Entscheidung über Leben und Sterben
Theaterstück zum Thema Egoismus
von KopfEB
Setting: Familienküche, Bühnenbild mit Fenster durch das man auf der anderen Straßenseite ein Vorstadthaus in Herbstkulisse sieht, auf der Bühne ein gefesselter und bewusstloser Mann auf einem Stuhl, um seinen Kopf ein technikgespicktes Stirnband (an Dornenkrone erinnernd) und um den Hals einen Sprengstoffgürtel, Zweiter Mann in teurem Anzug mit einer Pistole davor stehend (1. Mann auf der Bühne links mit dem halbrechten Profil zum Publikum, 2. Mann rechts mit halblinkem Profil), hinter ihm ein zweiter Stuhl neben einem Tisch auf dem ein Schal und eine Winterjacke liegen, Countdown-Uhr im oberen Bühnenoff hängend, in roten Digitalzahlen auf 30 Minuten gestellt, leise tickend runterzählend, sobald das Stück beginnt:
1. Mann erwacht: Hm, wa-, hmm, was ist, … was ist los? Wo bin ich? Was ist hier…
1 zerrt an seinen Fesseln
2. Mann: Grinsend Guten Morgen Sonnenschein! Na, ausgeschlafen?
1: Was? Wer … wer sind Sie? Was soll das, warum bin ich gefesselt?! Was wollen Sie?
2: Wer ich bin ist egal, was ich will aber, ist wichtig. Wichtig für dich, also hör gut zu. Denn du musst wissen, das, was du da um deinen Hals trägst, das ist eine Bombe. Und die geht in genau…
2 schaut auf seine Rolex-Armbanduhr
2: …29 Minuten in die Luft.
1: Warum? Was … was wollen Sie?
2: Ich will, dass das nicht passiert.
1: Das trifft sich gut, das will ich nämlich auch!!
2: Sehr gut, dann werden wir ja keine Probleme kriegen, wir Zwei! Nicht wahr? Denn du, du kannst das verhindern, dass das passiert. Siehst du das Haus da drüben? Guck aus dem Fenster!“
2 weist mit der Pistole zum Fenster, 1 dreht den Kopf, schaut hinaus über die Straße auf das Vorstadt-Einfamilienhaus und nickt
2: Gut. Siehst du, dort drüben, da leben Leute, keine netten Leute musst du wissen, auch niemand wichtiges, einfach Leute, … die sterben müssen.
1: Wäre es dann nicht klug gewesen, denen eine Bombe an den Hals zu binden anstatt mir?
2 schlägt 1 mit der Waffe in den Magen, 1 krümmt sich und hustet keuchend
2: Schlaumeier! Wenn das eine Option gewesen wäre, hätt´ ich´s getan. Nein, das wird nichts, ich brauche jemand Anderen, der das für mich übernimmt…
1: Erstickt Ich soll deinen Nachbarn … eine Bombe um den Hals legen?
2: Wie du´s anstellst ist mir egal! Schnapp dir ein Messer und schlitz sie auf, spreng sie in Stücke, erdrossle sie mit deinen eigenen Haaren, wenn du willst! Aber wenn die Beiden in…
2 blickt auf die Armbanduhr
2: …27 Minuten nicht TOT sind, dann wird diese Sprengladung deinen Kopf in eine rosarote Wolke verwandeln.
1: Ich verstehe. Kurzes Innehalten Warum müssen sie sterben?
2: Ist das wirklich wichtig?
1 denkt erneut kurz nach
1: Nein, eigentlich nicht. Mach mich los.
2: Sofort, aber vorher muss ich dich noch warnen. Du hast es vielleicht nicht bemerkt, aber du trägst auch ein Headset, das Bild und Ton als Livestream zu meinem Boss sendet.
2 weist Richtung Obergeschoss
2: Sobald du irgendwas machst, was ihm nicht gefällt, drückt er den Knopf und du bist bloß noch eher hinüber. Also komm nicht auf dumme Gedanken. Und glaub lieber nicht, dass er nicht abdrückt, nur weil ich mit im Raum bin. Ich bin ihm wichtiger als du, aber nicht so sehr. Wenn du ihn zwingst, sind wir im Zweifelsfall Beide dran. Wir sitzen im selben Boot.
1: Verstanden.
2 geht zum Stuhl, zieht ein Messer und durchtrennt die Fesseln. 1 schüttelt vorsichtig seine Hände aus und setzt sich in eine bequemere Position, macht aber keine Anstalten, sich zu erheben. 2 geht zum zweiten Stuhl, zeigt auf Schal und Jacke, setzt sich dann, wartet kurz und wundert sich zunehmend.
