Vom Glück in den Bergen
Reportage zum Thema Wagnis
von Citronella
Sicher ist das jedem von uns schon mal passiert: Man liest von einem Unglück, einer Naturkatastrophe, einem Anschlag irgendwo auf der Welt und denkt: Oh, da war ich auch schon mal. Das hätte auch mir passieren können!
Das krasseste Beispiel in meinem Leben war der Überfall auf eine Touristengruppe in Costa Rica und die Entführung der Reiseleiterin und einer weiteren jungen Frau aus einer abgelegenen Lodge. Mit eben dieser Reiseleiterin waren wir ein Jahr zuvor in derselben Lodge untergebracht gewesen – ein Albtraum und großes Aufatmen, als die beiden Frauen unversehrt wieder freigelassen wurden.
So schlimm ist es glücklicherweise nicht immer. Dennoch erschrak ich, als ich kürzlich von einem beachtlichen Felsabsturz nahe dem Trischübel-Pass im Berchtesgadener Land las – einige Touristen in der Nähe hatten großes Glück gehabt und blieben unverletzt. Und ich dachte wieder an meine anstrengendste Bergtour.
Jahrelang hatte ich diesen Traum im Hinterkopf behalten, nachdem ich irgendwo eine Beschreibung dieser wunderschönen Tour rund um den Watzmann gelesen hatte. Aber vorerst blieb es ein Traum, bis ich meine Kondition von Urlaubsjahr zu Urlaubsjahr (unterstützt zu Hause durch regelmäßiges Fitnesstraining) gesteigert hatte. Im Urlaubsort machten es etliche Wanderfreunde wie ich: Zu Urlaubsbeginn ging man auf eine geführte Nachmittagstour, die regelmäßig von einem Sportgeschäft angeboten wurde, lernte dort nette Leute kennen und verabredete sich mit denen dann zu weiteren Wanderungen.
So lernte ich im Jahr zuvor auch Hiltrud kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb und unternahmen zwei sehr schöne Wanderungen. Für den nächsten September verabredeten wir uns locker – und es klappte.
Hiltrud schien mir in doppelter Hinsicht ein Glücksfall als Begleiterin: Als geübte langjährige Bergwanderin, die mehrmals im Jahr auf Tour mit dem Alpenverein und sogar schon im Himalaya gewandert war, und als frühere Krankenschwester, was mich besonders beruhigte, falls ich mich einmal verletzen sollte. Sie war zwar noch etwas älter als ich, doch doppelt so fit.
Und so starten wir an einem ruhigen Septembermorgen mit dem sehr frühen Bus zum Königssee, um mit dem ersten Boot um 8.00 Uhr nach St. Bartholomä zu gelangen. Ein Frühstück konnte ich zu dieser frühen Stunde im Hotel nicht mehr bekommen, aber man hat mich mit einem sehr opulenten Lunch-Paket ausgestattet, das mich noch bis zum Abend versorgen wird.
Die Passagiere auf dem Boot bestehen zu dieser frühen Stunde ausschließlich aus Wanderern mit dicken Rucksäcken und festen Stiefeln, allesamt sehr gut gelaunt in Vorfreude auf einen schönen Tag. Der erste Proviant wird ausgepackt. Anscheinend haben viele Andere auch zu Hause nicht mehr gefrühstückt.
Das Interesse an der obligatorischen Darbietung des Trompeters vor der Echowand hält sich bei dieser Klientel in äußersten Grenzen, seinen Obolus bekommt er aber trotzdem von allen. An der Anlegestelle bei St. Bartholomä teilen sich die Wanderer auf verschiedene Routen auf. Unser Weg, auf dem wir bald allein bleiben, führt zunächst auf ebener Strecke durch den Wald. Die Luft riecht würzig, der Königssee im noch leichten Dunst schimmert ab und zu durch die Bäume. Ich bin in Hochstimmung, aber auch ein wenig besorgt, ob ich mir mit dieser Tour nicht zu viel zumute.
Der Anstieg fällt mir dann leichter als erwartet. Hiltrud in ihrer besonnenen Art gibt das Tempo vor und weist mich manchmal auf Gefahrenstellen hin. Es geht zwei bis drei Stunden flott voran. Ein Blick hinüber auf den Zickzackweg der Saugasse lässt Erinnerungen an eine meiner ersten großen Bergtouren im zarten Alter von 16 Jahren aufkommen, mit einem kundigen Begleiter. Die Übernachtung im Kärlingerhaus am Funtensee werde ich nie vergessen – wegen des Durcheinanders von Männlein und Weiblein im Schlafraum, dem Schnarchen einiger Männer und dem Schweißgeruch aus feuchten Socken. Auf dieser Tour erlebte ich auch mein einziges Gewitter in den Bergen, ein furchterregendes Dröhnen rundherum. Ich ging deshalb später nie bei unsicheren Wetterlagen auf eine Tour.
Die Sigeretplatte mit ihrem in den Fels gesprengten, schmalen Steig direkt am Abgrund verlangt uns große Aufmerksamkeit ab. Glücklicherweise gibt es eine Seilsicherung, doch bin ich froh, als wir die Felsüberhänge hinter uns gelassen haben. An der Sigeretalm gönnen wir uns eine längere Brotzeitpause. Der Blick auf die umliegenden Gipfel in der strahlenen Vormittagssonne ist einzigartig. Zur Vervollständigung des Bildes kreisen und schreien hoch droben zwei Steinadler.
Zum Trischübelpass auf ca. 1770 m Höhe ist es nun nicht mehr weit, und bald fällt unser Blick in die unwirkliche weite Kraterlandschaft des Wimbachgries. Mir wird bewusst, welche Strecke wir immer noch vor uns haben. Aber ab jetzt geht es zumindest nur noch bergab.
Am frühen Nachmittag haben wir die Wimbachgrieshütte auf etwa 1.300 m erreicht und lassen uns erst einmal einen Kaffee und eine große Portion Kuchen schmecken. Die Tatsache, dass ich es schon bis hierher geschafft habe, macht mich unendlich stolz. Jetzt gilt es nur noch, den langen zähen Weg durch das Gries zu überstehen.
Der Pfad durch das Geröll zieht sich, nur 8 km sollen es etwa sein. Irgendwann bewegen sich die Füße wie von selbst, ich gehe wie in Trance. Die Wimbachklamm lassen wir rechts liegen, ich kenne sie von früher. Und dann kommen endlich die ersten Häuser vor der Wimbachbrücke in Sicht, einschließlich eines kleinen Biergartens, in dem wir uns erschöpft niederlassen. Bei einer Radler Halben lassen wir den Tag noch einmal Revue passieren. Bis zur Busabfahrt an der Brücke bleibt uns noch eine gute halbe Stunde.
Stolz wie Bolle kehrte ich abends ins Hotel zurück und genoss erst einmal ein langes Vollbad. Eine vergleichbar anstrengende Tour habe ich danach nie mehr gemacht. Schließlich war ich in jenem Jahr schon 60. Zu einer 5-Stunden-Tour brachen Hiltrud und ich allerdings schon am übernächsten Tag wieder auf, noch mit einem leichten Muskelkater. „Ihr Bergziegen“ nannte ihr Mann uns, der lieber gemütlich mit dem Hund im Tal herumspazierte und dabei ein Pfeifchen rauchte.
Wo genau sich neulich der Felsabsturz ereignete, konnte ich nicht herausfinden. Der Trischübelpass ist jedenfalls erst einmal für längere Zeit gesperrt, da man weitere Risse im Gestein entdeckte, die zu neuen Abbrüchen führen könnten. Schade für die Wanderer, die vielleicht jetzt im Herbst gerne diese Route gegangen wären. Und für mich noch einmal das unbändige Glücksgefühl, diese Tour damals unbeschadet geschafft zu haben.