Ein ganz normaler Projektverlauf
Satire zum Thema Arbeit und Beruf
von Citronella
Die Ausgangssituation schien denkbar einfach: Zu Jahresbeginn erhielt die deutsche Niederlassung der weltweit tätigen Vertriebsfirma Dongle Supplies von der Londoner Konzernzentrale die Anweisung, ein neues Warenwirtschaftssystem zu installieren. Geschäftsführer Stefan Saubermann, ein sturer älterer Herr, dessen Technik- und EDV-Kenntnisse bei der Bedienung eines Fax-Gerätes endeten, blieb keine andere Wahl als zuzustimmen.
Der eiligst aus einer Schwesterfirma hinzugezogene Roger Bestmann, von dem es Gerüchte gab, er habe in einer anderen Firma schon einmal ein ähnliches Projekt geleitet, wurde zum Projektleiter ernannt. Schnell fand er das kostengünstigste Angebot des kleinen Software-Unternehmens Better Projects, dem ein guter Ruf als Anbieter von Warenwirtschaftssystemen vorauseilte.
An der ersten Besprechung der Dongle-Projektgruppe, bestehend aus jeweils zwei mehr oder weniger freiwillig aufgestellten Mitarbeitern aller Abteilungen, nahm auch Geschäftsführer Saubermann teil. Kevin Blender, der Projektleiter seitens Better Projects, erläuterte in einem einstündigen, für einige Anwesende (z. B. Saubermann) zu komplizierten Vortrag die weitere Vorgehensweise. Er empfahl wöchentliche Zusammenkünfte der Projektgruppe, sorgfältige Dokumentation inbegriffen. Einmal im Monat würde er dann zu einer größeren Sitzung dazukommen. Wie er beiläufig erwähnte, hatte er noch mehrere andere Großprojekte zu betreuen.
Carola Pfiffich, eine freiberufliche, sehr erfahrene Projektassistentin, übernahm die Protokollführung und Projektkoordination, schließlich hatten die Mitglieder der Projektgruppe auch weiterhin ihren eigentlichen Job wahrzunehmen.
Wie von der Konzernzentrale gefordert, wurde der 1. Januar des Folgejahres für den Systemstart anvisiert. Frau Pfiffich rechnete insgeheim mit mindestens einem halben Jahr mehr und damit einem weiteren sicheren Einkommen. Sie hatte schließlich so ihre Erfahrungen.
Schon nach den ersten drei Sitzungen stellte sich heraus, dass die Anforderungen der verschiedenen Abteilungen weit über den Angebotsrahmen der Firma Better Projects hinausgehen würden, was Kevin Blender bei seinem nächsten Erscheinen nicht sonderlich zu überraschen schien. Die Produktpalette von Dongle Supplies und die Beschaffung der Waren aus vielen Ländern der Welt waren einfach zu komplex, um sie in einen vorgefertigten Rahmen zu integrieren. Teure Zusatzmodule mussten dazugekauft werden. Saubermann ächzte.
Waren bei den ersten Sitzungen noch alle Mitglieder vollzählig anwesend, dünnte sich das Team nach mehreren Wochen sichtbar aus. Dringende Aufgaben in der eigenen Abteilung, die die Kolleginnen und Kollegen nicht mehr übernehmen konnten (und auf Dauer auch nicht wollten, da sie der Ansicht waren, das Projektteam “schaukle sich in den Sitzungen sowieso nur die Eier“), machten die Anwesenheit am eigenen Schreibtisch unabdingbar. Das Projekt dümpelte nun ein wenig vor sich, was Saubermann sehr beunruhigte. Frau Pfiffich war ihm mit ihren Protokollen gern dabei behilflich, den Projektfortschritt an die Londoner Zentrale zu melden. Ihm blieb nur noch die Formulierung eines freundlichen Anschreibens übrig.
Der Frühling kam ins Land, mit ihm viele Feiertage und später die große Ferienzeit. Urlaubsbewilligungen für die gesamte Belegschaft erfolgten nur noch restriktiv. Die Projektarbeit schleppte sich mühsam dahin.
