Die gnadenloseste Satire aller Zeiten

Essay zum Thema Armut

von  Citronella

Irland im Jahre 1729: Die meisten Einwohner leben in bitterer Armut. Jahrelange Ausbeutung durch englische Großgrundbesitzer haben viele Existenzen vernichtet. Die angebauten Agrarprodukte werden größtenteils nach England geschafft, die Iren selbst müssen sich überwiegend von Kartoffeln ernähren und leiden große Not. Ihr einziger Reichtum sind Kinder, sehr viele Kinder.

Da kommt ein renommierter irisch-englischer Schriftsteller mit schillerndem Lebenslauf auf eine Idee, wie man den Armen das Leben leichter machen könnte und auch die englischen Herrscher noch davon profitieren könnten. Er unterbreitet einen „bescheidenen Vorschlag im Sinne von Nationalökonomen, wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am besten benutzt werden können.“

Mit akribisch aufgelisteten Zahlen belegt er seine Theorie, den Engländern gut genährte Kinder, am besten im Alter von einem Jahr, zum Verzehr anzubieten.

Ein sehr kenntnißreicher Amerikaner meiner Bekanntschaft, in London ansäßig, hat mir die Versicherung gegeben, daß ein junges, gesundes, wohlgenährtes Kind vom Alter eines Jahres ein höchst schmackhaftes Nahrungsmittel und eine gesunde Speise bietet, ob geschmort, gebraten, gebacken oder gekocht; und ich zweifle gar nicht, daß es ebenfalls als Fricassée oder Ragout sich wird anwenden lassen.
(Ü: Franz Kottenkamp 1844)

Und es wäre ja so einfach:

Die Kosten, ein Bettlerkind zu ernähren (alle Afterpächter, Taglöhner, und sogar vier Fünftheil der Pächter sind hiemit einbegriffen), habe ich schon mit Inbegriff der Lumpen auf 2 Schilling jährlich berechnet. Wie ich glaube, wird kein Gutsbesitzer 10 Schillinge für den Leib eines guten fetten Kindes verweigern, welches, wie ich schon sagte, vier Schüsseln ausgezeichneten, nahrhaften Fleisches bieten wird, wenn er nur einige genauere Freunde oder nur seine Familie beim Mittagessen hat.

Wer bis hierher immer noch nicht verstanden hat, dass es sich um eine bissige Satire handelt, bekommt kurz vor dem Ende seines Essays den entscheidenden Hinweis:

… und geringe Unruhe und wird sogar diejenigen nicht verdrießlich machen, welche unser ganzes Volk ohne den Vorschlag gerne verspeisen möchten.

Es gibt Passagen dieses Essays, die beim Lesen fast unerträglich sind, selbst wenn man von Anfang an weiß, dass es sich um eine Satire handelt. Dennoch schauten die Engländer ziemlich unbeeindruckt in den Spiegel, den Jonathan Swift ihnen vorhielt. Während der großen Hungersnot („The great famine“) in den 1840er-Jahren, bedingt durch mehrere Missernten und eine neuartige Kartoffelfäule, sollte sich die Armut auf der Insel noch verschlimmern. Es starben eine Million Menschen, das sind damals 12 % der irischen Bevölkerung. Zwei Millionen (überwiegend junge) Menschen wanderten aus.

Etliche irische Schriftsteller befassen sich in ihren Werken mit der bitteren Armut und den einhergehenden Freiheitskämpfen im Land, so z. B. Sean O’Casey (1880 – 1964) und Frank O’Connor (1903 – 1966). Auch Frank McCourt (1930 – 2009) beschreibt die Armut in seiner großartigen Kindheitsgeschichte „Die Asche meiner Mutter“.

Doch keinem Schriftsteller ist es gelungen, dies in eine so bitter-böse Satire zu verpacken, wie es Jonathan Swift (1667 - 1745) in "A modest proposal" getan hat.



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online: