Kindheitserinnerungen: Tante Hilde und Onkel Baldrian

Erzählung zum Thema Erbe/ Testament

von  Wastl

Onkel Baldrian – eigentlich hieß er Bastian, aber weil er sich die meiste Zeit sehr langsam bewegte, nannte ich ihn Baldrian – hatte einst gegen die Osmanen gekämpft. Nun ja, das kann eigentlich nicht sein, denke ich heute. Vielleicht gab es damals eine Zeitmaschine, wer weiß? Außer einem Gedichtband hat er nichts hinterlassen. Nicht einmal ein Bankkonto ... Aber halt, ja, doch, das hatte er. Nur dass Tante Hilde dann alles an sich riss, was ihm gehört hatte. Da er keine Kinder hatte, waren da nur meine Mutter und sieben andere Schwestern, von denen eine, Tante Hilde, das gesamte Erbe an sich riss. Weil Tante Hilde extrem dominant, laut und willensstark war, traute sich keine der anderen Schwestern ihr zu widersprechen. Alle hatten eine Heidenangst vor ihr. Später erfuhr ich, dass Onkel Baldrian vor seiner Einberufung im Falle seines Todes sein gesamtes Vermögen seiner Lieblingsschwester vermacht hatte. Und das war meine Mutter. Doch Tante Hilde erklärte das Testament für ungültig, zerriss es und verbrannte es – kraft ihrer selbst gegebenen Vollmacht als selbsternannte Nachlassverwalterin. So war das damals in unserer Familie. Immer war es einer, der sich gegenüber allen anderen durchsetzte. Und da kannte Tante Hilde auch kein Pardon.

Heute sehe ich das ganz anders als damals, als ich noch jung war. Für mich ist Tante Hilde gestorben. Auch wenn sie schon seit vielen Jahren tot ist, ist sie für mich heute erst recht gestorben, wenn ich darüber nachdenke, was sie sich alles angemaßt hatte. Eigentlich wünsche ich niemandem etwas Schlechtes, aber jemandem wie Tante Hilde würde ich am liebsten ... Da mache ich mal eine Ausnahme. Was mich noch viel mehr ärgert, ist nicht Tante Hildes unverschämtes Verhalten, sondern die Feigheit sämtlicher Schwestern bzw. meiner Tanten. Am feigsten, widerlichsten und verachtenswertesten empfand ich jedoch das Verhalten meiner Mutter. Sie gab immer nach und konnte nie nein sagen. Zum Beispiel ließ sie sich an der Haustür ständig Staubsauger aufschwatzen, obwohl sie nur wenig Geld hatte. Die ganze Wohnung war voller Staubsauger. Überall lagen Staubsauger herum. Egal, wohin man trat, immer landete man auf einem Staubsauger, dem Schlauch oder der Verlängerung eines Staubsaugers. Unsere Wohnung sah aus wie ein schlampig geführtes Staubsaugergeschäft, in dem unzählige Staubsauger auf dem Boden ... ach was, ich will gar nicht mehr daran denken.


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Kommentare zu diesem Text


 niemand (15.11.25, 10:56)
@ Wastl
Dieser Text, auch wenn er nicht so beabsichtigt sein sollte, wirft mich automatisch in die Zustände der Gesellschaft. Diese "dominante" Tante Hilde ist für mich ein Zentralpunkt von "Macht haben und rücksichtslos ausüben" ungeachtet aller anderen Personen. Der Gegenpunkt ist die schwache Mutter,
welche für ihre Rechte [hier Erbe/Testament] nicht genug Kraft hat um um diese zu kämpfen. Die dominante Hilde mißachteg sogar das Gesetz [hier ein Zerreißen des gültigen Testamentes] nur um das zu bekommen was sie möchte. Ohne Pardon und schlechtes Gewissen. So arbeiten aber Machthaber.
Ein quasi "über die Leichen gehen" und hier meine ich sogar die Leiche in Person [Onkel Baldrian/Bastian]. Diese Hilde reißt alles an sich, in ihrem selbstgemachten Bewußtsein der Machthabe. Sogar die anderen Personen
[Schwestern] werden brutal übergangen. Die Mutter hingegen scheint eine gutmütigem jedoch schwache Person zu sein, die quasi in diesem familiären Mief/Staub und Machtgehabe der Hilde zu ersticken droht. Und für dieses Ersticken habe ich mir die Staubsauger vorgenommen. Geräte die etwas [hier die Ungerechtigkeit] quasi beseitigen sollten=entstauben, sind zwar vorhanden,
werden aber aus mangelndem Mut nicht benutzt [ein gutes Bild] ergo kauft sie immer wieder neue. Vielleicht in Hoffnung, dass die es eines Tages schaffen könnte. Jetzt erstickt sie aber in diesen vielen Geräten, die nicht gebraucht nutzlos sind, ihr aber vielleicht ein wenig Hoffnung auf Widerstand geben könnten [Illusion sich selber zur Tat zu überwinden] Fazit ist: Wer Macht besitzt und Kraft hat [Hilde] diese immer wieder auzuüben überfährt alle anderen, erklärt jedes Gesetzt für nichtig und lebt, mangels eines Widerstands, weiterhin
im Bewußtsein alles gut gemacht zu haben.  LG Irene
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