Probeläufe einzelner Projektteile starteten im Spätsommer, während Frau Pfiffich damit beschäftigt war, die aus den Abteilungen eintrudelnden Stammdaten akribisch zu erfassen. Dass sie als Externe bei Nachfragen innerhalb der Belegschaft nicht immer freundlich behandelt wurde, konnte sie in gewisser Weise verstehen. Die Damen aus der Buchhaltung kannten ihren Stundensatz. Die ursprünglich ins Auge gefasste Stundenzahl hatte sich längst verdoppelt. Frau Pfiffich überlegte schon mal, wo sie den nächsten längeren Urlaub verbringen könnte.
Anfang September verkündigte eine Mitarbeiterin der Projektteams ihre Schwangerschaft. Wahrscheinlich würde sie schon vor Ende des Jahres in den Mutterschutz gehen und nicht bis zum Systemstart mitarbeiten können. Ein Team-Kollege aus dem Bereich Controlling kündigte zum 1. Oktober, er hatte ein Angebot aus einer anderen Stadt erhalten, das er nicht ablehnen konnte. Und Kevin Blender von Better Projects fand nach einem längeren Sommerurlaub immer noch nicht die Zeit, das weiterhin dümpelnde Projekt wieder in Schwung zu bringen.
Das Projekt fraß allmählich seine späteren Anwender, von denen viele immer noch überzeugt waren, dass ein neues System gar nicht nötig sei. Warum etwas Neues lernen, wenn das Alte doch gut funktionierte? Seit Wochen war jedes Mitglied der Belegschaft, das mit dem neuen System arbeiten würde (also fast alle außer der Dame vom Empfang) mit Testeingaben in die schon halbwegs bestehenden Projektbereiche beschäftigt. Das alte System lief währenddessen reibungslos weiter.
Kevin Blender tauchte auch wieder auf. Um den Druck zu erhöhen, nahm nun von Zeit zu Zeit auch die Londoner IT-Leiterin an einzelnen Besprechungen teil, die deshalb selbstverständlich auf Englisch zu erfolgen hatten, was nicht allen Teilnehmern, z. B. den Damen aus der Buchhaltung, gefiel. Die Stimmung innerhalb der Belegschaft verschlechterte sich zusehends, getestet wurde mehr oder weniger nur noch, wenn ein Vorgesetzter ein Machtwort sprach.
Im Laufe des Spätherbstes stellte sich heraus, dass man sich für die Stammdaten, vor allem was den Artikelstamm betraf, zu viel vorgenommen hatte. Die gegenüber dem alten System verfeinerten und damit völlig aufgeblähten Datensätze führten zunehmend zu Fehlermeldungen. Nun hatte endgültig kein Mitarbeiter mehr Lust, weiterhin an den Testeingaben mitzuwirken. Zusätzlich würden neue, von der EU vorgegebene, gesetzliche Vorgaben zu Jahresbeginn in Kraft treten. Begriffe wie traceability tauchten auf, 13-stellige EAN-Nummern erweiterten die Artikelbezeichnungen zusätzlich.
Ende November war endgültig klar, dass der Systemstart am 1. Januar nicht mehr zu halten sein würde. Eine herbstliche Grippewelle hatte zusätzlich dazu geführt, dass das Projekt völlig auf der Stelle trat. Man setzte nun den 1. April fest.
Vom Projektteam der ersten Stunde waren aus verschiedenen Gründen nicht mehr sehr viele Mitglieder übriggeblieben, neue mussten in die Materie eingearbeitet werden. Roger Bestmann bemühte sich mit zunehmender Verzweiflung um Motivation, Frau Pfiffich tippte, servierte Kaffee und Kekse. Ihre Rechnungen wurden jetzt manchmal mit unerfreulicher Verzögerung beglichen, die Gründe dafür ließen sich nicht ermitteln.
Der interne IT-Leiter kündigte, weil er das ganze Projekt für technisch undurchführbar hielt. Frau Pfiffich beschwerte sich bei Stefan Saubermann wegen der ausstehenden Zahlungen. Saubermann wand sich, versprach aber baldige Abhilfe.
Beim nächsten Treffen mit Kevin Blender stellte sich heraus, dass auch die Zahlungen an seine Firma nicht mehr regelmäßig eintrudelten. Er machte deutlich klar, dass er sich aus dem Projekt zurückziehen werde, wenn das Geld nicht umgehend fließe. Stefan Saubermann befand sich auf einer längeren Geschäftsreise in den USA. Nach seiner Rückkehr gönnte er sich einen einwöchigen Ski-Urlaub, der mit einem komplizierten Beinbruch endete und ihn auf unabsehbare Zeit von der Arbeit fernhielt.
