkenntnis, dass andere Familien die Sprache des Landes, in dem sie Urlaub machen, nicht beherrschen. Von allein wäre ich nie darauf gekommen, dass andere es so anders haben könnten.
In meiner Familie war es selbstverständlich, in Frankreich die Sprache zu wechseln, nicht untereinander, aber auf der Straße und in Restaurants und Geschäften und auch, wenn wir meine Tante Karin in Seillans besuchten, dort sowieso, dort wurden beide Sprachen durcheinander gesprochen, dort sprach mein französischer Onkel René Deutsch mit französischem Akzent und meine deutsche Tante Karin Französisch mit deutschem Akzent, eigentlich sogar mit Allgäuer Akzent, obwohl meine Tante Karin, anders als mein Vater und die anderen Geschwister in Schlesien geboren war, nicht im Allgäu, aber gerade sie nahm den Allgäuer Dialekt an und legte ihn nie wieder ab, nicht einmal, wenn sie Französisch sprach. Beide, Karin und René, sprachen beide Sprachen rasend schnell, und ich weiß noch, dass mein Cousin Sylvain, der ein Jahr älter war als ich, anfangs immer so tat, als hätte er sein ganzes Deutsch über den Winter verlernt, aber nach ein paar Stunden wechselte er dann doch ins Deutsche, wobei es mir auch nichts ausgemacht hätte, wenn wir auf Französisch gespielt hätten, schließlich spielte ich am Strand mit französischen Kindern und spanischen Kindern, die überhaupt kein Deutsch sprachen. Spielen ist übersprachlich und jenseitssprachlich und die paar Wörter, die wir zur Verständigung brauchten, brachten wir uns gegenseitig bei. Auch meine Eltern brachten mir ein paar französische Sätze bei. Ich weiß noch, wie mich mein Vater in der Bäckerei mit dem Kopf über die Theke hob, sodass ich der Bäckersfrau ins Gesicht gucken und mein französisches Sätzchen une baguette, s’il vous plaît aufsagen konnte, worüber sie sich sehr freute und ich mich natürlich auch, wie sich ein Kind freut, wenn es etwas selber machen darf wie die Erwachsenen, und es klappt: Die Bäckersfrau verstand mein Französisch, ich reichte zwar nicht über die Theke, aber ich konnte unser Frühstückbrot ebenso gut bestellen wie mein Vater, der Beweis war, das ich es kurz darauf in der Mitte mit einem Stück Papier umschlungen in der Hand hielt, wie ein langer dünner Mensch, mit einer Schärpe, und wenig später meiner Mutter überreichte, die mir in der Zwischenzeit einen warmen Kakao auf dem Gaskocher zubereitet hatte. Den Kakao mochte ich allerdings nicht, weil mir vor dem H-Geschmack der Milch ekelte, der auch durch einen zusätzlichen Kakao nicht übertüncht werden konnte, er fraß sich durch die Süße wie der Autogeruch sich durch die Süße des Wunderbaums frisst, aber das ist eine andere Geschichte.
Für mich gehörte es untrennbar zu einem Urlaub, die Landessprache des Urlaubslandes zu sprechen und sich mit den Einheimischen zu unterhalten und zu spielen und zu lachen, gehörte für mich selbstverständlich zu den gewöhnlichsten Urlaubsfreuden, und als ich älter wurde und erkannte, dass es Menschen gibt, die in den Urlaub fahren oder fliegen und nicht nur die Landessprache nicht sprechen, sondern auch gar keinen Austausch mit den Menschen dort haben und sich die Menschen dort anschauen, als wären es Gebäude oder Tiere im Zoo und über sie sprechen statt mit ihnen, oder Menschen, die in Clubs Urlaub machen und das Ressort nicht verlassen und gar keine Einheimischen treffen, sondern nur andere Deutsche, dass es so etwas überhaupt gibt, dass es üblich ist, konnte ich mir zuerst gar nicht vorstellen. Ich brauchte eine ziemliche Weile, bis das als mögliche Wirklichkeit in mich hineingesickert war und verfing und noch länger brauchte ich, um zu begreifen, dass diese Menschen an ihren Urlauben tatsächlich Freude haben, und dass es für diese Menschen die normalste Sache der Welt ist, so Urlaub zu machen, wie sie eben Urlaub machen, so normal, als hätten sie sich diese spezifische Urlaubsart, ohne Sprachkenntnisse und Menschenkontakt nicht ausgesucht, sondern als wäre es die zwangsläufige Art Urlaub zu machen, nicht eine Art, sondern die Art, eben weil es die ist, die sie kennen, so wie es mir die normalste Sache der Welt schien, mein Essen auf Französisch zu bestellen und mit Mademoiselle angesprochen zu werden und meinen eigenen Namen auf der letzten Silbe zu betonen, wie es auf Französisch üblich ist, weil ich es nicht anders kannte, niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, mich deshalb für etwas Besonderes oder gar Besseres zu halten, dass in Frankreich Französisch gesprochen wird, ist schließlich ziemlich logisch und ganz und gar unbesonders und banal, so wenig besonders wie mein Gekotze im Auto.