2: Was ist? Warum gehst du nicht los? Das Haus ist gleich da drüben, zieh dir die Sachen an, dann sieht man deine Equipment nicht.
1: Nun, wenn ich darf, fasse ich kurz zusammen. Nur für den Fall, dass ich irgendetwas missverstanden haben sollte. Ich trage eine Bombe, die mein Leben in…“
Fragender Blick von 1 gefolgt von auf die Rolex schauen von 2
2: 24 Minuten.
1: …die mein Leben in 24 Minuten beendet. Bis dahin muss ich mich entscheiden, ob ich deine Nachbarn umbringe oder nicht und die Entscheidung auch in die Tat umgesetzt haben. Soweit Alles richtig?
2: Alles richtig.
1: Dann bin entweder ich dumm oder deine Frage.
2 steht perplex da und starrt 1 an
2: Bist du lebensmüde? Was soll das?
1: Na, die Antwort auf deine Frage liegt doch auf der Hand. Oder nicht?
2 schaut ihn verzweifelnd an
1: Nun, sag mir nochmal, was war gleich meine Entscheidung?
2: Ob du darüber gehst und die Schweine kalt machst oder stirbst!
1: Nein! Das ist nicht meine Entscheidung.
2 nähert sich 1 mit erhobener Waffe und hält ihm die Mündung an die Schläfe
2: Willst du mich verarschen? Das hast du doch gerade selbst gesagt!
1: Was ich gesagt habe, ist, dass ich entscheiden muss, diese Menschen zu ermorden…
1 nickt zum Fenster
1: …oder nicht.
2: Aber wenn du es nicht tust, stirbst du!
2 verleiht dem mit seiner Waffe Nachdruck
1: Ja, das ist zwar wahr, aber nicht meine Entscheidung! Das ist deine Entscheidung oder die deines Bosses. Aber der wird mich ja vermutlich nicht selbst entführt und so präpariert haben. Das dürfte doch wohl deine Entscheidung gewesen sein, das zu tun.
2: Der Boss hat´s befohlen.
1: Aber du hast dich entschieden, dem Befehl zu folgen. Jedenfalls hab ich bis hierhin gar nichts entschieden oder zu entscheiden!
2: Aber jetzt, jetzt musst du dich entscheiden. Willst du sterben?
1: Das ist auch meine Entscheidung?! Dann wähle ich zu leben! Nimm mir das Ding ab und lass mich gehen.
2: DAS bestimmst nicht DU!
1: Siehst du?! Meine Entscheidung ist nicht, ob ich lebe oder sterbe! Das ist deine Entscheidung und die deines Bosses. Nicht meine. Meine Entscheidung ist, ob ich tue, was du von mir verlangst. Und so betrachtet solltest du den Umstand, der dich so verwundert hat, nämlich dass ich hier sitzen bleibe, sehr leicht verstehen können. Daher meine Annahme, dass einer von uns Beiden nicht ganz so helle ist. Entweder ich verstehe die Situation falsch oder deine Frage war dumm.
2 schaut 1 vollkommen verdattert an
2: Was? Das … ergibt keinen Sinn! Wenn du nicht darüber gehst, explodiert deine Birne Mann! Und selbst wenn ich wollte, ich könnte dir das Halsband gar nicht abnehmen. Solange der Zünder scharf ist sollte lieber niemand dran rumspielen, geschweige denn abnehmen. Und entschärfen kann das Ding nur der Boss.
2 wirft einen Blick nach oben
1: Nun, das nimmt dich - zumindest teilweise - aus der aktuellen Entscheidung meinen Tod betreffend heraus. Du könntest natürlich deinen Boss überreden, die ganze Sache abzublasen, aber deine Entscheidungen, die uns Beide hierhergeführt haben, hast du bereits getroffen, das stimmt. Daran lässt sich nichts mehr ändern. Ebenso wenig wie an denen, die ich, wenn auch im Gegensatz zu dir der Konsequenzen nicht gewahr, getroffen habe und die mich hierhergeführt haben. Mit diesen Konsequenzen müssen wir jetzt Beide leben, obschon du offensichtlich ungleich länger als ich. Aber darum beneide ich dich nur in einer einzigen Hinsicht, ansonsten ist dir mein Mitleid gewiss: Ich beneide dich um die Gelegenheit, aus deinen Entscheidungen und ihren Konsequenzen noch lernen zu können. Das scheint mir nicht mehr vergönnt zu sein und das ist ein wahres Verbrechen, dass du dir da ins Lebensbuch geschrieben hast. Ich für meinen Teil bin dazu nicht bereit.