Vertriebsleiter Johannes Holderstein übernahm die Vertretung. Man munkelte, er warte schon lange auf Saubermanns Abgang und sehe nun seine große Chance. Neue Ideen tauchten plötzlich auf, die wiederum installiert und getestet werden mussten, und bald wurde klar, dass auch der 1. April nicht zu halten sein würde. Man einigte sich auf den 1. Juli. Frau Pfiffich war froh, ihren Asien-Urlaub noch nicht gebucht zu haben. Stefan Saubermann sandte freundliche Grüße aus der Reha. Nicht dass ihn jemand vermisst hätte.
Man konnte sagen, es kam neuer Schwung in die Sache. Holderstein, einem mit allen Wassern gewaschenen Vertriebsmenschen, gelang es sogar, in zähen Verhandlungen einen weiteren Zuschuss aus der Londoner Zentrale zu bekommen. Die ursprüngliche Projektkalkulation war sowieso längst aus dem Ruder gelaufen, wie Frau Pfiffich, die auch die Kostenübersicht führte, seit Längerem mit Besorgnis festgestellt hatte.
Dennoch überraschte es niemanden, dass der 1. Juli im Jahr 2 ins Land ging, ohne dass das System zufriedenstellend arbeitete. Die ewigen Nörgler, die schon immer gewusst hatten, dass das alte System wesentlich besser war, liefen noch einmal zur Hochform auf. Holderstein hielt eine bemerkenswerte Rede an die gesamte Belegschaft, dass man sich jetzt noch einmal tüchtig ins Zeug legen und es den hohen Herren in London einmal so richtig zeigen müsse. Kevin Blender brachte einen weiteren Kollegen von Better Projects ins Spiel, der jetzt jede Woche an den Team-Meetings teilnahm und mit viel Sachlichkeit ausufernde Diskussionen und Vorstellungen zu kontrollieren wusste. Die Rechnungsbeträge von Better Projects stiegen entsprechend.
Die Auftragseingabe in der Vertriebsabteilung erfolgte jetzt hundertprozentig parallel, letzte Zweifler mussten zugeben, dass einiges mit dem neuen System doch leichter und übersichtlicher gestaltet werden konnte. Die hierzu nötigen Überstunden würden bei der ohnehin knappen Personaldecke nie und nimmer abgebummelt werden können, der Betriebsrat erreichte in zähen Verhandlungen mit Johannes Holderstein einen für alle zufriedenstellenden finanziellen Ausgleich.
Mittlerweile ging der 2. Herbst ins Land, Stefan Saubermann gab seinen vorgezogenen Ruhestand bekannt, Johannes Holderstein wurde offiziell zu seinem Nachfolger ernannt und zog noch am selben Tag in das große Chefbüro. Was er bald danach an unsauberen Machenschaften von Saubermann aufdeckte, gehörte nicht zum Projektgeschehen.
Das offizielle GO war dann der 1. Januar, wenn auch während des gesamten Monats zur Sicherheit weiterhin parallel gearbeitet wurde. Die Konzernzentrale gratulierte.
Nach zwei Jahren Projektarbeit und einer Verdreifachung des ursprünglichen Budgets begoss das Team das glückliche Ende in einer großen Sause im Vergnügungsviertel der Stadt. Man erzählte in der Firma noch lange davon.
Carola Pfiffich startete kurz darauf mit einer gut gefüllten Reisekasse in einen mehrwöchigen Asien-Urlaub. Wieder mal ein Projekt, das sich gelohnt hatte.
Drei Jahre später wurden alle europäischen Dongle-Niederlassungen aufgelöst. Die Geschäfte liefen jetzt ausschließlich über London, wo man mit einem hochkomplizierten Warenwirtschaftssystem neuester Bauart arbeitete. Es hieß, auch Roger Bestmann und drei weitere ehemalige Projektmitglieder von Dongle Deutschland hätten dort aufgrund ihrer weitreichenden Erfahrungen einen neuen Arbeitsplatz gefunden.
Carola Pfiffich verdiente noch mehrere Jahre lang gut an ähnlich gelagerten Projekten.