Mir kam es damals so vor, als sprächen meine Eltern fließend, ja, perfekt, Französisch, denn wann immer ich fragte, was dies oder das auf Französisch hieß, wussten sie es und sagten es mir und ich weiß noch, wie ich zu Besuch bei meiner Tante Lust bekam, einfach auch alles auf Französisch zu sagen, was ich dachte, und daran scheiterte, dass ich so viele Wörter nicht kannte, und bis ich einen Satz zusammen hatte, musste ich sehr häufig nach den Wörtern fragen und ich weiß noch, wie ich mir dabei dachte, dass es ja ziemlich anstrengend für Franzosen sein muss, immer erst alles im Kopf übersetzen zu müssen, bevor sie es sagen können und da, plötzlich, durchblitzte mich die Idee, dass Franzosen vielleicht auf Französisch dächten und ich weiß noch, wie ich ganz aufgeregt wurde und meinen Vater fragte und er es bejahte und ich weiß noch, wie sich eine fast wundersame Erfüllung über diese Erkenntnis in mir ausbreitete, obwohl ich mir nach wie vor nicht vorstellen konnte, wie es ist, auf Französisch zu denken. Und viel, viel später erst, als ich in Frankreich studierte und meine Eltern mich dort besuchten, wurde mir klar, dass sie gar nicht perfekt Französisch sprechen, nicht einmal fließend, aber vollkommen ausreichend eben, um das verstehen zu können, musste ich erst besser Französisch sprechen als sie, und ich weiß noch, diese Entzauberung ihres Genies entfernte uns nicht, sie brachte uns näher, denn in ihrem Akzent und in ihren Fehlern, lag ihre ganze ehrliche Aufgeschlossenheit der Sprache und den Menschen gegenüber, ihre Freude daran, auf andere zuzugehen und der selbstverständliche Mut, Fehler zu machen, ohne sich dafür zu schämen, weil das Wichtige eben nicht ist, wie man dasteht, sondern, dass man auf andere zugeht und sich so verständigt.
Und ich weiß noch, wie seltsam und wirklichkeitsfremd mir später so einige Deutsche vorkamen, die französische Wendungen in deutsche Sätze einstreuten und zwar im Gespräch mit anderen Deutschen, weil Französisch als fein und hochkulturell galt und sie mit so einem französischen Einschub gebildet dastanden, vor allem vor jenen, die selbst kein Französisch sprachen, oh, oh, oh, so fein und weltgewandt wirkte das, weil die Nichtsprecher die Fehler nicht bemerkten und das Ungelenke im Ausdruck, so wenig, wie ich als Kind die Fehler meiner Eltern bemerkt hatte, nur dass meine Eltern eben der Verständigung wegen sprachen und nicht der Selbstdarstellung wegen, und kennte ich Fremdscham, wäre das mein Ding, würde ich sie vielleicht in solchen Momenten empfinden, da ein Mensch fehlerhafte französische Wendungen in seine Sätze einbaut, um fein rüberzukommen, und irgendeine Phantasie von der feinen französischen Kultur zu spielen, wie kleine Mädchen Prinzessin und kleine Jungs Cowboys spielen. Aber ich kenne keine Fremdscham, die ist ja gerade das Ding jener, die irgendwie wahrgenommen werden wollen, die ihre Identität von Status und sogenannter Leistung abhängig machen, also automatisch auch davon, dass andere angeblich eine geringere Leistung erbracht hätten, und das geht nun gar nicht mit meiner Wirklichkeit zusammen, weil Französischlernen für mich ein Spaß war, eine Dynamik, ein Austausch und eine Verständigung, und vor allem eins: normal, aber ein anderes sicher nicht: eine Leistung oder ein Ausdruck des Feinseins. Und besonders lustig an der ganzen Sache ist, dass nun gerade mein französischer Onkel René zu den unfeinsten Menschen gehört, die ich je gekannt habe.