2: Was für eine Mickey-Mouse-Scheiße ist das?! Du hast echt ein schräges Weltbild, Mann. Konsequenzen? Die Konsequenz deiner Entscheidung ist, dass dir der Kopf vom Hals katapultiert wird! Und du laberst so einen Bullshit. Glaubst du, das ändert irgendwas für dich?
1: Für mich nicht, aber das ist auch nicht wirklich wichtig. Und die Konsequenz meiner Entscheidung ist nicht mein Tod, sondern dass ihr entscheiden müsst, mich zu töten oder es zu lassen. Aber in diese Position habt ihr euch ganz alleine doch eh schon gebracht. Ich bin sicher, ich wäre nicht der Erste und vermutlich nicht der Letzte. Und solange ihr es klug genug anstellt, könnt ihr wahrscheinlich sogar irgendwie davon profitieren. Aber niemand sonst. Andere werden nur Leid ernten. Und wenn der Tag dann kommt, an dem es für euch soweit ist, - und dass er kommt, ist die einzige Garantie des Lebens - wenn dann also einmal all eure Tage gestorben sind, ist Alles, was ihr hinterlasst, nur noch das Leid, das die Welt zugrunde richtet. Eure Freude ist vergangen, eure Vergnügungen Staub in der Zeit und eure Anhäufungen von Reichtum werden in Händen liegen, die nach eurem Vorbild ebenfalls nichts als Leid verursachen, um diese Haufen noch größer stapeln zu können. Ich hingegen habe meine Tage in dem Bewusstsein gelebt, welcher Natur meine tatsächlichen Entscheidungen sind und was ich hinterlasse, wenn ich gehe, sei es nur für den Moment oder für immer. Wenn ich heute hier sterbe, dann bleibt von mir vor allem das, was gut ist zurück. Mein Erbe wird kein Leid sein, deswegen fürchte ich weder das Leben, noch den Tod. Und das ist der einzig wahre Reichtum, denn man in dieser Welt finden kann, Unsterblichkeit. Nennt es Himmel und Hölle, wenn ihr wollt, aber am Kern der Sache, kommt niemand vorbei.
2: Alles, was ich verdiene – VERDIENE! - ist für meine Familie du Arschloch! Himmel, Hölle, SCHEISSE! Du laberst einen SCHWACHSINN!
1: Warum regst du dich dann so auf?
2 springt auf und hält 1 wieder die Pistole an den Kopf
2: ALTER! ICH KNALL DIR GLEICH DIE RÜBE WEG!!
1: Wenn ich Schwachsinn labere, dann kann dir das doch egal sein! Und außerdem, Motherfucker, sterbe ich in…
1 blickt 2 drängend an, der auf die Armbanduhr schaut
2: 15 Minuten.
1: 15 Minuten! Was soll es mich interessieren, wenn du dich aufregst! Alles, was ich in ´ner Viertelstunde noch schaffen könnte, habe ich bereits getan, zigfach, auf ungezählte Weise, für unzählige Menschen. Gib mir mehr Zeit und ich hätte größeres Interesse daran, der Situation mit weniger Gleichgültigkeit zu begegnen. Mehr Zeit gibt mir mehr Gelegenheit, Veränderungen für Andere zu ermöglichen, die sich im Netz der Zeit verewigen können. Ich fürchte die Konsequenzen meiner Entscheidungen nicht, ich nicht! Alles was du mir noch nehmen kannst, mit deinem Leid, ist die Gelegenheit, dir zu helfen! Mich durch dich ein wenig mehr in unsere gemeinsame Geschichte zu schreiben und stolz darauf zu sein. Zu wissen, dass mein Tod, wann immer er kommt, nur verhindert, dass mehr Gutes in die Welt gelangt, aber kein Leid durch mich zurückbleibt. Was glaubst du, wer von uns Beiden hier etwas zu verlieren hat?
2, mittlerweile wieder auf dem Stuhl sitzend, schaut nachdenklich zu Boden und kratzt sich dabei mit der Pistole am Kopf
1: Wie lange hast du noch?
2 schaut verwirrt zu 1 und der nickt in Richtung der großen Uhr im Off, Beide schauen auf diese
1+2: Kurz vor 12…
Der Vorhang fällt, die Uhr tickt weiter runter