Marionette
Text
von Alex
Kai und Luca saßen am Tisch, die Tassen vor sich leer. Draußen schlug Regen gegen das Fenster.
„Du redest nie viel über früher. Über die Zeit, bevor alles anders wurde. Wie hast du dich damals gefühlt?“ Luca sah Kai an, ruhig, aber neugierig. Seine Stimme war leise, fast so, als wolle er nichts aufschrecken.
Kai zog langsam an seiner Zigarette, hielt den Rauch einen Moment in der Lunge, als könnte er darin etwas festhalten, was ihm entglitt. Dann ließ er ihn in die Luft steigen.
„Früher war ich nicht wirklich da“, begann er. „Ich hab nicht in meinem Körper gelebt. Ich war nur in meinem Kopf. Der Körper war ein Gefängnis – ein fremdes Stück Fleisch, das ich mit mir herum schleppte. Ich hab ihn gespielt, wie eine Marionette."
Kai lachte leise, trocken.
"Ich dachte, es geht allen so, nur spricht niemand darüber. Ich dachte, wenn der Körper sich schon wie ein Fremdkörper anfühlt, dann kann man ihn wenigstens benutzen. Als Werkzeug.“
Er hielt kurz inne, drehte die Zigarette zwischen den Fingern. Der Rauch kräuselte sich langsam Richtung Decke, als würde er sich weigern, eine klare Richtung zu nehmen.
„Ich wusste, wie ich bei Typen das rausbekommen konnte, was ich brauchte. Zuneigung. Einen warmen Schlafplatz. Geld. Ich wusste, wie ich meinen Körper einsetzen konnte, um zu bekommen, was ich wollte. Oder glaubte, zu brauchen. Und das gab mir eine Art Macht. Ein Gefühl von Erhabenheit.“
Luca nickte langsam, ließ die Worte in sich wirken. Dann fragte er vorsichtig: „Also hast du dich nie wirklich selbst gefunden, bis du angefangen hast, dein Mannsein zu akzeptieren?“
„Ja“, sagte Kai nachdenklich. „Testosteron war der erste Schritt. Aber nicht, weil ich es unbedingt wollte. Es war mehr wie ein Fluss, der plötzlich die Richtung änderte, und ich war einfach mitgerissen. Dann war da dieses neue Körpergefühl – roh, ehrlich, manchmal brutal. Es war, als würde ich meinen Körper zum ersten Mal wirklich wahrnehmen. Als würde mein Körper mich fragen: Willst du wirklich hier sein? Willst du wirklich leben? Willst du endlich du sein? “
„Und das war der Moment, als du begonnen hast, dich selbst zu finden?“, fragte Luca leise.
Kai nickte. „Ich hab angefangen, in meinem Körper zu leben, anstatt nur in meinem Kopf. Nicht, weil ich es unbedingt wollte. Sondern weil es keine Ausflüchte mehr gab. Mein Körper fing an, sich vertrauter anzufühlen. Als würde er sich langsam in ein Zuhause verwandeln.“
Kai schwieg kurz, dann flüsterte er: „Manchmal vermisse ich das Gefühl von früher. Ich konnte mich von meinem Körper loslösen, wenn es zu viel wurde. Dann fühlte ich kaum noch was. Das gab mir eine Art Freiheit. Ein Gefühl von Kontrolle über alles, was ich nicht kontrollieren konnte.“
Luca schaute ihn an, seine Stimme war sanft: „Du hast deine eigenen Mittel gefunden, um dich zu schützen.“
Kai nickte. „Ja. Ich habe mich von meinem Körper getrennt, um nicht mit ihm kämpfen zu müssen. Aber damals war mir das nicht so bewusst wie heute.“
Er zögerte. „Und jetzt, wo ich ihn wirklich spüre… ist alles intensiver. Schön, manchmal. Aber oft auch nervig. Überfordernd. Laut.
Er schwieg kurz, dann sprach er leiser weiter: „Früher hab ich die Dysphorie nicht wirklich gespürt. Jedenfalls nicht als das, was sie war. Sie war einfach... ein permanentes Unbehagen. Eine Taubheit.
Jetzt ist sie präzise. Und sie tut weh. Aber ich weiß auch, dass ich etwas dagegen tun kann. Und ich will es. Ich hab mich noch nie so lebendig gefühlt.“
Luca legte eine Hand auf den Tisch, nicht ganz an Kais, aber nah genug. „Es klingt, als würdest du jetzt wirklich leben.“
Kai sah ihn an. Lang. Dann sagte er leise: „Ja. Und es ist verdammt anstrengend. Aber es ist auch verdammt schön.“