Seelenarchitektur
Text zum Thema Innenwelt
von J.B.W
Seelenarchitektur
von J. B. Weber, 2024
Ich trage einen Geist in mir, der mir, seit ich denken kann, in ungesunder Weise zu groß geraten ist. Nicht im Sinne einer Auszeichnung, vielmehr wie ein Kleidungsstück, das nicht passt – es verrutscht, es stört, es legt bloß, was besser verborgen bliebe, und schnürt zugleich das ein, was sich frei entfalten sollte. Mein Intelligenzquotient wurde einmal mit 142 beziffert – eine Zahl oberhalb jenes Schwellenwerts, der von skurrilen Organisationen wie ein falscher Gott verehrt wird, in Wahrheit jedoch eher Fluch als Gabe ist. Intelligenz in solcher Ausprägung bedeutet keine Leichtigkeit, sondern Entfremdung.
Die Welt offenbarte sich mir nie schrittweise oder zögerlich, sondern stets wie ein entblößtes Uhrwerk: jede Bewegung durchschaubar, jede Lüge vorhersehbar, jede soziale Geste eine Wiederholung bekannter Muster – dadurch jedoch nicht im Mindesten begreiflicher. Smalltalk erschien mir stets als ein Ritual der Leere. Ich sehe Menschen sprechen, höre sie lachen, erkenne den Zweck dahinter – Nähe zu simulieren, Unsicherheit zu verbergen, Zeit zu füllen – und empfinde dabei: nichts. Ich dramatisiere. Mitunter fühle ich etwas, Mitleid, häufiger Müdigkeit, selten Anteilnahme, kaum je echtes Interesse oder Neugier.
Bitte missverstehen Sie mich nicht: Es ist nicht Arroganz, die mich trennt, sondern die Überfülle an Einsicht. Ständige Klarheit verzehrt jedes Geheimnis und macht das Leben karg. Um nicht bereits als Kind unter dem Gewicht meiner eigenen Gedanken zu zerbrechen – oder später an Langeweile und Teilnahmslosigkeit zu vergehen –, habe ich mich und meine geistigen Kapazitäten aufgeteilt. Nicht körperlich, versteht sich, sondern in meinem inneren Aufbau. Ich habe Bewusstseinssektoren eingerichtet, um zu verhindern, dass sich irgendwo in mir einmal eine so umfassende Erkenntnis über die Beschaffenheit der Welt bilden würde, dass sie für mich nicht mehr zu ertragen wäre.
Einer dieser Räume gehört etwa dem Gärtner der Träume. Er hat keinen Zugang zur Welt der Logik, keinen Schlüssel zum Archiv der Fakten, er ist nicht bedroht von der scharfen Klinge des Verstandes. Seine Hände sind schmutzig von Imagination, seine Augen spiegeln nichts Wirkliches. Er pflanzt Bilder, gießt sie mit Sehnsucht und erntet seine Träume, während andere graue Theorien durchkauen. Ihm allein habe ich die Lizenz erteilt, sich mit Dingen zu befassen, die keinen Nutzen haben: Farben, Metaphern, Nebel. Fantasie, die mir als Ganzes, mit vollem Zugriff auf meine Seele, zu gefährlich geworden wäre. Doch er gibt all das weiter, damit es nicht verloren geht.
Ein weiterer Sektor widmet sich der Analyse. Nüchtern, beinahe grausam in seiner Effizienz. Unempathisch, ja – aber ich gewähre diesem erbarmungslosen Analytiker keine vollständige Kontrolle, zumindest nicht in der wirklichen Welt, nicht, wenn Menschen anwesend sind. Er würde sie sezieren, nicht verstehen.
Dieser Hofstaat meiner geordneten Seele umfasst mittlerweile wohl fünfzig oder mehr solcher Instanzen. Irgendwo zwischen diesen Gestalten, auf ihren Thronen im Palast meines Inneren sitzend, wandelt mein Selbst umher – wie ein müder, doch gelassener Verwalter, dem manche Räume seines eigenen Hauses fremd geworden sind.
Ich bin ein System. Eine Architektur des Verstandes. Eine Maschine, die sich sehnt.
Vor einigen Tagen habe ich es gewagt, den Versuch unternommen, mehr Vermögen auf ein einziges Mitglied zu konzentrieren als sonst: den Autor. Die Ergebnisse waren in einem Maße erfreulich, dass mir – nach anfänglicher Euphorie – ein Schauder über den Rücken lief bei dem Gedanken, was geschehen könnte, stünde diese Kraft einmal im Dienst eines dunkleren Mitglieds meines inneren Hofstaats.
Doch das Risiko lohnt. Das Lustwandeln zwischen Gedanken, das Malen mit Worten, Geist und Leidenschaft, das Betrachten des fertigen Bildes, den Interpretationen lauschen – es ist ein zu gutes Gegengift gegen die Tristesse.
Ich bin nicht mehr das Kind, das ich war, der Verwalter meines Wesens ist weise geworden; er bestimmt nun, wer die Krone trägt im Palast meiner Seele – und er weiß mit Sicherheit, wer sie niemals tragen darf.
Das Schlusswort gebührt dem Kritiker:
„Für ein Selbstbild voller Intelligenz und Ratio ist der Ton bemerkenswert pathetisch! Aber gut – Erkenntnis schützt bekanntlich nicht vor Illusion, auch nicht im Lichte der behaupteten Nüchternheit.
Man kann eben nicht alles sein und gleichzeitig wissen, wie es um die Welt steht.“