Die Ausstellung

Text zum Thema Abschied

von  Elia

Im Herzen der Stadt, kaum zweihundert Meter von seiner Wohnung entfernt, liegt ein kleines Museum, das Liebesmuseum. Von außen unscheinbar, mit den alten Fenstern, die schon viele Jahre in die Straßen hinausblicken. Innen, verborgen zwischen Ausstellungsstücken und Regalen, ruhen ihre Briefe. Zwei zarte Dokumente eines Lebensgefühls: der eine in der Form eines Gedichts, fein gesetzt, als wolle jedes Wort sich ins Herz eingraben; der andere ein stiller Wunsch, fast ein Gebet, dass es vor dem letzten Abschied noch einmal ein Wiedersehen gibt.



Sie hat die Briefe dort abgegeben wie eine Flaschenpost, zwar nicht ins Meer geworfen oder in den Wind geschrien – aber einem Haus voller Geschichten anvertraut, damals als das Museum einen Aufruf startete, Liebesbriefe einzureichen. Dort liegen sie nun, zwischen all den anderen Zeugnissen der Zuneigung und anderen Dingen, die Menschen aufbewahren, damit sie nicht verschwinden.



Seither geht sie am Museum immer vorbei. Manchmal langsam, manchmal schneller, manchmal mit einem Blick zur Fassade. Aber sie tritt nicht ein. Denn solange sie die Schwelle nicht überquert, bleibt alles möglich: Vielleicht sind die Briefe in einer Schublade verschwunden, im Archiv, in einem Aktenordner, vielleicht hängen sie in einem Rahmen an der Wand, so dass er sie entdecken kann, vielleicht hat er sie sogar schon entdeckt, vielleicht noch nicht. Vielleicht warten sie sichtbar auf ihn, vielleicht sind sie längst durch fremde Hände gegangen und dann verschwunden.



Sie kann das Museum nicht besuchen. Zu wissen, was aus ihren Briefen geworden ist, ist zu viel. Sie braucht kein “So ist es.” Sie benötigt ein "Vielleicht". Darin liegt ihr Hoffnungsraum. Es ist, als hätte sie eine Kerze angezündet, die verlassen vor sich hin flackert – weiter und weiter, so lange jedenfalls, wie man nicht hingeht und den Docht ausbläst.



Es sind unscheinbare Nachmittage. Er geht durch die Straßen, gedankenverloren. Manchmal kommt er vom Sport, manchmal von der Arbeit. Das kleine Museum liegt wie immer auf seinem Weg – er beachtet es kaum, so wie man Häuser übersieht, die schon ewig dort stehen.



An einem Tag aber zieht ihn etwas hinein. Eine spontane Laune, angestoßen durch den Nieselregen. Er betritt die Eingangshalle, schlendert an den Vitrinen entlang, steigt die Treppe hinauf, betritt beiläufig den Liebesbriefraum. Er erwartet nichts.



Und dann, zwischen den vielen anderen an der Wand, zwei Briefe. Kein Name, kein Absender, doch sofort ein leises Erkennen. Die Handschrift. Der Ton. Die Art, wie Worte ineinandergreifen. Wie eine Stimme aus der Vergangenheit, die er eigentlich für verstummt hielt.



Er bleibt stehen. Erst Unglauben, dann ein leichtes Frösteln. Er liest. Jedes Wort legt sich auf ihn wie eine Erinnerung, schwer und doch vertraut. Da ist das Gedicht, das den Klang von ihr trägt. Er kennt es. Sie hat es ihm geschickt und er war erschrocken. Und im anderen der Wunsch, still und klar: nur, ihn wiederzusehen, bevor alles endet.



Er liest, und er weiß: Diese Briefe sind für ihn bestimmt. Für niemanden sonst.


Ein Ausdruck überzieht sein Gesicht, den lange keiner gesehen hat – eine Mischung aus Wehmut und einem Lächeln, das aus einer alten, tiefen Verbundenheit kommt.



Er geht hinaus. Die Straßen sind wie immer, die Menschen eilen, das Leben läuft. Doch er trägt jetzt etwas mit sich, das er nicht mehr abstreifen kann: den Beweis, dass er nicht vergessen ist, dass ihr Herz ihn noch immer festhält.


Draußen vor dem Museum bleibt er stehen. Er hält das Handy in der Hand, dreht es zwischen den Fingern, steckt es wieder ein.


Da ist ein Drang – sofort zu schreiben, sofort eine Brücke zu schlagen.


Und zugleich eine Angst – was, wenn es sie wieder in einen Strudel unerfüllbarer Sehnsucht zieht und einen Schmerz, den zu erleben er schon einmal kaum ertragen konnte?



Er geht ein paar Schritte, bleibt wieder stehen. Er denkt an die Zeit, an ihr Gesicht, an die Umarmungen, die mal Trost, mal Spannung waren. Er denkt an die Distanz, die er schaffen musste, um sich selbst zu schützen.



Das Leben hat ihn weitergetragen. Aber die Briefe holen ihn zurück, für einen Augenblick, in diese alte Intensität.



Er weiß: Meldet er sich, öffnet er wieder eine Tür, von der er nicht weiß, ob er sie schließen kann. Meldet er sich nicht, lässt er das Geheimnis dieser “Flaschenpost” bestehen.



Er lässt das Handy in der Tasche, geht heim,  bleibt still. Ihre Worte gehen mit, legen sich lautlos über die Geräusche der Straße. In seinem Inneren dreht sich der Impuls, ihr zu schreiben, wie ein Karussell. Ein Satz nur? Ein „Ich habe sie gelesen.“? Aber er weiß um die Kraft, die ihre Sehnsucht entfalten könnte. Jedes Zeichen von ihm rührte an vernarbte Wunden. Was wäre das gegen ein irrlichterndes Aufflackern von Glück, welches sofort wieder erlischt.



Wieder geht sie am Museum vorbei. Sie schaut zum Eingang. Doch ihre Füße tragen sie weiter. Sie weißt nicht, ob die Briefe ihn dort jemals erreichen werden.



Manchmal stellt sie sich vor, dass er sie findet und liest. Sie sieht sein Gesicht vor sich, wie er die Briefe entdeckt, überrascht, konzentriert, vielleicht ein kleines Lächeln, vielleicht auch Stirnfalten. Aber es bleibt Fantasie.

Wochen und Monate vergehen. Keine Nachricht. Kein Zeichen. Nur das Schweigen. Sie ahnt, er meldet sich nie, aber alles ist gesagt. Und das ist ihr Friede. 





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